Das Leben von Guru Gobind Singh

IV

Wie Sein Großvater Har Gobind hat Gobind Singh die Aufgabe eines Avatars wie auch die eines Heiligen erfüllt. Er nutzte die notwendigen Mittel, um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wiederherzustellen – um die Bösen zu bestrafen und die Rechtschaffenen zu stärken und um die allgemeinen Lebensumstände der Menschen zu verbessern. 

Er verkündete, dass der Mund des Armen die Schatzkammer des Gurus sei und fügte manchmal hinzu: 

Wer verdient, doch nicht teilt; wer sich erfreut, aber kein Opfer kennt; wer sich Freuden des Lebens hingibt, anstatt sich selbst Gott für immer und allzeit hinzugeben, der kann den Guru nicht als sein gewinnen.

Und Er lebte Selbst ein Leben, das dieses edle Opfer für die Erhebung der Menschheit veranschaulichte. Wenn die Zeit Handeln erforderte, gab Er die Freude der Einsamkeit auf, ließ die Schönheiten der Natur und die langen Stunden ungestörter Meditation, die den Heiligen so teuer sind, hinter Sich und nahm stattdessen Mühen und Entbehrungen auf Sich, um den Armen zu dienen, den Schwachen Stärke zu geben und den Feigen Mut und Selbstachtung zu lehren. Menschen, die vordem von den fremden Herrschern verlacht und bespuckt wurden, erhoben sich nun und nötigten ihren Feinden großen Respekt ab. So erlebte der Qazi (Richter) Nur Mohammed jene Menschen, die vom Großen Guru inspiriert waren, als er die Armee begleitete (1764–1765), die den Guru angriff. Obwohl er sie manchmal verleumdet – wie es fast alle zeitgenössischen Berichte der Moslems tun –, kann er doch nicht anders, als ihre Tugenden zu rühmen:

Sagt den Hunden nicht nach, dass sie Hunde sind – sie sind Löwen! Denn auf dem Schlachtfeld kämpfen sie mit dem Mut von Löwen. Wenn ein Held auf dem Schlachtfeld wie ein Löwe brüllt, wie kann man ihn da als Hund bezeichnen? Wenn man die Kunst des Kampfes lernen will, dann sollte man einem von ihnen im Kampf gegenübertreten. Sie zeigen es auf eine Weise, die von allen gerühmt wird. Im Kampfe sind sie wahre Löwen, aber in Zeiten des Friedens zeichnen sie sich durch Freundlichkeit und Güte aus.

Auch wenn man ihre Kampfeskraft einmal beiseite lässt, dann gibt es noch etwas zu rühmen, bei dem sie alle anderen Kämpfer übertreffen: Sie töten niemals einen Feigling oder stellen sich einem Flüchtenden in den Weg. Sie rauben niemals einer Frau ihren Reichtum oder ihre Juwelen, sei es nun eine reiche Herrin oder die Dienerin, noch ist bei diesen Hunden Ehebruch bekannt… auch pflegen sie keine Freundschaft mit Ehebrechern oder Dieben.

Gleichzeitig mit Seinem Werk als Avatar brachte Er die Menschen ins Reich Gottes zurück. Um den Erfordernissen der Zeit gerecht zu werden, hatte sich das Erscheinungsbild des Spirituellen Werkes gewandelt – vom einfachen bäuerlichen Leben Guru Nanaks zu der königlichen Herrschaft eines Krieger-Heiligen wie Gobind Singh – doch der Wesenskern des Werkes blieb unverändert. Dieselbe Gotteskraft, die durch Nanak wirkte, floss nun durch Gobind Singh; und jenen, die zu Ihm kamen, um Spirituelle Gnade zu finden, wurde derselbe Segen zuteil. Hinter Seinem kämpferischen, löwengleichen Haupt verbargen sich eine derart große Liebe und Barmherzigkeit, die der Verstand nicht zu erfassen vermochte. So verschoss Er Pfeile mit goldenen Spitzen, damit jene, die verwundet wurden, die Mittel hatten, um sich zu heilen. Und Seine ehrfurchtgebietende Gegenwart verströmte Göttliche Segnungen.

Einmal ging ein einfacher Bauer namens Bhai Bela zum Guru, um Ihm zu dienen. Er war ganz ungebildet und besaß auch keine Kenntnis vom Gebrauch der Waffen. Er wusste nur, wie man mit Pferden umging. Also wurde ihm diese Aufgabe übertragen, der er Tag für Tag mit einer solchen Liebe und Sorgfalt nachkam, dass es der Guru bald erfuhr. Gobind Singh rief Bela zu Sich und ließ ihn wissen, wie sehr Ihm seine Arbeit gefalle. Er lud ihn ein, täglich zu Ihm zu kommen, um zu lernen und etwas aus den Heiligen Schriften aufzunehmen. Bela erhielt jeden Tag seine Belehrung und wiederholte die empfangenen Worte den ganzen Tag über mit völliger Hingabe an den Meister. 

Eines Tages brach Gobind Singh gerade zu einer dringenden Arbeit auf, als Ihn Bela anhielt und Ihn an die tägliche Belehrung erinnerte. 

O Bruder Bela, erkennst du nicht die rechte Zeit und Gelegenheit?,

antwortete ihm der Guru in strengem Ton und gallopierte davon. 

Bela nahm diese Worte als eine tägliche Lektion auf und begann sie mit großer Aufrichtigkeit und tiefer Konzentration zu wiederholen. Die Aufmerksamkeit des Gurus war so intensiv, als Er diese Worte gesprochen hatte, dass sie mit der ganzen Kraft Seiner Ausstrahlung geladen waren. Als Bela fortfuhr, sie zu wiederholen, hatte das zur Folge, dass er in einen Zustand der Göttlichen Berauschung geriet und sich alsbald in tiefe Meditation verlor; etwas, das viele Seiner treuen Schüler, die sehr gelehrt waren und mit Ihm hart gekämpft hatten, ohne Erfolg versucht hatten.

Wie bei allen anderen Großen Heiligen kannte auch die Liebe Guru Gobind Singhs für Seine Schüler keine Grenzen. Die Gurukraft achtete immer auf sie und gewährte ihnen alle Gnade und Schutz, bis die Seele mit dem Geist Gottes verschmolz. Selbst wenn der Schüler den Meister vergessen sollte, vergisst der Meister dennoch den Schüler nicht und wacht stets über ihn, bis Er ihn wieder auf den Weg zurück gebracht hat.

Eine Geschichte berichtet, dass ein ergebenes Ehepaar ihren Sohn Joga Singh dem Guru als Diener anbot. Joga bedeutet ihm zuliebe – und als sie den jungen Knaben vor Gobind brachten, gab Er ihm den Namen Guru Joga: dem Guru zuliebe. Und wie die Jahre vergingen, wurde auch die Liebe des Jungen für den Guru immer größer und tiefer.

Als Joga Singh alt genug war, bereiteten seine Eltern die Hochzeit vor; und sie wollten ihn für die Zeremonie zurück nach Peshawar senden. Joga ging zum Meister, um Ihn um Erlaubnis zu bitten. 

Gobind Singh schickte ihn mit Seinem Segen los, fügte aber hinzu: 

Falls ich nach dir sende, dann komm sofort; zögere nicht einen Augenblick.

Joga stimmte bereitwillig zu, verbeugte sich und reiste nach Peshawar.

Als der Hochzeitstag anbrach, verlief alles gut, bis kurz vor dem Ende der Zeremonie. Ein Bote kam geritten und brachte die Weisung des Gurus: 

Reite ohne Verzögerung nach Anandpur.

Ohne die wenigen Minuten abzuwarten, die es noch gedauert hätte, um die Zeremonie abzuschließen, bestieg er eilends sein Pferd und brach auf. Doch auf dem halben Weg nach Anandpur begann ihn sein Ego zu täuschen. Die Erinnerung an Gott brach ab, und sein Stolz begann zu wachsen: 

Kaum ein Schüler würde die eigene Hochzeit verlassen, um den Wünschen des Gurus zu folgen. Wenn ich Anandpur erreiche, wird Er mit mir sehr zufrieden sein und mich als idealen Schüler preisen.

Dann kam ihm der Gedanke, dass er doch tun könne, was er wolle, da er so ergeben sei. Zuerst hatte er vor, den Rest der Nacht zu ruhen; dann sah er ein bezauberndes Freudenmädchen und entschloss sich, die Nacht mit ihr zu verbringen. 

Aber als er in die Nähe ihres Hauses kam, erschien ihm der Guru in der Gestalt eines Türhüters und erlaubte ihm nicht, einzutreten: 

Ein wichtiger Besucher ist im Augenblick zu Gast. Du musst warten.

Joga Singh ging fort und kehrte nach ein paar Stunden zurück, aber wieder gebot ihm der Wächter zu warten. Das geschah ein paar Mal, bis es schließlich 3:00 morgens war. Als Joga Singh wieder kam, sagte ihm der Türhüter:

Du bist ein guter Sikh. Du solltest nicht hier sein, um den Körper zu erfreuen. Zu dieser Zeit solltest du meditieren.

Da erkannte Joga Singh seinen Fehler und bereute. Er meditierte diesen Morgen und reiste dann nach Anandpur weiter.

Als er ankam, traf er Gobind Singh, Der aber sehr müde war und dauernd einnickte.

Meister, warum seid Ihr so müde?

Der Guru antwortete: 

Letzte Nacht fand ich keinen Schlaf, weil ich mich um einen Schüler kümmern musste, der den rechten Weg verlassen wollte.

Joga war betroffen, da er sogleich erkannte, dass der Guru von ihm sprach und ihm der Meister Selbst als Türhüter vor dem Haus des Freudenmädchens erschienen war. Joga bat um Vergebung.

Der Guru war immer bei dir. Doch in deinem Stolz hast du die Verbindung gebrochen und bist in die Irre gegangen. Dann hat Er mit dir gelitten und dich vor einem Sturz bewahrt.