Die Wahre Wirklichkeit

III

Der Große Lehrer sucht uns die Wahrheit klarzumachen. Was wir für ewig und beständig halten – Körper, Gemüt und Verstand –, ist es in Wirklichkeit nicht.

Einmal kam jemand zu einem Heiligen und sagte: O Heiliger Mann, ein Mensch tut eben seine letzten Atemzüge. Der Heilige fragte: Wie alt ist er? Der Mann antwortete: 72 Jahre. Darauf der Heilige: Was sagtest du, mein Freund? Der Leidende trennt sich schon all die Jahre von seinen Atemzügen. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn er zuletzt nun das aufgibt, was noch geblieben war.

Denkt nur daran, wie es ist, wenn ein Kind heranwächst; seine Eltern freuen sich, wenn es wieder ein Jahr älter wird. Sie erkennen nicht die Tatsache, dass das Kind, anstatt seiner Lebenszeit etwas hinzuzufügen, Jahr für Jahr verliert. Wir befinden uns alle in einem Zustand andauernder Täuschung.

Eindrucksvoll beschreibt Kabir unsere falschen Vorstellungen von der Welt und den weltlichen Dingen:

Der stille Punkt in dem sich rasch drehenden Rad scheint trotz der großen Geschwindigkeit unbewegt zu sein; und wenn das Wasser in der Milch durch das Kochen völlig verdampft ist, sagt man von dem Rückstand, es sei Khoya (wörtlich “verloren”), obwohl es in Wirklichkeit die eigentliche Substanz ist – der Milchkuchen; eine Orange, die eine so schöne Farbe hat, wird Na-rangi (wörtlich “farblos”) genannt. Als Kabir solche irreführenden Dinge bemerkte, konnte Er nicht anders, als Tränen des Mitleids vergießen.

Wie vorher gesagt, beginnt die Täuschung mit unserer falschen Vorstellung vom menschlichen Körper, den wir für beständig halten, obgleich er es nicht ist. Wie können wir die rechte Auffassung davon bekommen? Nur wenn wir durch einen praktischen Prozess der Selbstanalyse eine tatsächliche Erfahrung außerhalb des Körpers erlangen. Erst dann wissen wir, dass der Körper nichts Beständiges ist und er eines Tages verlassen werden muss, ob wir es wollen oder nicht. Solange uns diese Erfahrung nicht praktisch vor Augen geführt wird, können wir die veränderliche Natur des Körpers nicht erkennen. Haben wir nicht diese Körper auf unseren Schultern zum Krematorium oder zur Begräbnisstätte getragen? Aber trotz alledem denken wir nie auch nur einen Augenblick daran, dass wir ebenfalls eines Tages des Körper verlassen müssen. Ist das nicht eine große Täuschung?

Nanak sagt daher:

O Nanak, ohne das Selbst vom Körper zu lösen, können wir aus dem Nebelschleier der Täuschung nicht herauskommen.

Wir haben nicht die geringste Kontrolle über unser Gemüt und unsere Sinne. Wir sind nur deren Sklaven und tanzen nach ihrer Weise. Zweifellos können die Augen nicht anders als sehen und die Ohren nicht anders als hören. Aber dieses Sehen und Hören ist nur oberflächlicher Natur. Wir haben darüber keine Kontrolle. Wir müssen wissen, wie zu erkennen, zu verstehen und wann nach unserem Belieben zu handeln. Aber leider sind wir noch nicht Herr des Hauses geworden, in dem wir leben. Unsere bewusste Aufmerksamkeit geht einfach hinaus und fließt in die Welt. Wir treiben ruderlos und steuerlos auf dem Meer des Lebens dahin. Wir haben keinerlei Wurzeln in uns entwickelt. Es ist deshalb von größerer Bedeutung, unsere Aufmerksamkeit in die rechte Richtung zu leiten und zu lenken. Wir müssen wissen, wo die Wurzeln des Lebens in uns liegen, oder mit anderen Worten, wo sich der Sitz der Seele befindet. Der Mensch ist wie ein umgedrehter Baum, der seine Wurzeln oben am Augenbrennpunkt hat und die Zweige (Glieder) nach unten ausgedehnt. So müssen wir unsere Aufmerksamkeit von unten nach oben lenken. Alle Handlungen auf der Sinnesebene, seien sie gut oder schlecht, halten uns unten in Knechtschaft. Aber wenn wir lernen, im Licht und Leben Gottes zu bleiben, wird die Wirklichkeit und die wahre Natur der Dinge in uns aufdämmern.

Es ist dieses Sein im Licht des Lebens, auf das es am meisten ankommt. Es gibt uns rechtes Verstehen und leitet uns auf genaue Weise. Es bringt uns vom Wahn zur Wirklichkeit, aus dem Dunkel zum Licht und vom Tod zur Unsterblichkeit.

Während wir im Körper sind und ein Leben des Körpers führen, können wir nicht verstehen, worum es geht. Wir kommen lediglich in die Welt, um unsere alten Rechnungen des Gebens und Nehmens zu begleichen. Alle unsere Beziehungen – Vater und Sohn, Mann und Frau, Mutter und Tochter, Bruder und Schwester und umgekehrt – sind das Ergebnis karmischer Rückwirkungen aus der Vergangenheit. Es heißt, dass die Feder des Schicksals entsprechend unseren Taten schreibt. Was wir säen, das müssen wir ernten. Wir kommen mit dem Los, das uns auf der Stirn geschrieben steht; selbst der Körper ist die Folge unseres Karmas (Handlungen), und man sagt zu Recht, man sei Karamsharir. Es ist das Schicksal, welches unsere Gestalt prägt. Ohne Körper kann es keine Taten geben, und ohne Taten gibt es keinen Körper. Darum ziemt es sich für uns, freudig unsere Tage zu verbringen und ohne Murren zu geben, was wir geben sollen und müssen, denn davon gibt es kein Entrinnen. Wir haben natürlich darauf zu achten, dass wir keine neuen Verbindungen schaffen und keine frischen Saaten säen. Das ist der einzige Weg, um aus den abgründigen Tiefen des karmischen Meeres herauszugelangen.

Diese Welt ist ein Theater. Sie ist eine Bühne, auf die wir kommen, unsere Rolle zu spielen, und die wir dann wieder verlassen. Warum wurde dieser Schauplatz errichtet? Keiner kann es sagen. Wir können jedoch zum Direktor des Theaters gehen, um den Zweck und die Absicht für seine Einrichtung zu erfragen. Es gibt eine Kraft, die dieses ganze Spiel aufrechterhält, und wir sind bloß Schauspieler oder Marionetten auf der Bühne des Lebens. Doch wir können nicht eher abtreten, bis die uns zugeteilte Rolle zu Ende gespielt ist. Er allein weiß, wie lange dieses Spiel dauert und auf welche Weise jeder von uns zurückgeholt wird. Die Reichen wie die Armen müssen gleichermaßen früher oder später – jeder zu seiner Zeit – gehen und nehmen die Last ihrer guten oder schlechten Taten mit sich.

Der Zweck des menschlichen Lebens ist, das Geheimnis des Lebens kennen zu lernen. Aber so seltsam es auch scheinen mag, bleiben wir dem gegenüber gleichgültig. Wir bringen eine sehr schwere Last von Karmas in Form des Schicksals oder der Fügung mit uns und hinterlassen ein großes Vorratslager von Taten, die in der weit zurückliegenden Vergangenheit gesät und angesammelt wurden, um in der fernen Zukunft nach und nach zur Auswirkung zu kommen. Die Fügung oder das Schicksal muss selbstverständlich angenommen werden, lachend oder weinend, wie der Fall gerade liegt. Währenddessen fahren wir unglücklicherweise fort, unser Vorratslager zu vergrößern, indem wir in der gegenwärtigen Lebensspanne frische Saaten säen. So schmieden wir täglich neue Ketten, mit denen wir uns binden.

Gibt es da keinen Weg, diesem verwickelten karmischen Netzwerk zu entkommen? Die Heiligen sagen uns, dass es einen Ausweg gibt. Wenn wir nur das Gesetz und den Willen Gottes verstehen können, würden wir damit aufhören, der Handelnde zu sein. Wir sähen dann die Unsichtbare Hand Gottes überall wirken. Auf diese Weise werden wir vom Handelnden zum bloßen Seher oder Zuschauer. Taten allein zählen nicht als Schuld, vorausgesetzt, dass sie nicht von einem schuldhaften Gemüt begleitet sind. Wenn wir uns einmal über das Gemüt erheben und alle mentalen Bereiche durchqueren, überflügeln wir des Einfluss der auf Vorrat liegenden Taten. Im Licht und Leben Gottes werden alle noch nicht fruchtbar gewordenen karmischen Saaten unfruchtbar. Des ungeachtet genießen wir die Sinnesfreuden und wissen wenig darüber, dass diese umgekehrt die lebenswichtigen Organe unseres Systems zersetzen.

Das Hindi-Wort Ann (Nahrung) bedeutet gleichzeitig das, was verzehrt wird, und das, was verzehrt. Haben wir je bemerkt, wie schwach und unfähig wir im Laufe der Zeit durch den ständigen Gebrauch unserer Sinne werden, so dass diese selbst es ablehnen, irgendeine Freude an den Sinnesobjekten zu finden? Wir suchen immer den Körper und die körperlichen Sinne zu verwöhnen, als hätten wir sie ewig. Hierin liegt die große Täuschung.

Wünsche sind die Grundursache all unserer Sorgen. Was das Gemüt will, ist eine Art Wunsch, Kaam. Wenn wir, zu Recht oder Unrecht, das Gefühl haben, dass ein Hindernis dabei besteht, unseren Wunsch erfüllt zu bekommen, werden wir oft zornig, Krodh. Je länger es dauert, die gewünschte Sache zu erhalten, desto mehr verlangen und schmachten wir danach. Das wird Habgier genannt, Lobh. Wenn wir einmal durch redliche oder unredliche Mittel die gewünschte Sache bekommen, hängen wir an ihr und wollen uns nicht von ihr trennen. Das wird Verhaftetsein oder Verblendung, Moh, genannt. Wenn die gewünschte Sache in unserem Besitz ist, beginnen wir, uns daran zu weiden und schreiben den Erfolg unseren eigenen Bemühungen zu. Dies bedeutet Egoismus, denn man beansprucht die Sache als Eigentum und weigert sich, Gott – dem Geber aller Gaben – dankbar zu sein. Das Denken in ‚ich‘ und ‚mein‘, verbunden mit äußerster Selbstsucht, ist die Essenz des Egoismus und des Egotismus, die beide aus dem Ego kommen. Dies wird Ahankar genannt oder der Sieg des kleinen Selbst in uns. Auf diese Weise befassen wir uns die ganze Zeit mit Anschaffen und Verbrauchen und begehen unbewusst schamlose Handlungen der Ausbeutung und Großtuerei.