Kapitel I

Ahimsa

Nichtverletzen / Nichtschädigen

Es ist eine veredelnde Tugend, die jeden Einzelnen seinem Mitmenschen ebenbürtig macht und letzten Endes zu dem Grundsatz der Bruderschaft der Menschen und der Vaterschaft Gottes führt.1 Die Pflege dieser Tugend erfordert eine allseitige Entfaltung der Toleranz gegenüber allen, ungeachtet ihrer Unzulänglichkeiten und Fehler. Das Erhabene Prinzip der Familie der Menschen auf dem Göttlichen Grund liebevoller und mitfühlender Regungen für das Wohlbefinden aller auszustrahlen, kostet sehr wenig, zählt aber sehr viel. Ein Herz voll Göttlichen Mitleids ist die Wohnstatt aller Tugenden.

Eine genaue Prüfung dieses Problems würde zeigen, dass wir für gewöhnlich nie beunruhigt oder aufgebracht sind, wenn alles nach unseren Wünschen geht. Kaum sind wir jedoch der Meinung, dass unsere Interessen durchkreuzt oder unsere Gefühle verletzt werden, beginnt eine Kette übler und bösartiger Reaktionen, was zu Verletzen oder Schädigen in Gedanken, Worten und Taten führt – entsprechend der physischen, mentalen oder moralischen Konstitution jedes Einzelnen. Viele von uns betrachten es als ihre Pflicht, die wirkliche oder vermeintliche Beleidigung mit der gleichen Münze zurückzuzahlen, und nur sehr wenige sehen es als eine Tugend an, mit gutem Beispiel voranzugehen, zu vergeben und zu vergessen.

Jesus hat immer die beiden Tugenden gepredigt:

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

und

Liebe deine Feinde.

Heißt das, dass man die Feinde aus einer Ängstlichkeit und Schwäche heraus lieben und mit ihnen Nachsicht üben sollte? 

Nein – es ist etwas Moralisches und Göttliches, das dieser Haltung zugrunde liegt. 

Die Stelle, an der das Feuer brennt, wird immer zuerst heiß, und danach wird die Hitze auch in der ganzen Atmosphäre übertragen. Das Gleiche ist mit dem Feuer des Zornes, des Erbostseins. Ein eingebildetes oder vermeintliches Unrecht bohrt sich weit ins Gemüt hinein und wird zu einem Stachel. Wenn dieser dann bei jemandem tief eindringt, bricht das Feuer des Hasses und der Verachtung hervor, er schimpft nach allen Seiten, er kommt aus dem Gleichgewicht und gibt – wie ein Brandherd – einen schlechten Geruch von sich, der die ganze Atmosphäre rundum verpestet. Die meisten Beleidigungen oder das Unrecht, das uns begegnet, sind eine Folge unserer eigenen Denkweise; denn solche Gedanken brüten zahllose gleichgeartete andere aus und vervielfachen sich im geometrischen Verhältnis. Wir kommen nur dann aus diesem vergifteten Umkreis heraus, wenn wir unsere Einstellung dem Leben gegenüber ändern.

Weshalb sollten wir unseren natürlichen Gleichmut bloßen Nichtigkeiten, irgendwelcher Dinge opfern, die ohne jede Bedeutung sind? Statt über dieses vermeintliche und eingebildete Unrecht lange nachzudenken, würde es weitaus besser sein, über die höheren Aspekte des Lebens und über die Gottheit im Innern und Äußeren zu sinnen; denn diese Welt ist wahrhaftig der Gottheit, und diese Gottheit weilt darin. Wenn wir tatsächlich Gott wollen und danach Verlangen tragen, Ihn zu erreichen, dann müssen wir erst lernen, Seine Schöpfung zu lieben, denn Gott ist nichts als Liebe.

Der Heilige Johannes hat nachdrücklich erklärt:

Wer nicht lieb hat, der kennt Gott nicht, denn Gott ist Liebe.

1. Johannes 4:8

Die Seele im Menschen ist vom gleichen Geist wie Gott ... 

sagt Kabir. 

Da dies so ist, müssen wir versuchen, entsprechend unserer natürlichen Gewohnheit der Liebe und allem, was ist und zur Liebe gehört, zu leben; denn die Liebe verschönt alles, sei es innen oder außen. Wir leben durch die Liebe Gottes, Die nichts weniger als ein Lebensprinzip ist. Liebe, Licht und Leben sind sinnverwandte Begriffe. Die ganze Schöpfung ist eine Offenbarung Seiner Liebe und Gott wohnt wahrhaftig in ihr. Wiederum heißt es, dass die ganze Schöpfung aus dem Licht hervorgegangen ist, und aus diesem Grunde braucht keiner gut oder schlecht genannt zu werden. Im Grunde genommen liegen unser aller Wurzeln tief im Licht und Leben Gottes eingebettet, wenn wir uns dessen auch nicht bewusst sind, weil wir nur selten eine Gelegenheit finden, nach Innen zu schauen; denn wir sind die ganze Zeit über völlig von unserer äußeren Umgebung in Anspruch genommen und haben nicht die geringste Vorstellung von dem, was im Wesenskern allen Seins begründet ist, dem Ursprung allen Lebens, welcher die Liebe und das Licht Gottes ist.

Wenn wir dies nur wüssten und in unserem täglichen Leben praktizierten, könnten wir nicht anders, als in Seiner Liebe leben, Die uns das Leben gibt und durch Die alles Leben besteht. Ahimsa, Nichtverletzen ist somit der praktische Aspekt des Göttlichen Lebens und eine Frucht, die auf dem Baum des Lebens wächst.

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Erläuterung: 1) Der Ausdruck 'Verletzen', wie er hier verwendet wird, geht über das physische  Beschädigen und  die physische Vernichtung hinaus. Er umfasst das Verletzen der Gefühle anderer durch Gedanken, Worte und Taten. Auch umfasst er das Überschreiten und das An-sich-reißen der Rechte anderer; nicht nur ihrer gesellschaftlichen Rechte, sondern auch ihrer Spirituellen Rechte.