Beschützer und Schutz

I

Unsere Hindu-Brüder begehen das Raksha-Fest. Die wahre Bedeutung von Raksha Bandan ist, einem anderen gegenüber gute Absichten zu haben und ihn auf jede Weise vor Schwierigkeiten, Unglück, Not usw. oder vor der Schwere solcher Ereignisse, die nicht verhindert werden können, zu bewahren. Dieser Brauch wird in Indien seit vielen Generationen aufrechterhalten, und in Kriegszeiten beispielsweise binden die Schwestern ihren Soldatenbrüdern ein kleines Andenken um das Handgelenk und flüstern die Bitte: Gott schütze dich! Das ist allgemein Sitte, die auch heute noch gilt; aber mit der Zeit hat sie unglückseligerweise viel von ihrer eigentlichen Bedeutung eingebüßt, und die Schwester gibt ihm nun mit dem Andenken Süßigkeiten, wofür sie einen gewissen Betrag als Anerkennung erwartet. So ist der echte Beweggrund für diesen Brauch verloren gegangen.

Was ist Raksha oder Schutz, und wer kann ihn voll und ganz geben? Wenn ein Kind geboren wird, weiß es von nichts etwas, doch seine Mutter behütet es von Geburt an, bis es völlig erwachsen ist. Der Vater verdient das tägliche Brot, aber die Mutter gewährt den Schutz. Zunächst trägt sie das Kleine neun Monate in ihrem Schoß und schenkt ihm ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit; wenn es dann auf die Welt kommt, kümmert sie sich um jedes seiner Bedürfnisse. Sie hält es sauber, da es sich ständig beschmutzt. Macht es sich naß und es fehlt ihr auch an trockenen Windeln, wird sie es, und sei es auch mitten im Winter, an ihrer Brust wärmen und es mit ihren eigenen Kleidern bedecken, ungeachtet der Gefahr, sich selbst eine Erkältung zu holen.

Wenn sich das Kind allmählich seiner Umwelt bewusst wird, beginnt es ein wenig von der Liebe seiner Mutter zu empfinden, denn sie liebt das Kind zuerst, nicht umgekehrt. Die Liebe des Kindes kommt als Erwiderung, und wenn es zu lieben lernt, verlässt es nur ungern den Schoß seiner Mutter. Sie verbringt ihr Leben damit, sich um das Kind zu sorgen – um seine Gesundheit, seine Ernährung, seine Erziehung, seinen guten Charakter und um seine Zukunft. Alles, was das Kind betrifft, liegt ihr am Herzen, bis es auf eigenen Beinen steht und selbständig geworden ist. Aber auch dann hört ihre Fürsorge nicht auf. Ihr werdet finden, dass die meisten Mütter auf der ganzen Welt so sind.

Dieses weltliche Leben ist jedoch nicht das Wahre Leben – wir müssen wiedergeboren werden, nicht physisch, sondern in eine neue, andere Welt. Christus hat gesagt, dass es sei denn, dass jemand von Neuem geboren werde, er das Reich Gottes nicht sehen kann. Und nur nachdem wir diese physische Gestalt erhalten haben, können wir ins Jenseits wiedergeboren werden. Genau wie die Mutter uns physisch beschützt, ist es sogar noch notwendiger, einen Beschützer bei der zweiten oder Spirituellen Geburt und das ganze Spirituelle Leben hindurch zu haben, bis man an Bewusstsein zugenommen hat und geistig auf festem Boden steht. Unter den heutigen Gegebenheiten bieten selbst die engsten menschlichen Verbindungen nur wenig Schutz. Ein Bruder ist kein wahrer Bruder, ein Vater ist nicht für seinen Sohn da, und der Sohn will nichts für seinen Vater tun. Selbst die Mutter hat begonnen, ihr Kind zu verwünschen, das wiederum allen Respekt vor seiner Mutter verloren hat. Es ist sehr beklagenswert, zu welch einem schrecklichen und erniedrigenden Zustand die Menschheit herabgesunken ist.

Wenn man auch das Mitgefühl eines rechtschaffenen Menschen hat, für wie lange aber kann er einen schützen? So lange, wie er in dieser Welt ist – nicht darüber hinaus, und beim Vorgang der Wiedergeburt wird er von keinerlei Nutzen sein. Wer kann uns also in der neuen Welt Schutz bieten? Einer, Der dort weilt. Der wirkliche Raksha Banda ist gegeben, wenn ihr einen Beschützer für eure Seele habt, Der Sich eurer in dieser Welt und in der nächsten Welt annimmt und ohne Den nichts erreicht werden kann; bei aller gebührenden Achtung und Dankbarkeit für unsere physischen und materiellen Beschützer.

Die Henne sitzt voller Konzentration auf ihren Eiern, damit sich die Küken bilden. Wenn dies geschehen ist, macht sie es ihnen verständlich, dass sie nun für die Welt genug entwickelt sind, die mit offenen Armen auf sie wartet; die Sonne strahlt, das Gras ist grün und frisch und Nahrung ist in Fülle da. Aber das Küken im Dunkeln kann nicht sehen, dass es etwas anderes gibt. So muss die Mutter als Nächstes daran gehen, mit dem Schnabel an die Schale zu klopfen, und wenn es das hört, fühlt es sich instinktiv ermuntert, dasselbe von innen zu tun, und nach kurzer Zeit steckt es seinen Kopf in eine neue Umgebung voller Licht und Leben. Nur dann versteht es, was ihm die Mutter zugesichert hat.

Wenn wir in die neue Welt geboren werden möchten, brauchen wir die Hilfe von Einem, Der uns nicht nur dorthin bringt, sondern bis zum Ende der Reise über uns wacht. Glaubt ihr, dies ist das Werk eurer Mutter, eures Vaters, eurer Schwester oder irgendeines Freundes? Nein, das ist unmöglich. Die ganze Welt kann euch nicht dabei helfen.

Es wird über einen Vorfall aus dem Leben meines Meisters Baba Sawan Singh Ji berichtet, wonach der einzige Sohn einer Schülerin von Ihm fälschlicherweise des Mordes beschuldigt und zum Tode durch Erhängen verurteilt worden war. Der dem Fall vorsitzende Richter war auch ein Schüler, und bevor das Urteil verkündet wurde, bat ihn Baba Sawan Singh Ji, dem Angeklagten zu helfen und sagte: Ich weiß, dass er unschuldig und fälschlich mit hineingezogen worden ist, aber der Richter schlug die Worte des Meisters in den Wind und sprach das Todesurteil aus.

Ein paar Tage später war ich zugegen, wie derselbe Richter Hazur seine Ehrerbietung erweisen wollte, und als der Meister ganz nahe an ihm vorbeiging, ohne auch nur zu ihm hinzusehen, sagte er beiläufig zu einem anderen: Ich brauche keinen Richter – ich kann den Herrn bitten, meine Sache zu vertreten. In dem Augenblick kam die Mutter zum Meister und begann zu weinen: Er ist zum Tode verurteilt worden, sagte sie. Baba Sawan Singh Ji antwortete: Mache dir keine Sorgen – reiche nur ein Gnadengesuch ein.

Es war ein Fall, bei dem nicht die geringste Chance auf Erfolg eines Gnadengesuchs bestand, doch die Mutter reichte es nach dem Rat des Meisters ein. Als der Fall überprüft wurde, kamen gewisse Tatsachen ans Licht, und der Sohn wurde schließlich freigesprochen.

Daraus kann man ersehen, dass ein Wahrer Beschützer, selbst wenn keinerlei Hoffnung mehr besteht, größtmögliche Hilfe geben kann. Ehrlich gesagt, was ist das Leben eines Menschen anderes als eine Folge von Unterbrechungen? Bei jedem Schritt stößt man auf ein Hindernis – was man will, geht nicht in Erfüllung. Manche Menschen sterben, einige sind krank, und andere haben Schwierigkeiten verschiedener Art. Tausende leben in Armut und unter entsetzlich qualvollen Bedingungen. Die ganze Menschheit klagt auf Schritt und Tritt ihr Leid. Wer ist da, der in der Welt Trost und in der nächsten Führung geben kann?