Die Wahre Wirklichkeit

I

Die Erwachten Seelen sehen die Welt in ihren wahren Farben. Sie sehen von der Farben des Geistes, der der Welt innewohnt. Aber wie ist es bei uns? Wir sehen das Oberste zuunterst. Weshalb? Wir sind noch nicht zur Wirklichkeit erwacht. Die Wirklichkeit in uns ist noch auf den Körper beschränkt und in Ihm gefangen. Wir sind nicht fähig gewesen, Seele und Körper zu unterscheiden. Demzufolge blicken wir nur von der physischen Ebene auf die Welt. Dies ist die große Kluft zwischen den beiden Arten, die Welt zu sehen. Wir haben die physische Form für etwas Wirkliches gehalten, und so scheint auch die physische Welt ringsumher wirklich zu sein. Die Schriften lassen uns jedoch wissen, dass dem nicht so ist. Mit Wirklichkeit meinen sie etwas Ewiges, Unwandelbares und Beständiges (Sat).

Die Weltklugen dagegen sagen:

Wenn es irgendein Paradies auf Erden gibt, dann ist es hier. O, es ist hier und nirgendwo sonst.

Im Allgemeinen erklären sie uns:

Süß sind die Freuden dieser Welt; wer weiß, was im Jenseits ist?

Babar, der erste Mogul-Kaiser von Indien, eröffnet seine Trinkgelage mit seinem Lieblingsausspruch:

O Babar, trinke den Becher des Lebens bis zur Neige! Wer weiß, wie lange wir noch sind.

Dies ist eine epikureische Lebensanschauung: Esst, trinkt und seid fröhlich, denn morgen können wir tot sein. Es ist also die eine Art, das Leben zu verstehen. Die andere ist den Weisen und Sehern eigen. Sie sprechen nicht von der Ebene des Intellekts. Sie halten keine philosophischen Vorträge, sind jedoch eher gute Beobachter. Sie sprechen von der Ebene des gesunden Menschenverstandes. Sie sehen die Welt in ständig wechselnden Farben dahintreiben und blicken auf unsere erbärmliche Lage; aus der Qual Ihres Herzens rufen Sie uns mit lauter Stimme zu, da haltzumachen, wo wir stehen.

Der Mensch hat, gleich einer Münze, zwei Seiten. Er ist eine verkörperte Seele. Die Seele ist sein Wahres Selbst, nicht der Körper, obwohl er diesen besitzt. Der Körper ist das kostbare Eigentum der menschlichen Seele, welche ihn bewohnt. Er ist der Tempel Gottes, der einen erhabenen Zweck zu erfüllen hat. Und was für ein Zweck ist das? Es gilt das Rätsel des Lebens zu lösen – des Lebensprinzips, das für die Erschaffung des Universums verantwortlich ist. Man kann diesen Lebensimpuls sicher erkennen, wenn man in sich danach forscht. Wie ist das möglich? Einer, Der dieses Rätsel Selbst gelöst hat, kann uns helfen, es gleichfalls zu tun.

Es ist eine Sache allgemeiner Beobachtung, dass das menschliche Leben nicht glatt verläuft. Wir sind das Spielzeug dessen, was wir Zufall nennen. Täglich erfahren wir verschiedene Wechselfälle des Lebens: wir drehen uns immer auf dem Rad des Lebens. Es gibt keine einzige Seele, die mit ihrem Los zufrieden wäre.

Kabir sagt uns:

Im Körper ist keiner glücklich; ich habe nicht einen gesehen, der wirklich glücklich war.

Da wir uns selbst mit dem Körper, der sich ständig verändert, identifiziert haben, können wir nicht wirklich glücklich sein.

Nanak sagt das gleiche:

O Nanak, die ganze Welt plagt sich ab in Sorge und Leid!

Das echte Glück erwächst aus dem rechten Verstehen der wahren Werte des Lebens. Jeder ist auf die eine oder andere Weise in Betrübnis. Einige leiden an physischen Krankheiten, andere unter Armut und Bedürftigkeit, Knappheit und Mangel, weitere infolge geistiger Besessenheit, Erinnerungen an früheren Schmerz und Angst vor der Zukunft.

Wenn der Große Lehrer gefragt wurde, ob irgendjemand glücklich sei, antwortete Er:

Ja, einer, der einzig und allein dem Dienst eines Heiligen hingegeben ist.

Wir müssen sodann wissen, was den Heiligen von anderen Menschen unterscheidet. Er ist Einer, Der das Rätsel des Lebens gelöst hat, denn Er sieht von der Ebene der Seele auf die Welt. Er ist mit der rechten Wahrnehmung begabt und darum immer glücklich; so auch jene, Die in Seiner Gemeinschaft bleiben.

Wir wissen eine Menge über unser physisches Selbst. Wir sind empfindende Wesen. Wir sind lebendige Tempel Gottes. Wir sind nichts anderes als kleine Götter. Wir sind mit gleichen Merkmalen ausgestattet wie Gott, wenn auch in geringerem Umfang. Wir sind Kinder Gottes. Aber leider werden wir von Gemüt und Sinnen beschränkt. Wir wissen nicht, dass das Selbst in uns den Körper belebt und wir im Lichte dieses Selbst leben, uns bewegen und wahrlich unser Sein haben. Die Körper-, Gemüts- und Verstandesfunktionen hängen alle vom Licht des Atman ab. Dies ist es, was wir verstehen müssen, und je eher das geschieht, desto besser ist es für uns. Andernfalls werden wir immer in Schwierigkeiten sein. Bedauerlicherweise haben wir die Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt. Die Sinnesfreuden haben von den Sinnen Besitz ergriffen, und diese nehmen das Gemüt gefangen. Das Gemüt wiederum hat den Verstand unter seiner Gewalt. Hinter all dem ist das Selbst, der Herr des Körpers, das unkontrolliert von Gemüt und Verstand durch die mächtigen Rosse der Sinne heftig herum gewirbelt wird. Wir müssen deshalb kehrt machen. Um dies zu vollbringen, bedürfen wir der Hilfe eines Gurumukh – eines wirklich ehrfurchtsvollen Schülers des Meisters. Jene, die die Notwendigkeit der Umkehr oder des Zurückgehens erkennen, beten immer:

O Herr! Gewähre uns die Gemeinschaft eines Gurumukh, die enge Verbindung mit einem Sadh (disziplinierte Seele), und färbe uns in der echten Farbe von Naam. O Geliebter, bringe mich zu solchen Seelen, zu solchen Seelen, in deren Gemeinschaft wir an nichts anderes denken als an Dich.

Dies ist somit der einzige Weg. Um der geneigten Führung willen müssen wir der Gotteskraft in uns nahe kommen, und diese Kraft wird alsdann den Verstand in die rechte Richtung lenken. Durch Sie erleuchtet, beherrscht dieser das sinnenverhaftete Gemüt. So wird die menschliche Maschinerie in Ordnung gebracht. Wir sind die lebendige Seele im Körper.

Kabir sagt uns:

O Kabir, die Seele ist von Gott

und auch:

Das Selbst gehört zum Haus Gottes.

Die Seele ist demnach von sehr hoher Geburt und stolzer Herkunft, doch zu ihrem Unglück ist sie in Liebe für das materielle Gemüt entbrannt – hat sich somit bis zur Unkenntlichkeit erniedrigt und dabei ihre wahre Abstammung völlig vergessen.

Wenn wir einem Erwachten Menschen begegnen, überlassen wir Ihm unseren Verstand. Unter Seiner Anleitung wird Er von Tag zu Tag schärfer und beginnt die Dinge richtig einzuschätzen. Dann hören wir kleine, leise Stimmen in uns – die Stimme des Gewissens, die uns bei jedem Schritt genaue Führung gibt. Wenn wir auf sie achten, geht alles gut. Setzen wir uns aber über diese erhabene Mauer hinweg, wird die Stimme immer schwächer, bis wir sie überhaupt nicht mehr hören. Das bedeutet, zur alten Lebensweise zurückzukehren, die uns unwiderstehlich in den Bereich der Sinnesfreuden treibt; und wir sehen uns von neuem Schwierigkeiten gegenüber.

Der wahre Ergebene eines Heiligen bringt sein Haus in Ordnung. Er zäumt nicht das Pferd am Schwanz auf. Dies ist also rechtes Verstehen. Alle Menschen der Welt sind in der Farbe der Welt gefärbt. Wenn die erwachten Seelen kommen, wenden Sie Sich nicht an andere, sondern an Sich selbst – an Ihren eigenen Körper und Ihr Gemüt. Der Körper ist unser erster Begleiter, wenn wir auf die Welt kommen. Mit ihm verbunden sind die körperlichen Sinne. Auch sie müssen angesprochen und ermahnt werden:

O mein Körper, was hast du seit deiner Ankunft in der Welt erworben?

Wir kommen in die Welt, um uns selbst zu erkennen und Gott zu erkennen. Wen wir das nicht erreichen, sind wir nicht besser als Schaf und Ziege, die stumpfen Sinnes dahinleben. Der Körper und was zu ihm gehört, wie Gemüt, Verstand und die Pranas, können uns in dieser Hinsicht nicht helfen. Nur der Atman, das empfindende Wesen in uns, kann die Kraft Gottes erfassen, Die im Körper wirkt und Körper und Seele zusammenhält.

Mein Meister Hazur Baba Sawan Singh pflegte diesen Punkt durch ein Gleichnis von einen Affen und einer Ziege sehr anschaulich darzustellen:

Eine Hausfrau hatte ihre Kuh gemolken und ging hinaus, um ihre häuslichen Arbeiten zu verrichten. In ihrer Abwesenheit brachte es der kluge Affe, obwohl er an einen langen Strick gebunden war, doch fertig, an den Eimer heranzukommen, die Milch zu trinken und dann das Maul der Ziege damit zu beschmieren. Als nun die Frau den leeren Eimer sah, hielt sie irrtümlich die Ziege für den Übeltäter und schlug sie. Der Affe saß still dabei und freute sich dieses Anblicks.

Das ist es, was sich bei uns im alltäglichen Leben zuträgt. Der Verstand wird durch das Gemüt und die Sinne in die falsche Richtung gelenkt und der Jiva-Atman hat unter den Folgen der vom Gemüt begangenen Handlungen zu leiden, da er in den Verstand eingeschlossen ist. Somit ist es die verkörperte Seele, welche die üblen Auswirkungen zu ertragen hat, die ihr durch die Gunstbezeigung des listigen Gemüts angelastet werden. Die Welt ist ein Spiel des Gemüts, und das Gemüt allein ist für unsere Taten verantwortlich.