Begegnung und Umwandlung

In Konya, im Königreich Rum, war ein Schullehrer namens Dschalal-ud-din Rumi, der als der größte Theologe des Islam angesehen wurde. Er wurde im Jahre 1207 geboren als Sohn des Sultan-ul-’Ulama – König der Gelehrten – von Rum, ein Titel, den er kraft seiner intellektuellen und scholastischen Fähigkeit geerbt hatte.

Als Shamaz-i-Tabrez ihn aufsuchte, gab er gerade Unterricht. Er sah den Meister und fragte sich:

Was kann dieser seltsam aussehende Derwisch schon wissen über die großen Mysterien, die wir hier verkünden?

Als Shamas-i-Tabrez ihn fragte, was er täte, erwiderte Rumi:

Dies ist die Wissenschaft, von der du nichts weißt.

Als die Klasse weggegangen war, nahm Shamas-i-Tabrez all die Bücher und warf sie in einen Teich. Heilige haben seltsame Wege, um den Blinden die Augen zu öffnen.

Rumi beobachtete dies mit Bestürzung und rief aus:

Jene Bücher, die du in törichter Weise weggeworfen hast, beinhalten die Antworten auf die großen Fragen des Lebens!

Mit einem Lächeln griff Shamas-i-Tabrez in den Teich und gab Rumi all seine Bücher so trocken wieder zurück, wie sie vorher waren, und sagte:

Dies ist die Wissenschaft, von der du nichts weißt.

An diesem Tag wurde Rumi der Anhänger von Shamas-i-Tabrez, und bald darauf legte er Ihm sein Leben zu Füßen. Er verließ viele Tausende von Schülern und verlor sein Ansehen. In den Augen der Welt war Er ein verlorener Mann, aber in der Gemeinschaft von Shamas-i-Tabrez gewann Er alles.

Ich sah die Kaaba, die sich rund um den Platz des Meisters drehte. O Gott, was ist Er für ein Mann? Ist Er wirklich ein Mensch oder ein Zauberer?

Jene Zeiten waren auch turbulent, und infolge der wechselnden Stürme des Schicksals hatte Rumi weite Reisen durch den mittleren Osten gemacht.

Er hatte praktisch alle großen Mystiker und Theologen seiner Zeit kennengelernt, einschließlich Ibn-Arabi, Farid-ud-din Attar, Sheik Saadi, Al-Suhrewardi, den Erleuchteten, und andere.

Sein eigener Vater in der Tat war ein Sufi-Theologe von großem Ansehen, und er hatte das Leben seines Sohnes in jene Lehren eingetaucht. Bei alledem hat er nur eine leise Ahnung bekommen von den hohen Lehren, die durch den großen verhüllten Heiligen von Tabrez verkündet wurden.

Innerhalb kurzer Zeit veränderte er sich von einem nüchtern denkenden Gelehrten in einen Gottberauschten Heiligen.

Es heißt, dass Gott von Rumis Ergebenheit so sehr angetan war, dass Shamas-i-Tabrez für Ihn wie ein durchsichtiger Spiegel Gottes war. Wenn Er des Meisters Gesicht sah, fluteten die Geheimnisse Gottes hindurch.

Wenn ich Gott nicht im Spiegel Deines Angesichts sehe, o Meister, dann bin ich der schlimmste Ungläubige.

Er sah, was von den anderen nicht gesehen werden konnte und hörte, was nicht jedem durch jeden mitgeteilt wurde. Er war voll der Liebe für ihn und verlor sich ganz darin. Aller Zwiespalt, der aus der Logik geboren wird – hoch oder niedrig – wurde aufgelöst.

Sultan Walad

Zu einem solchen Stand emporgehoben, verlangte Rumi nur nach Shamas-i-Tabrez.

Er trat vor den großen Meister und sagte:

Hört dieses flehende Bitten des Derwischs, o König. Obgleich meine Wohnstatt Euer nicht wert ist, bin ich doch mit aller Aufrichtigkeit Euer ergebener Sklave, und was immer ich jetzt besitze und was auch immer ich in der Zukunft besitzen werde, ist Euer und wird Euer sein – durch die Gnade Gottes.

Shamas-i-Tabrez und Dschalal-ud-din Rumi waren so für drei Monate ständige Gefährten. Shamas-i-Tabrez war, voll von Liebe, ein strenger Lehrherr, Der an Rumi die Inneren Geheimnisse von Licht und Ton und die Lektionen der Wahren Liebe weitergab.

Er hieß Ihn absolutes Schweigen zu bewahren und von allem gesellschaftlichen Umgang abzulassen, Seine Pflichten in Bezug auf das Unterrichten Seiner Schüler zu beenden, da Er Selbst nun der Schüler war.

Verzweifelt beobachteten Seine Schüler die Veränderung, die über ihren Lehrer gekommen war. Seiner Gesellschaft beraubt, wurden sie sehr eifersüchtig und äußerst böse auf den fremden Derwisch, Der ihren Lehrer so plötzlich in einen Verrückten verwandelt hatte.

Nach eineinhalb Jahren unter Protesten und Drohungen verließ Shamas-i-Tabrez trotz der Bitten Seines Schülers ganz plötzlich Konya in Richtung Syrien und verbat Dschalal-ud-din Rumi, Ihm zu folgen.

*****

Maulana Rumi hat von den klagenden Tönen einer Flöte geschrieben, die auf einem Berggipfel gespielt wird, die von der Trennung der Seele von ihrer Wahren Quelle berichten. Die Musik, die diesen Bereich durchdringt, ist die einer Himmlischen Flöte; und es war diese Musik, die im Bewusstsein des großen Maulana Rumi erklang.1

Die Reise der Seele
Der letzte Weg

Der Tonstrom der Flöte, den du nach deinem Bericht kürzlich gehört hast, ist sehr gut. Man sollte Ihm mit gespannter Aufmerksamkeit lauschen. Er wird stärker werden, näher kommen und ist zuletzt von oben zu vernehmen. Schließlich wird Er dich mit einer solchen Glückseligkeit erfüllen, dass dein Gemüt im Laufe der Zeit durch die Gnade des Meisters für immer bezwungen wird.1

Spirituelles Elixier – Teil II,
Kapitel II: Meditation,
von Kirpal Singh, 1894–1974

_______________

Anmerkung: 1) Diese Texte sind eine redaktionelle Einfügung und kein Original-Bestandteil des Textes ‚Leben und Lehren von Maulana Rumi‘ von Michael Raysson.