Die Wahre Wirklichkeit

IV

Die Frage, mit der wir es zu tun haben, betrifft weder die Religion noch die Gesellschaft. Es geht vielmehr um das rechte Verstehen und genaue Bewerten der weltlichen Dinge. Alle unsere Handlungen und Tätigkeiten dienen nur einem Zweck, nämlich unserem Körper Behagen und Bequemlichkeit zu sichern. Wir beurteilen alles nach diesem Maßstab. Ein Mann liebt seine Frau nicht um ihrer selbst willen, sondern seinetwegen. Desgleichen liebt eine Frau ihren Mann nicht wegen ihm, sondern ihretwillen. Wir lieben die Kinder, damit sie uns im Alter von Hilfe sein mögen. Es ist nichts Unrechtes an Wohlstand und Reichtum. Es ist nur der Zweck, für den sie verwendet werden – ob eigennützig oder für einen selbstlosen Dienst – und die Art und Weise, wie sie erworben wurden, was Qualität und Wert bestimmt, ebenso, was sie bei dem, der sie erwirbt, bewirken.

Im Allgemeinen verwenden wir unser Vermögen für unsere persönlichen Annehmlichkeiten und zur Befriedigung unserer Bedürfnisse. Offen gesagt, man braucht nicht viel zum Leben. Unnötigerweise fahren wir fort, unsere Wünsche zu vermehren und schaffen eine Art feinstoffliches Netz um uns. Und wofür? Lediglich für eine kurze Zeitspanne, in der wir zu leben haben. Das Leben ist ein großer Kampf. Wir haben mit Gemüt und Sinnen zu kämpfen. Wir müssen um das rechte Verstehen der Dinge ringen, anstatt im Strom der Zeit dahinzutreiben, ohne Halt für Hände oder Füße, um einen festen Stand zu bekommen.

Erwachte Seelen können nicht anders als unsere Lage bedauern und uns aus Mitleid Ihre Ansicht darüber sagen. Sie sprechen in kurzen, einprägsamen Worten voll tiefer Bedeutung. Sie führen Gleichnisse und Erzählungen an, um uns unsere Fehler und Unzulänglichkeiten klarzumachen. Sie sagen uns, dass diese Welt ein Marionettenspiel sei und hinter uns eine Kraft ist, durch Die wir uns bewegen. Aber ungeachtet all Ihrer Lehren und Predigten gehen wir wie eh und je unsere alten Wege. Wir bemühen uns nicht, den Willen und die Absicht der Kraft hinter uns zu verstehen. Wären wir dazu bereit, könnten wir dem magnetischen Feld der Karmas leicht entkommen.

Das karmische Problem ist sehr verwickelt. Die Karmas folgen uns fortgesetzt, auf Schritt und Tritt, von einem Zeitalter zum anderen. Die Zeit ist ein strenger Schiedsrichter. Alle unsere Taten verursachen einen unauslöschlichen Eindruck auf der Tafel der Zeit, und das in ihr wirkende Gemüt kann nicht umhin, jene Eindrücke anzuziehen.

Über König Dhristarashtra, den von Geburt an blinden Ahnherm der Kurvas, wird berichtet, dass er seine Vergangenheit hundert Inkarnationen zurückverfolgen konnte, aber nicht imstande war, anzugeben, warum er an Blindheit litt, denn er hatte diese ganzen Lebensläufe hindurch nichts Übles getan. Lord Krishna legte dann seine Hand auf den Kopf des blinden Königs, damit er mit Hilfe seiner Yogikräfte weiter zurückdringen konnte, um herauszufinden, wann es war und welcher Tat dieser Schicksalsschlag zuzuschreiben sei. Erst dann vermochte der König zu sagen, dass seine Blindheit die Rückwirkung einer bestimmten Handlung war, die in einer der Inkarnationen vor den hundert, die er kannte, begangen wurde.

Auf dem gegenwärtigen Schauplatz des Lebens sehen wir nur das Ergebnis unserer früheren Karmas, bleiben aber in Unkenntnis über die Ursachen, welche in der Vergangenheit ausgelöst worden sind, sei es in diesem Leben oder in einer früheren Inkarnation, und sind somit bestürzt. Diese Auswirkungen kommen so plötzlich und schnell, dass wir fassungslos sind. Die Wurzel all unserer Karmas sind unsere Wünsche und Sehnsüchte. Das war der Grund, warum Buddha, der Erleuchtete, Nachdruck auf die Wunschlosigkeit legte. In der Tat sagen dies alle Heiligen, jeder mit Seinen eigenen Worten.

Guru Gobind Singh, der zehnte in der Reihe der Nachfolger Guru Nanaks, sagte: Lasst von den Wünschen ab.

Zur Zeit Akbars des Großen war in dessen Ministerrat ein Mann namens Wali Ram. Es war Sitte, dass die Minister stillstanden, wenn der Kaiser kam, um den Vorsitz in seinem Ministerrat zu Führen. Eines Tages begab es sich, dass ein Skorpion in Wali Rams Gewand kroch. Während er nun still dastand, stach ihn das Tier an verschiedenen Stellen, als es sich bewegte. Der Minister ertrug schweigend die Qual und blieb aufrecht stehen, um den Anstand des kaiserlichen Hofes zu wahren.

Als der Kaiser auf dem Thron saß, trat Wali Ram mit gefalteten Händen vor die kaiserliche Hoheit und sagte: O Majestät, ich bin während all dieser Jahre Euer Sklave gewesen. Euer Hoheit wissen kaum, dass ich so viele Male von einem Skorpion gestochen wurde, doch nicht einmal den kleinen Finger rühren konnte, um ihn zu vertreiben, aus Angst, die Etikette des Hofes zu verletzen. Als Wali Ram dies gesagt hatte, zerriss er seinen Mantel und verließ eilends den Hof, um dem König aller Könige zu dienen, Gott dem Herrn. Akbar war betrübt, einen so klugen Minister wie Wali Ram zu verlieren. Er schickte seine Höflinge, ihn zurückzurufen. Aber Wali Ram war nun nicht mehr der alte. Er weigerte sich zurückzukehren. So ging der Kaiser selbst, ihn zu überreden, doch umsonst.

Er wollte seinem alten Minister, der ihm viele Jahre so gut gedient hatte, in aller Demut eine seltene Gunst erweisen und fragte, was er für ihn tun könne. Wali Ram antwortete: O mächtiger Herrscher, alles, was ich von Euch erbitte, ist, mich mit Eurem Schutz zu verschonen. Ich bin Euch dankbar für die hohe Gunst, die Ihr mir so gütig erwiesen habt, aber nun bin ich ein freier Mann und brauche die Vergünstigungen des Kaisers nicht mehr.

Es sind Begebenheiten solcher Art, die einen plötzlichen Wandel in der Denkweise eines Menschen verursachen. Bei einem Erwachen wie diesem fühlt man sich von der Bindung an die Welt befreit.

Unsere Nöte beginnen mit unseren Wünschen, und die Wünsche wiederum führen zu all den anderen üblen Gewohnheiten, wie bereits aufgezählt. Sie sind zum Bestandteil unseres Lebens geworden, und wir leben und sterben für sie. Wenn ihr beiseite treten würdet, könntet ihr euch selbst überzeugen und sehen, wie hilflos die Menschen allein durch die Macht der Gewohnheit dahintreiben. Wirklich Erwachte Menschen betrachten die Welt von einem sicheren, überlegenen Stand aus – von der Ebene der Seele. Sie haben Mitleid mit uns und wollen uns mit liebevollen Worten die Nutzlosigkeit des von uns geführten Lebens einprägen. Sie sagen: Wir haben viele menschliche Gestalten unter der Erde verwesen sehen. Wenn dies auch beim menschlichen Körper der Fall ist, was gibt es daran, worauf wir stolz sein können?

Es heißt zu Recht:

Du bist Staub und wirst wieder zu Staub werden.

Dies ist der Gesichtspunkt, den uns die Gottmenschen darlegen. Guru Nanak setzt Seine Erklärung fort:

Hört auf unseren weisen Rat, ihr müsst darauf hören, nur Gottergebene Handlungen werden euch vor dem Kreislauf der Geburten bewahren.

Mit wie viel Erbarmen kamen diese Worte aus dem Herzen Guru Nanaks. Der Körper und alles, was zu ihm gehört, wurde uns als Hilfe für die Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis gegeben. Aber wir schlagen den anderen Weg ein. Wenn uns Gottmenschen in dieser traurigen Lage sehen, sind Sie aufs Äußerste bewegt und können nicht umhin, uns Ihre Ansicht zu sagen. Sie Selbst haben das Rätsel des Lebens gelöst und berichten uns von dem Weg, auf dem wir es Ihnen gleichtun können. Es sind die Gottgefälligen Handlungen, welche uns in dieser Hinsicht helfen. Das menschliche Leben ist ein großer Segen. Es verschafft uns die günstige Gelegenheit und die Mittel, aus diesem gewaltigen Labyrinth der Welt, in dem wir uns wie Kinder im Wald verirrt haben, herauszukommen. Gottergebene Handlungen können von guten Handlungen unterschieden werden. Gute und mildtätige Werke, welches auch immer ihr Verdienst sei, halten uns genauso in der Knechtschaft wie ihr Gegenteil, die üblen. Wie uns die letzteren zu den niederen Regionen führen, so die erstgenannten zu den höheren. Aber in jedem Fall müssen wir, nachdem die für die Bestrafung oder Freude festgesetzte Zeitspanne zu Ende ist, wieder auf die irdische Ebene zurückgehen. So sehen wir, dass die guten Taten dabei von keinem großen Nutzen sind, um von Gemüt und Materie frei zu werden. Die Heiligen sprechen deshalb von Gottgefälligen Taten, solchen, die uns zu Gott bringen. Sie werden mit Sukrat bezeichnet.

Auch Kabir hebt hervor:

Übe Sukrat-Handlungen aus, verbinde dich mit dem Wort – wer weiß, was morgen sein wird?

Und sehr bedeutsam fügt Er hinzu:

Warum von morgen sprechen, man weiß nicht, was im nächsten Augenblick geschieht.

Auf der Liste der Gottgefälligen Handlungen ist das Wichtigste die Rechtschaffenheit. Man muss wahr zu sich selbst sein. Wenn einer wahr zu sich selber ist, kann er niemandem gegenüber falsch sein. Er versucht nicht, andere zu täuschen und zu betrügen. Er ist wahrhaftig in Gedanken, Worten und Taten.