Die Begründung für eine keusche Lebensweise II

III

In „Der Mensch – das unbekannte Wesen“ unterstützt Alexis Carrel die Sache der Keuschheit von einem etwas anderen Gesichtspunkt aus:

„Alles geistige Ausdrucksvermögen beruht im Grunde offenbar auf physiologischen Energien. Man hat festgestellt, dass einem bestimmten Ablauf von Bewusstseinszuständen gewisse organische Veränderungen entsprechen. Umgekehrt werden auch psychologische Erscheinungen durch organische Funktionsstadien bestimmt. Das aus Körper und Bewusstsein bestehende Ganze ist vom Organischen wie vom Geistigen her wandelbar. Beide Faktoren durchdringen sich im Menschen, genau so wie Form und Marmor in einem Standbild: man kann die Form nicht verändern, ohne zugleich den Marmor zu zerbrechen. Vom Gehirn muss man annehmen, dass es den Sitz der psychologischen Funktionen darstellt, denn wenn es verletzt wird, stellen sich alsbald tiefgehende Bewusstseinsstörungen ein.

Vermutlich sind die Gehirnzellen die Stelle, wo der Geist sich ins Stoffliche begibt. Gehirn und Verstandeskraft zeigen beim Kind eine gleichzeitige Entwicklung, und wenn beim alten Menschen die senile Gehirnatrophie stattfindet, nimmt auch sein Verstand ab. Das Auftreten von Syphilis-Spirochäten unter den pyramidenförmigen Gehirnzellen erzeugt Erscheinungen von Größenwahn. Das Virus der Encephalitis lethargica ruft durch seinen Angriff auf die Gehirnsubstanz schwere Schädigungen des Persönlichkeitsgefühls hervor. Vorübergehend erleiden die geistigen Energien auch Veränderungen, wenn vom Blut Alkohol aus dem Magen zu den Nervenzellen getragen wird. Sinkt infolge einer Blutung der Blutdruck, so erlahmen alle Bewusstseinsäußerungen. Kurz gesagt: Die Beobachtung lehrt, dass das geistige Leben vom Zustand des Gehirns abhängig ist.

Dadurch ist jedoch noch keineswegs hinlänglich bewiesen, dass das Gehirn etwa allein das Organ des Bewusstseins wäre. Man darf nicht vergessen, dass die Nervenzentren ja nicht ausschließlich aus Nervensubstanz bestehen. Sie bestehen auch aus Flüssigkeiten, in welche die Zellen gebadet sind und deren Zusammensetzung durch das Blutserum reguliert wird. Das Blutserum nun enthält die Drüsen- und Gewebeabsonderungen, die sich durch den ganzen Körper verteilen. Durch die Mittlerschaft von Blut und Lymphe ist jedes Organ in der Hirnrinde gegenwärtig, darum hängen unsere Bewusstseinszustände eng mit der chemischen Beschaffenheit der Gehirnsäfte zusammen, ebenso wie mit dem strukturellen Zustand der Zellen. Fehlen etwa im organischen Medium die Sekrete der Nebenniere, so verfällt der Patient in tiefe Depression: er wird fast wie ein Kaltblütler. Funktionelle Störungen der Schilddrüse führen zu nervösen und geistigen Erregungs- und Erlahmungszuständen. In Familien, in denen Schädigungen dieser Drüse erblich sind, findet man moralisch Minderwertige, Schwachsinnige und Verbrecher. Jedermann weiß, wie der ganze Mensch durch Erkrankungen der Leber, des Magens, des Darms in Mitleidenschaft gezogen wird. Offenbar geben die Organe an die Körpersäfte gewisse Substanzen ab, die auf unsere geistig-seelischen Funktionen weiterwirken.

Mehr als alle anderen Drüsen haben die Hoden großen Einfluss auf die Stärke und Beschaffenheit der geistigen Anlagen. Eine Entfernung der Geschlechtsdrüsen ruft, auch beim erwachsenen Menschen noch, gewisse Veränderungen des geistigen Zustands hervor [...]. Offenbar hat die Inspiration mit einem gewissen Zustand der Geschlechtsdrüsen engen Zusammenhang; und Liebe, die ihr Ziel nicht erreicht, befruchtet den Geist. Wäre Beatrice Dantes Geliebte geworden, so gäbe es vielleicht keine Göttliche Komödie. Die großen Mystiker haben sich oft der Ausdrucksweise des Hohnliedes bedient; wie es scheint, haben ihre unerfüllten geschlechtlichen Begierden sie mit nur noch größerer Gewalt auf den Weg des Verzichts und völligen Opfers getrieben. Eine Arbeiterfrau kann ihren Mann Tag für Tag in Anspruch nehmen; die Frau eines Künstlers oder Philosophen hat dazu nicht das Recht. Wie man weiß, hemmen geschlechtliche Exzesse die Äußerungen der Verstandeskraft.

Um auf seiner vollen Höhe zu sein, bedarf der geistige Apparat also offenbar gutentwickelter Geschlechtsdrüsen und daneben einer zeitweisen Unterdrückung des sexuellen Bedürfnisses. Freud hat ganz richtig betont, von welch hervorragender Bedeutung die Sexualimpulse für die Bewusstseinsenergien sind; nur beziehen sich seine Beobachtungen hauptsächlich auf kranke Menschen. Deshalb sollten seine Schlüsse nicht verallgemeinert und auf normale Personen ausgedehnt werden, am wenigsten auf solche, die ein starkes Nervensystem und eine gefestigte Selbstbeherrschung besitzen. Wohl werden die Schwachen, Nervösen und Haltlosen in ihrer Krankhaftigkeit noch gesteigert, wenn ihre geschlechtlichen Begierden unterdrückt werden, die Starken aber werden stärker davon, wenn sie eine solche Art der Askese üben.“