Das Leben von Guru Har Gobind

II

Wer schlecht von einem Heiligen spricht, begegnet auf Schritt und Tritt Verwirrung. Er gleicht einem, der hilflos in der Wildnis verloren ist, der hierhin, dann dorthin wandert. Nichtig ist sein Leben, es gleicht dem eines Leichnams. Wer kümmert sich um einen solchen Menschen? Nur ein Heiliger, Der in Seiner Barmherzigkeit selbst einen Verleumder errettet.

Astapadi M5 (Sukhmani)

Als Jahangir zu erkennen begann, was er getan hatte, kam der Wunsch in ihm auf, sich mit Har Gobind zu versöhnen. Er brachte ihm Chandus üble Taten zur Kenntnis und fügte hinzu, dass dieser seine Befehle hinsichtlich der Behandlung Arjans überschritten hatte. Und er ließ ihn wissen, dass Chandu in Wahrheit sein Feind sei und dass er (Jahangir) dem Meister Genugtuung verschaffen wolle. Har Gobind erwiderte, dass weder Er noch Sein Vater Feindschaft hegten oder Rache nehmen wollten. Wenn ein Herrscher eine Strafe verhängen müsse, solle es um der Gerechtigkeit willen sein und nicht wegen persönlicher Wünsche. Chandu wurde dem Meister übergeben, Der ihn wiederum der Obhut Seiner Schüler übergab. Ein Schüler kann alles verzeihen, aber nicht die Schmähung seines Meisters.

Nachdem nun Har Gobind gegangen war, wurde Chandu bestraft: er wurde geschlagen und mit Steinen beworfen, während man ihn durch die Straßen trieb. Schließlich fand er den Tod, als ein schwerer Schlag seinen Kopf durch denselben Mann traf, dem Chandu befohlen hatte, Guru Arjan zu martern. Wenn auch auf menschlicher Ebene Gerechtigkeit unerlässlich sein mag, wird sie jedoch bei den Heiligen durch Barmherzigkeit gemildert. Als Chandu Savai den Körper verließ, kam der Todesengel, um ihn zu übernehmen; aber von der Zeit an, wo seine Qualen begannen, dachte Chandu an Guru Arjan, Den er hingerichtet hatte, auch an Dessen Vorgänger und an Guru Har Gobind, Den er verfolgt hatte.

Nun begann er Tränen zu vergießen und zu beten: „Guru Har Gobind, bewahre mich bitte vor dem Todesengel!“

Die ganze Reihe der Meister von Nanak bis zu Har Gobind erschien daraufhin vor ihm, und indem Sie seine Seele vom Tod befreiten, brachten Sie ihn in die Bereiche der Gnade und Vergebung.

Jahangir kam nun des Öfteren mit dem Guru zusammen, Dessen Gegenwart ihn mit großer Zufriedenheit erfüllte. Er hörte aufmerksam Har Gobinds Rat, sowohl was spirituelle Dinge betraf, als auch die Verantwortlichkeiten eines Herrschers. Und er fuhr fort, dass es seine Pflicht war, das Leid seiner Untertanen zu tragen, das sie zu erdulden hatten, und jede Anstrengung zu machen, ihre Not zu erleichtern. Er solle jenen, die Mangel litten, helfen und den Armen Arbeit geben. Die Beziehung zwischen den beiden verstärkte sich. Jahangir konnte nichts Unrechtes in dem Gottergebenen, doch furchtlosen Verhalten des Meisters finden. Der Mensch, der – obwohl selbst ein unabhängiger König – einzig Gott als Seinen Gebieter betrachtete, nahm kein Verdienst für Sein eigenes untadeliges Tun in Anspruch.

Die Zeit ging hin, und Jahangir hielt den Guru als seinen hochgeschätzten Gast bei sich. Wenn er auf Reisen ging, erfreute er sich ebenfalls der Gemeinschaft des Meisters, indem er Ihm ein eigenes Zeltlager nahe dem seinen errichten ließ. So hatten der weltliche und der spirituelle König zu der Zeit ein Bündnis geschlossen. Doch die beiden sind nicht vergleichbar für einen, der auch nur ein wenig Kenntnis hat vom Meer der Spiritualität. In Agra machte sich ein bescheidener Grasschneider auf den Weg, um seinen geliebten Satguru zu sehen. Er führte auf seinem Kopf eine schwere Last Heu mit sich, das er als Opfergabe für die Pferde des Meisters geben wollte, und näherte sich dem Zelt mit niedergeschlagenen Augen.

Er hatte gelobt, nicht eher aufzuschauen, bis er vor dem Guru stünde; und bei jedem Schritt betete er: „O Wahrer König, ich bin den Sinnen ausgeliefert und habe vergessen. Bezeige mir Deine Barmherzigkeit und nimm mich in Deine Obhut.“

Aber als er von dem „König“ sprach, hatte ein Mann seine Worte missverstanden und führte ihn zum Zelt Jahangirs. Ohne aufzusehen, beugte sich der einfache Schüler nieder und brachte ein tief empfundenes Gebet dar. In diesem Augenblick erkannte Jahangir, dass der Mann in das falsche Zelt geleitet worden war.

„O Bruder, du bist zum falschen König gekommen. Ich kann dir Reichtum und weltliche Güter geben, aber für die Segnungen Gottes musst du zu Guru Har Gobind gehen.“

Der Grasschneider sprang mit seiner Gabe Heu unverzüglich auf und eilte zum Zelt des Gurus. „Ich will nicht deinen Reichtum oder weltliche Güter. Ich will nur den Darshan meines Satgurus.“

Nach Jahangirs Tod bestieg sein Sohn Jahan den Thron. Die Missachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde, die seit Akbars Tod beständig zunahm, wurde unter Shah Jahans Herrschaft noch stärker. Als Har Gobind Kunde von der Thronbesteigung des neuen Herrschers erhielt, wusste Er, dass sich die Zeit des Kampfes näherte. Die Menschen sollten nicht länger unter der Tyrannei der Mogule leben, aber wenn Gott es wollte, sollte man sich ihnen offen und ehrlich entgegenstellen. Shah Jahans Sinn war gegen den Guru eingenommen und vergiftet, und so drohte er ihm bald darauf mit Krieg. Königliche Truppen, die in die Tausende zählten, wurden mit dem Befehl entsandt, die Anhängerschaft des Gurus zu bezwingen und Har Gobind zu ihm zu bringen, ganz gleich auf welche Weise.

Doch die Sikhs waren gut gerüstet für den Angriff, und um die unschuldigen Menschen zu schützen wurde die Stadt evakuiert. Es fand ein heftiger Kampf statt, und tapfere Menschen auf beiden Seiten wurden getötet. Doch binnen nur neun Stunden hatten die Moslems zu schwere Verluste erlitten und waren dadurch zum Rückzug gezwungen. Nach dem Rat von Wesir Khan entschied der König, den Gedanken nach Vergeltung fallenzulassen. Har Gobind suchte nicht Macht oder Land für sich selbst oder Seine Leute. Darüber hinaus wunderte sich der König, wie eine solch kleine Schar von Menschen so ohne weiteres seine eigene, schwere und wohlgeübte Armee vernichten konnte, außer durch Göttliches Eingreifen. Der Guru, Der ebenfalls hoffte, weiteres Blutvergießen vermeiden zu können, begab Sich nach Kartarpur. Sein Ruf als spiritueller und weltlicher König hatte sich verbreitet, und viele kamen, sich Seiner Schar anzuschließen und bei Ihm Zuflucht zu suchen. Von Kartarpur ging Er, um Sich erneut zurückzuziehen den Fluss Beas entlang. Hier gründete Er eine Stadt, die als Hargobindpur bekannt wurde.

Da viele Seiner Anhänger Moslems waren, ließ Er für sie eine Moschee bauen, wodurch Er deutlich machte, dass Er nicht gegen irgendeine Glaubensgemeinschaft Partei ergriffen habe, sondern gegen Unterdrückung und religiöse Intoleranz, welche allgemein Oberhand gewonnen hatten. Die Menschen sollten in ihrer eigenen Religionsgemeinschaft bleiben – alle Arten der Verehrung seien zu achten.

Har Gobind verließ Shri Hargobindpur für eine kurze Zeit und reiste durch den Punjab und Kashmir, um mit Schülern und anderen Menschen, die in Not waren, zusammenzutreffen. In Kashmir begegnete Er einem heiligen Mann namens Samrath Ram Das aus Maratha. Der Guru war voll bewaffnet und saß zu Pferde, als sie sich begegneten. Ram Das war von Seiner Erscheinung etwas überrascht:

„Ich nehme an, dass Du der Linie von Guru Nanak folgst; doch Nanak war ein Entsagender, und du trägst Waffen und hältst eine Armee von Reitern. Welche Art Sadhu bist du?“

Darauf erwiderte Har Gobind:

Der ideale Mensch ist im Innern ein Heiliger und äußerlich ein Fürst: spirituelle und weltliche Kräfte sind in ihm vereint. Waffen dienen dem Schutz der Armen und Schwachen sowie der Überwindung von Tyrannei und Grausamkeit. Außerdem hat Guru Nanak nicht der Welt entsagt, sondern lediglich der Täuschung (Maya).

Die starke Wirkung, welche die Worte Har Gobinds auf Ram Das hatten, beeinflusste den Lauf der indischen Geschichte. Ram Das wurde der Guru von Shiva Ji (1627–1680), dem er nicht nur einen ausgeprägten Sinn für Tugend, sondern auch den Gedanken nahebrachte, dass es seine Pflicht sei, sein Volk von den Angriffen der Moslemherrschaft zu befreien. Shiva Ji wurde ein großer Kämpfer wie auch ein Mann von seltener Rechtschaffenheit und Selbstlosigkeit. Er hob die innere geistige Zucht seines Volkes und bildete schließlich einen indischen Staat, der unabhängig von der Moslemherrschaft war. Der Höhepunkt der Begegnung kam hundert Jahre später, als die Sikhs im Norden und die Marathas im Süden eine hervorragende Rolle bei der Zerstörung der Mogulherrschaft spielten.

Im Laufe der Zeit wurden noch mehr Kämpfe gegen den Guru geführt, einige von Seiten des Herrschers und einige von Männern, die sich an Ihm rächen wollten. Aber jedesmal erlitten Seine Angreifer eine rasche Niederlage durch eine kleine, doch mutige Schar von Sikhs. Der letzte Kampf wurde durch den Verrat eines gewissen Schülers namens Painda Khan veranlasst. Painda Khan war ein Waisenkind, das der Guru aufgezogen hatte wie einen Lieblingssohn. An Kraft, Geschicklichkeit und Unerschrockenheit als Soldat tat es ihm keiner gleich, außer der Guru Selbst. Seit vielen Jahren war seine Ergebenheit nicht geringer als seine Stärke, und er, dessen machtvolle Erscheinung auf dem Schlachtfeld einen furchtbaren Anblick bot, hatte doch ein empfindsames Herz und konnte vor Liebe Tränen vergießen. Doch hin- und hergerissen durch Streit in seiner eigenen Familie und durch Stolz aufgebläht, belog er eines Tages den Meister. Dreimal bat ihn der Meister, die Wahrheit zu sagen, damit ihm vergeben werden könne, doch dreimal log Painda Khan. Es wurde ein Beweis gegen ihn vorgebracht, und man hieß ihn, die Umgebung des Meisters zu verlassen.

Noch immer hätte ihm der Meister verziehen. Doch nun, anstatt bescheiden zu sein, suchte Painda Khan Rache zu nehmen. Er fand beim Kaiser Gehör und brachte falsche Anschuldigungen gegen Har Gobind vor. Des Weiteren bezeugte er – als früherer Sikh – ihre gegenwärtige Schwäche: er behauptete, dass alle Schlachten, die Har Gobind einst gewonnen habe, einzig seiner (Painda Khans) militärischen Stärke zu verdanken gewesen seien. Da er dem Herrscher versicherte, dass Sieg und Vergeltung auf ihrer Seite stünden, erhielt er eine Armee mit Tausenden von Soldaten und führte einen Feldzug an, um Har Gobind und Seine Anhänger zu vernichten.

Eines Nachts, als sich die Soldaten zum Kampf rüsteten, wurde eine Stimme gehört: „Einer von euch ist untreu geworden. Mit ihm werden Tausende zugrunde gehen.“

Eine sofortige Suche wurde eingeleitet, aber der Sprecher konnte nicht gefunden werden, und der Vorfall war für den Augenblick vergessen. Es begannen heftige Kämpfe, und die mysteriöse Stimme erwies sich als wahr; Har Gobinds Armee von weniger als zweitausend Mann war siegreich. Der Guru und sein undankbarer Schüler trafen sich im persönlichen Kampf. Painda Khan fluchte Har Gobind ins Gesicht, doch die Liebe des Meisters für den Schüler blieb unvermindert.

Gleich einem Vater, der seinem Sohn eine ernste Lektion erteilt, so behandelte Har Gobind nun Painda Khan: „Tapferer Soldat, der du bist, Painda Khan, ziehe dein Schwert, damit du den ersten Streich tun kannst.“

Der mächtige Pathan ritt zu Har Gobind und schwang sein Schwert mit aller Macht. Der Schlag wurde abgewehrt. Dann schlug Painda Khan nochmals und wieder, jedesmal ohne Erfolg. Painda Khan war wütend, als schließlich Har Gobind geltend machte, dass Er nun an der Reihe sei, und mit einem geschickten, kräftigen Schlag warf Er den Pathan aus dem Sattel.

Der Meister blickte von Seinem Pferd zu dem gefallenen Soldaten hinunter und sagte wie zu Sich selbst:

Ich habe dich wie meinen eigenen Sohn geliebt und machte dich zu einem Helden. Die Menschen sprachen schlecht von dir, doch meine Liebe für dich blieb, und ich verzieh deine Fehler. Ein unglückliches Schicksal führte dich den falschen Weg, und du führtest eine Armee gegen mich ins Feld. Ohne den Heiligen zu dienen und Gott zu verehren, wendet sich das gute Geschick eines Menschen und richtet ihn zugrunde; der Geist wird durch Stolz getrübt und der Körper vergiftet, bis man den Tod findet. Obwohl du undankbar und untreu warst, mag dir der Allmächtige Herr verzeihen.

Er stieg ab, ging zu Painda Khan, und mit einem barmherzigen Blick nahm Er ihn in Seine Arme. Des Gurus Schlag und Seine letzte, barmherzige Berührung gab dem Herzen Painda Khans die Göttliche Gnade zurück, und er empfand die Freude der Demut vor dem Meister.

Har Gobind schirmte Painda Khans Gesicht vor der Sonne ab und sagte zu ihm: „Painda Khan, sage dein Kalma auf, denn du bist ein sterbender Moslem.“

Indem er in des Meisters Augen sah, erwiderte Painda Khan: „Durch den Schlag Deines Schwertes hat mein Herz den Nektar des Lebens gekostet. Dein Schwerthieb wurde mein Kalma.“

Und indem er das sagte, verließ der Schüler seinen Körper.