Das Leben von Guru Hari Rai

1630–1661

Guru Hari Rai

 

Wer Seinen Namen Tag und Nacht wiederholt, Den betrachtet als die Form Gottes. Es besteht kein Unterschied zwischen dem Geliebten Gottes und Gott Selbst. Nanak sagt: Erkennet dies als wahr.

Slok M9

Hari Rai war eine Verkörperung des Mutes, der Barmherzigkeit und Ergebenheit. Als Er einmal eilte, Seinem Meister zu begegnen, schlug ein loser Gürtel seines Mantels mehrere Blumen von einem Busch. Sowie er den Schaden sah, den er angerichtet hatte, war er voller Gewissensbisse. Als der Meister zu ihm kam, tröstete Er ihn und ermahnte ihn zugleich, dass es als Diener Gottes seine Pflicht sei, allem Leben gegenüber barmherzig zu sein. Darum solle er beim Gehen seinen Mantelgürtel geschlossen halten – eine Anweisung, die er nie gebrochen hat. Als Schüler gewährte er sich keine Ruhe, sondern tat sein Äußerstes, sich dem Schlaf zugunsten von Gebet und Meditation zu entziehen. Man konnte bei ihm wegen seiner Herkunft als Enkel des Gurus keine Anzeichen von Stolz wahrnehmen – im Gegenteil, er war bescheiden und brannte begierig darauf, zu dienen. Er hatte nicht wie sein älterer Bruder Dhir Mal den Wunsch, die Stellung des Gurus einzunehmen, sondern suchte einzig den spirituellen Trost, der zu Seinen Füßen gewährt wurde. So ergab es sich, dass Har Gobind den Jungen immer an Seine Seite nahm und ihn allein für geeignet hielt, die schweren Verantwortlichkeiten, die dem Guru übertragen werden, zu übernehmen.

„Hab keine Angst, niemand wird sich gegen dich behaupten können. Gott wird immer mit dir sein und dir helfen. Halte stets 2200 vollbewaffnete Soldaten bei dir, doch fordere keinen Kampf heraus, noch verwickle dich in Meinungsverschiedenheiten und Streitereien. Zögere nicht, den Hilflosen und Bedrückten mit deiner Armee zu Hilfe zu kommen.“

Dies waren die letzten Worte Har Gobinds an Seinen spirituellen Sohn. Und danach wurden Seine Leute durch Seine Gnade von einer friedvollen Regierung beschützt.

Dennoch wurde die Armee, wie Guru Har Gobind es gewünscht hat, weiterhin trainiert, und sie überwachte die umliegenden Gebiete. Bei einem solchen Kontrollgang kam der Guru mit Seiner Begleitung an dem Haus einer sehr armen Ergebenen vorbei. Plötzlich hielt Hari Rai inne und bat sie, Ihm etwas Brot zu essen zu geben. Mit Tränen in den Augen legte sie einen Laib grobes Brot vor den Guru hin. Der Meister Selbst zeigte Sich sehr erfreut, dieses Brot erhalten zu haben, segnete diese Frau und setzte Seinen Weg fort. Alle, die bei Ihm waren, staunten darüber: denn es war weder die übliche Essenszeit des Gurus, noch war es je Seine Art, irgendetwas anzunehmen, für das Er nicht bezahlt hatte. Und dennoch wagte keiner, Ihn nach der Bedeutung des Geschehens zu fragen. Am nächsten Tag jedoch, als diese Schüler Hari Rai Essen anboten, und zwar zur selben Zeit, da Er das Brot tags zuvor angenommen hatte, lehnte Er es ab. Er verstand, was sie meinten, und erklärte, was sich ereignet hatte: ”Brüder, ich habe nicht um Brot gebeten, weil ich hungrig war, sondern fragte wegen der Hingabe danach, mit der es bereitet wurde. Nur sehr selten bekomme ich ein solches Brot.”

Nicht lange, nachdem Er das Amt eines Meisters aufgenommen hatte, erreichte Hari Rai die verzweifelte Bitte des Herrschers: Shah Jahans Sohn lag im Sterben; konnte Hari Rai ihn retten?

Als Er die Bitte des Kaisers vernahm, lächelte Hari Rai:

Mit der einen Hand bricht ein Mensch die Blume, und mit der anderen bringt er sie als Gabe dar. Doch der Duft der Blume ist in beiden Händen gleich.

Er überlegte einen Augenblick und wurde noch ernster:

So vergibt der Guru Schlechtes mit Gutem.

Hari Rai sandte bestimmte Kräuter, die den Sohn des Herrschers gerettet haben, und dadurch wurde ein Band der Freundschaft geknüpft. Doch als Shah Jahan alt und krank geworden war, erhob sich ein anderer Sohn, Aurangzeb, gegen ihn. Er sperrte seinen Vater ein sowie einen Bruder (Murad), der ihm im Kampf gegen einen anderen Bruder (Dara Shikoh) beigestanden hatte. Dara Shikoh, welcher offensichtlich der Erbe des kaiserlichen Thrones war, wurde vernichtend geschlagen, aber er entging dem Tod, da er das Land auf dem Weg ins Exil durchstreifte. Dieser selbe Mann, dessen Leben der Meister früher gerettet hatte, suchte nun erneut Seinen Schutz.

Er sandte dem Meister einen Brief, in dem er bescheiden um Schutz bat – nicht länger für seinen Körper, sondern für seine Seele: ”Der Wunsch, Gott zu finden, hat mein Herz ergriffen. Ich suche nun ein Reich, das ich nicht verlassen muss.”

Hari Rai antwortete, indem Er ihn wegen seiner Weisheit und ergebenen Einstellung segnete. Als sie sich begegneten, wurde der vertriebene Sohn mit der Gabe von Naam gesegnet. Nachdem er kurze Zeit mit Hari Rai zusammen war und den Pfad erreichte, den er gesucht hatte, wandte er seinen Glauben nach Innen, um seiner Bestimmung zu folgen. Sein Flug war kurz; er wurde gefangen und hingerichtet. Doch selbst als er seiner Exekution nahe war, heißt es, strahlte er Ruhe aus und ließ kein Zeichen von Schmerz erkennen, als er das Todesurteil hörte.

Als Aurangzeb seine Macht gefestigt hatte, empfand er es als seine von Gott gegebene Pflicht, allen „heidnischen“ Religionen ein Ende zu machen, sei es durch Bekehrung oder mit Gewalt. Tempel und Wallfahrtsorte der Hindus wurden zerstört, und vielfach errichtete man an ihrer Stelle Moscheen. Sobald er von Hari Rai gehört hatte, war er beunruhigt und verärgert: Dieser Guru predigte nicht nur eine von den Propheten verschiedene Religion, sondern hatte auch Dara Shikoh geholfen. Doch Aurangzeb entschied, dass es ein gewisses Risiko sei, dem Guru direkt gegenüberzutreten, da Er eine große Anhängerschaft hatte und hoch angesehen war. Andererseits konnten die Dinge zum Vorteil des Kaisers sein, wenn sie vorsichtig gehandhabt würden: Er brauchte nur den Guru zum Islam zu bekehren, dann würden Ihm Tausende folgen. So spielte der Kaiser mit diesem Gedanken und festigte ihn innerlich: Er würde alle Maßnahmen ergreifen, Ihn zu bekehren, Ihn aber begnadigen, wenn Er ein Wunder bewirkte. Dementsprechend sandte er Hari Rai eine Einladung an den kaiserlichen Hof.

Doch als Hari Rai sie erhielt, lehnte Er es ab, hinzugehen. Ihr Zusammentreffen würde nicht von Nutzen sein, wie es der Meister empfand, da Aurangzeb kein spirituelles Verlangen hatte und Hari Rai nichts von ihm wollte. Doch nicht alle Schüler hatten den Mut des Meisters. Viele fürchteten, dass eine Ablehnung des Kaisers Zorn über sie bringen könnte. So wurde beratschlagt und beschlossen, dass der älteste Sohn Hari Rais, Ram Rai, an Stelle des Meisters gehen könne. Aurangzeb war enttäuscht, dass der Guru nicht Selbst erschien, sondern wollte, dass sich Ram Rai der Prüfung statt Seiner unterziehe. Es heißt, dass – zum Erstaunen des Kaisers – Ram Rai Wunder tat und sich gut als religiöse Autorität darbot. Rasch fand der Kaiser Gefallen an ihm wie an den heiligen Schriften seines Meisters.

Doch eines Tages entdeckte er eine Textstelle im heiligen Granth, die seinen Ärger hervorrief:

Die Asche der Moslems fällt in den Ofen. Aus ihr werden Ziegelsteine und Krüge geformt; sie schreien auf, während sie brennen1.

Asa Ki Var M1

Aurangzeb ließ Ram Rai kommen und verlangte eine Erklärung. Da dieser fürchtete die Gunst des Kaisers zu verlieren, sagte er ihm, dass die Hymne, so wie er sie gelesen habe, tatsächlich eine Entstellung der Worte des Gurus gewesen sei. Daraufhin änderte er die Hymne, um sie dem Herrscher gefällig zu machen, und gab seine Version als das Orginal aus. Sikhs in Delhi berichteten dem Meister über Ram Rais Untreue.

Betrübt, doch nicht gewillt, die Wahrheit preiszugeben, entgegnete Er: ”Sagt meinem Sohn, er könne gehen, wohin immer er will, aber er soll nicht mehr in die Gegenwart des Gurus kommen.”

Seines Vaters Worte trafen das Herz Ram Rais schwer – nicht nur wegen irgendeiner persönlichen Zuneigung, die er für Ihn empfunden haben mochte, sondern auch, weil er wusste, dass ihm diese Anordnung den langgehegten Wunsch durchkreuzte, als Nachfolger des Gurus verehrt zu werden. In der Hoffnung, seine Lage zu verbessern, schrieb Ram Rai seinem Vater und bat Ihn um Vergebung, doch seine Entschuldigungen wurden abgelehnt. Hinzu kam, dass er ausgerechnet die Hilfe von Dhir Mal suchte, der zuvor schon Har Gobind betrogen hatte und sogar zur Quelle der Feindseligkeit gegenüber dem neunten Guru wurde. Dhir Mal setzte sich leidenschaftlich für Ram Rai ein, doch des Meisters Wohlgefallen konnte nicht durch Betrug und Forderungen gewonnen werden; das einzige Ergebnis war, dass sich Hari Rai still in eine andere Stadt begab, um einen weiteren Konflikt zu vermeiden.

Nicht lange danach sah Hari Rai Seinen Weggang von der Welt nahen. Er ließ Seinen jüngeren Sohn an Seine Seite rufen und übergab Ihm die spirituellen Kräfte, so dass die Mission der Wahrheit und des Dienens fortgeführt werden konnte.

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Erläuterung: 1) Die ursprüngliche Fassung dieser Hymne sollte nicht als Verleumdung der Moslems verstanden werden. Sie besagt lediglich, dass alle – die Reichen wie die Armen, die Verfolgenden und die Verfolgten – dasselbe Schicksal, den Tod, erleiden müssen.