Die Wahre Wirklichkeit

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Wir haben sehr verschwommene Vorstellungen von der Wahrhaftigkeit. Wir geben uns klug, indem wir die Wahrheit unterdrücken und unter dem Deckmantel der Wahrheit falsche Ratschläge geben. Beides ist verächtlich. Suppressio veri et suggestio falsi (das Wahre zu unterdrücken und das Falsche einzugeben) ist gleicherweise verwerflich, denn es ist weit von der Wahrheit entfernt. Manche von uns haben die Gewohnheit, Halbwahrheiten zu sagen – so viel von der Wahrheit, wie es unserem Zweck dient. Einige glauben, man könne im Geschäftsleben keinen Erfolg haben, ohne eine solche Taktik anzuwenden. Doch wohlgemerkt, das ist nicht der Fall. Ihr mögt hier und da einen Kunden verlieren, aber wenn die Leute von eurer Unbescholtenheit und Ehrlichkeit hören, werdet ihr ein gut gehendes Geschäft haben.

Das Zweitwichtigste sind Reinheit (ein Leben der Redlichkeit) und Gewaltlosigkeit; universale Liebe, selbstloses Dienen und Opfern. Es genügt nicht, jedem Gutes zu wünschen, wir müssen auch so denken und handeln. Dies sind einige Beispiele der Sukrat Karmas oder Gottesfürchtigen Handlungen.

Als die fünf Pandavas zur Schule geschickt wurden, war das Erste, was ihnen der Lehrer beibrachte, die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit anzunehmen und die Wahrheit zu leben. Bei der traditionellen Lehrweise wurde das Schwergewicht auf die Praxis gelegt, nicht nur auf das verstandesmäßige Begreifen einer Sache. Nach einiger Zeit erkundigte sich der Lehrer, ob sie ihre Lektion auswendig gelernt hätten. Alle Brüder außer dem ältesten, Yudishtra, bejahten es. Als er an der Reihe war, sagte er: Ich will die Lektion von Grund auf lernen, und es wird einige Zeit dauern, bis ich sie mir zu eigen gemacht habe. Einige Zeit später wiederholte der Lehrer seine Frage. Yudishtra antwortete, dass er die Wahrheit dessen, was ihm gelehrt worden sei, noch nicht völlig verstanden und praktiziert habe.

Dies heißt eine Lektion von Grund auf lernen, nicht nur mechanisch. Yudishtra studierte seine Lektion durch und durch und praktizierte sie sein ganzes Leben lang, mit dem Ergebnis, dass er als Dharmaputra (echter Apostel der Wahrheit) bekannt wurde.

Jene, die dem Meister ergeben sind und Seinen Geboten folgen, leben sorgenfrei in allen drei Welten, so sagt Kabir.

Rechtschaffenheit ist die größte Tugend. Sie wäscht zahllose üble Eindrücke weg. Wenn wir gezwungen sind, unsere Taten zu verbergen oder sie mit Lügen oder Ausflüchten zu beschönigen, müssen wir als sicher annehmen, dass daran etwas nicht in Ordnung ist. Der Rechtschaffenheit am nächsten ist die Keuschheit. Die Wahrheit ist groß, aber noch größer die wahre Lebensweise. Keuschheit ist Leben und Sichgehenlassen ist der Tod. Als Familienvater gemäß den Anweisungen der heiligen Schriften zu leben ist keine Sünde. Die Ehe ist kein Hindernis für die Spiritualität. Sie ist ein Sakrament und muss als solches beachtet und gelebt werden. Wenn wir in ihr der Geschlechtsfreude nachgeben, ist das sündhaft. Denn der Sünde Sold ist der Tod. Wir müssen ein Leben der Enthaltsamkeit in Gedanken, Worten und Taten führen. Ferner sei gesagt: Gott wohnt in allen von uns. Wir sind Kinder Gottes und beten denselben Gott an. Da dies so ist, gibt es keinen Grund, weshalb wir jemanden hassen sollten. Der eine mag eine angesehene Stellung haben und ein anderer in seinen Diensten stehen.

Es ist alles ein Spiel des Karmas. Wenn dazu die gleiche Gotteskraft in jedem von uns wohnt, ist es nur natürlich, dass man einander dienen sollte. Indem wir einem anderen dienen, dienen wir Fürwahr uns selbst in einer anderen Form. Als Nächstes kommt Ahimsa oder Gewaltlosigkeit. Von ihr wird gesagt, sie sei das größte Dharma (Pflicht). Wenn ihr Gott sucht, seid bestrebt, Ihn in euch und in anderen zu sehen. Sobald ihr das versteht, werdet ihr keinem Unrecht tun. Das alles sind Gottesfürchtige Handlungen, die bei der Selbstverwirklichung und Gottverwirklichung helfen. Wir müssen sie uns sogleich aneignen; denn das Leben ist unsicher, wir haben keine Gewähr für den nächsten Augenblick. Indem wir dies praktizieren, müssen wir uns mit dem Wort verbinden.

Die nächste Frage betrifft die Natur des Heiligen Wortes. Der Absolute Gott ist Namenlos. Als Er zum Ausdruck kam, wurde Er ein Name (das Wort). Durch diese Kraft Gottes kam die Welt ins Sein. Warum Er diese Kraft gebraucht, wissen wir nicht. Wir sind alle in das Blindekuhspiel vertieft: dem einen werden durch den Spielleiter die Augen verbunden, und die anderen verstecken sich. Wer immer den Spielleiter berührt, ist, wie man sagt, in Sicherheit, während das Spiel mit den Übrigen weitergeht.

Genau das ist der Fall bei uns. Blindlings suchen wir Gott, jeder auf seine Weise. Wer so begünstigt ist, seinen Weg zu Ihm zu finden, wird gerettet und entkommt den Fängen des Gemüts und der Materie. Wir müssen schließlich unser Inneres Auge entwickeln, wodurch wir die Kraft Gottes in uns wahrnehmen. Zu diesem Zweck müssen wir uns Gottgefällige Handlungen aneignen, sie praktizieren und eine Verbindung mit dem Heiligen Wort herstellen.

Das sind die Dinge, die der Seele bleiben und ihr bei der Befreiung vom Rad des Lebens und des Todes helfen. Wenn wir die zwei Vorbedingungen für den Ausweg gemeistert haben, brauchen wir noch die Hilfe von Einem, Der bereits mit der Gotteskraft Eins geworden ist. In Seiner Gemeinschaft und unter Seiner Leitung können wir den spirituellen Pfad, der voller Gefahren und Fallgruben ist, unversehrt überqueren. Der Guru kennt die Windungen und Krümmungen des Weges; ohne Seine kundige Anweisung kann man auf dem Pfad keinen Fortschritt machen. Wir müssen Seine Führung ohne jedweden Vorbehalt annehmen, und einer, der das tut, wird das Geheimnis der Gotteskraft erkennen, denn Sie wirkt in Fülle durch den Menschlichen Pol.

Guru Nanak sagt weiter:

An sich selbst gewandt, legt Nanak großes Gewicht auf die Instruktionen des Meisters. Warum redest du müßig über andere und sprichst schlecht von ihnen?

Andere zu verleumden ist etwas Gemeines. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Es verletzt beide, den Verleumder und den Verleumdeten. Das Rechte von einem Menschen oder einer Sache zu sagen, ist sehr schwierig.

Darum heißt es:

Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet und durch den großen Richter zu leicht befunden werdet.

Wir aber erlauben uns unbekümmert, ohne Bedenken über andere zu reden, und finden Freude daran.

Mein Meister, Hazur Baba Sawan Singh Ji, pflegte zu sagen:

Unbestreitbar hat das, was wir essen, einen süßen, sauren oder bitteren Geschmack. Aber sagt mir, welchen Geschmack euch das Verleumden gibt? Ist es nicht etwas Geschmackloses? Warum sollten wir uns dann auf etwas einlassen, das überhaupt keinen Geschmack hat?

Trotz alldem vergeuden wir die meiste Zeit, indem wir von dem einen oder anderen schlecht sprechen. Die ganze Zeit versuchen wir, des anderen Gedanken, Worte und Taten, Geld- und Familienangelegenheiten zu erwägen. Was ist das Ergebnis all dessen? Wenn wir dieses Geschwätz über unsere Freunde und Verwandten ringsum hören, verlieren wir natürlich in jeden das Vertrauen. So werden wir, anstatt für Gott zu arbeiten, unbezahlte Gehilfen des C.I.D1. Wenn ein Mensch gut ist, sollten wir ihm nacheifern. Ist einer auf dem Gottespfad, sollten wir uns bemühen, ihm zu folgen. Soweit ist es in Ordnung. Aber auf andere eifersüchtig zu sein, zahlt sich nicht aus. Eifersucht erzeugt Argwohn und macht einen unnötig nervös und ängstlich. Der Gottesweg ist für die Starken, nicht für die Schwachen. Dauernde Ängste beeinträchtigen das Gemüt. Wir müssen das Geschehene vergessen und in der lebendigen Gegenwart an unserer Besserung arbeiten.

Die Großen sagen:

Bis hierher und nicht weiter.

Sie ziehen eine Trennlinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart und wollen, dass wir nicht wieder fallen – nicht unter den Augenbrennpunkt fallen.

O ihr, eure Augen sind auf die Belange anderer gerichtet und wie ihr ihnen zuvorkommen könnt; im Augenblick, wo eure Seele scheidet, werdet ihr wie ein im Stich Gelassener zurückbleiben.

Denn die meiste Zeit sind wir mit den Angelegenheiten anderer Leute beschäftigt; mit ihrem Wohlstand und ihren Reichtümern, ihren Kleidern, ihrem Putz, ihren Frauen und ihren Kindern. Den ganzen Tag reden wir von nichts anderem als von diesen Dingen. Nie halten wir auch nur einen Augenblick inne, um nachzudenken, ob es nicht noch irgendetwas anderes gibt. Wir ziehen gehässige Vergleiche, beginnen uns dann zu ärgern und sind über das aufgebracht, was wir unser Pech und Missgeschick nennen. Wir steigern uns in die vermeintlichen Übelstände und Ungerechtigkeiten Gottes hinein. Mit welchem Ergebnis? Für nichts handeln wir uns Herz- und Kopfschmerzen ein.

Dann suchen wir ganz versessen, den Stand der anderen zu erreichen. Wir wissen nicht, dass wir trotz all unserer Geschicklichkeit und Schlauheit nicht mehr bekommen können, als für uns bestimmt ist. Es läuft darauf hinaus, dass wir weiter die Last unseres Karmas vermehren, ohne irgendeinen Nutzen in Form materiellen Profits. Und wenn wir uns überhaupt ein paar Vorteile sichern und hier und da durch unser Manövrieren und unsere Taktik belanglose Gewinne erzielen, welchen Wert haben sie? Für wie lange werden sie uns bleiben? Wie gewonnen, so zerronnen. Die üblen Ziele, die wir verfolgen, und die Mittel, die wir dabei anwenden, hängen uns an, und wir werden für sie zu zahlen haben – für nichts als Plunder und gewiss einen hohen Preis. Alle unsere Untaten verüben wir zur Befriedigung unserer momentanen Wünsche. Das Leben ist nur ein Hauch, und es vergeht im Nu.

Was bleibt, wenn der Geist den Körper verlässt? Nichts als dieser materielle Körper, um den wir so viel Aufhebens machen und uns in alle Arten törichter Tricks und schändlicher Machenschaften einlassen. Welches ist nun das Ende dieses Tabernakels des Fleisches? Niemand in der Familie möchte es auch nur für einen Augenblick behalten. Jeder scheint es loswerden zu wollen und übergibt es entweder den Flammen oder dem Grab. Während der Mensch lebte, waren alle Augen auf ihn gerichtet, und jeder respektierte ihn um der einen oder anderen Gunst willen. Nun, nachdem der Bewohner herausgezogen wurde, kümmert sich niemand mehr um ihn. Das ist also der Körper, für den wir tagein und tagaus so sehr beschäftigt sind.

Warum schlaft ihr im Traumland der Welt und tut nichts von bleibendem Gewinn für euch? Warum versucht ihr andere zu täuschen, und das nur wegen der vergänglichen Freuden eures Gemüts? Was erlangt ihr hier in dieser Welt und in der nächsten, außer dass ihr das Leben für nichts verschleudert?

Das ist eine vernünftige Rede. In allen Einzelheiten wurde uns gesagt, wie wir das kostbare menschliche Leben vergeuden, das uns für einen besondern Zweck gegeben wurde – den Zweck der Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis. Aber wenn uns ein Erwachter Mensch wie Nanak den falschen Weg gehen sieht, kann Er nicht anders, als Sich mit einem herzergreifenden Appell an unseren gesunden Menschenverstand zu wenden. Er sagt uns, dass wir eine richtige Auffassung vom Leben haben sollten: das Wichtigste zuerst.

Von der Ebene der Seele aus gesehen, die das Fundament von allem in der Welt ist, einschließlich unseres Gemüts und der Sinne, müssen wir ihr zuerst Aufmerksamkeit schenken. Stattdessen arbeiten wir die ganze Zeit für das Wohlbefinden unseres Körpers und die mentale Entwicklung, zollen aber der Seele, der Antriebskraft in uns, zu wenig Beachtung. Karmas (Handlungen), wie gut und verdienstvoll sie auch sein mögen, können, was das betrifft, an sich von keiner Hilfe sein. Wir müssen den stillen Punkt der Seele erreichen, indem wir uns sowohl über den Körper als auch über das Gemüt erheben. Hier wird man Neh-karma oder tatenlos im Tun. Erst wenn wir mit der Gnade und Führung der Gotteskraft, Die durch einen Menschlichen Pol offenbart wird, alle mentalen Bereiche überqueren, können wir diesen trügerischen Ort hinter uns lassen.

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Erläuterung: 1) Confidential Investigation Department – das indische Pendant zum amerikanischen F.B.I.