Das Leben von Guru Nanak

II

Im indischen Monat Baisakh1 – April / Mai – wurden dem Buchhalter Mehta Kalu aus Talwandi und seiner Frau Mata Tripta der erste Sohn geboren. Nach Seiner Schwester Nanaki wurde der Junge Nanak genannt. Er erfüllte Seinen Vater sogleich mit Stolz – ein Sohn, der seine langgehegten Wünsche erfüllen und weltlichen Ruhm erringen würde. Und als man ihm dann Erstaunliches über das Kind berichtete, war sein Herz noch mehr von Glück erfüllt. Die Hebamme sprach von Inneren Stimmen, die ihr mit Himmlischer Musik die Geburt des Knaben verkündet hatten, Der nicht mit Tränen in die Welt trat, sondern besonnen lächelte und wie ein weiser alter Mann zu lachen begann. Als der Familienastrologe Hardial kam, wurden noch bedeutungsvollere Vorzeichen offenbar. Hardial sah das Kind in einen großen Schrein aus Licht gehüllt und unterwarf sich dem, was er sah. Er brauchte nicht seine Bücher zu Rate zu ziehen, um das Schicksal des Kindes vorherzusagen: Es würde der König der Könige – ein Bewahrer des Schatzes der Gottheit.

Auch als Er heranwuchs, wies Nanaks Leben ungewöhnliche Züge auf. Er war von frühester Kindheit an von einer Inneren Macht ergriffen: Das Mysterium von Leben und Tod hatte Sein Innerstes bewegt und ließ Ihm keine Ruhe mehr. Sehr zum Missfallen Seiner Eltern verbrachte Er manch schlaflose Nacht in stillem Gebet, um den verborgenen Sinn des Lebens zu enthüllen.

Als Er in einer stürmischen Sommernacht beim Gebet saß, wollte Ihn Seine Mutter überreden, Sich doch zur Ruhe zu legen: 

O mein Kind! Es ist dunkel und spät. Andere Jungen in deinem Alter liegen schon längst bequem im Bett. Du solltest jetzt auch hereinkommen und schlafen.

Ihre Worte wurden vom Rufe eines Kuckucks2 unterbrochen und Nanak antwortete ihr: 

O Mutter! Mein Rivale ist wach – wie kann ich da schlafen?

Wie von einer geheimnisvollen Macht geleitet, suchte Er nur selten die Gemeinschaft der Familie und verbrachte Seine Zeit nicht mit sinnlosen Vergnügungen. Vielmehr war es Seine Gewohnheit, Stunden um Stunden in tiefer Meditation zu verbringen oder Sich der Stille der Natur hinzugeben. Nur um der Gemeinschaft Heiliger Menschen willen überwand Er die Ihm angeborene Liebe zur Einsamkeit. Und was Ihm Seine Eltern auch schenkten, das gab Er an die Armen oder umherwandernde Yogis und Sadhus weiter.

Schon in früher Jugend hatte Er durch intensive religiöse Neigungen nahezu die Herzen aller gewonnen, doch Seiner Familie wurde Er zu einer Quelle ernsten Verdrusses. Als Mehta Kalu erkannte, dass sein Sohn kein Interesse an weltlichen Dingen hatte, verlor er den Glauben an die günstigen Vorzeichen von Nanaks Geburt. Er versuchte immer wieder, die nicht auf die Welt gerichteten Gewohnheiten seines Sohnes auszurotten, aber Dessen Schicksal war schon in der Kindheit so klar gezeichnet, dass es nichts beeinflussen konnte.

Als Er fünf Jahre alt war, kam Nanak in die Schule. Er erwies Sich als erstaunlich frühbegabt und schien die alten Sprachen und Schriften zu kennen, als seien sie ein Teil von Ihm. Darüber hinaus erweckte Sein Verhalten das Interesse Seines Lehrers, denn Nanak saß oft so still da, als ob Er Sich von aller äußeren Unruhe gänzlich zurückgezogen habe. Und wenn Seine Aufmerksamkeit dann wieder zum äußeren Bewusstsein zurückkehrte, ging von Seinem Gesicht eine strahlende Freude aus. Oder zu anderen Zeiten, wenn Seine Spielkameraden miteinander stritten, stand Er voll tiefen Mitgefühls still daneben und Seine Augen füllten sich mit Tränen, wenn Er an das Leid dachte, dass die Menschen einander unwissentlich zufügen. Trotz eines starken Sinnes für Freiheit und Losgelöstheit war Nanak als Kind und auch während Seines ganzen Lebens frei von der fast unmenschlichen Strenge jener Menschen, die einem Dogma folgen oder der Askese huldigen: Er war stets voller Freude, achtete das Leben und floss von Liebe über.

Während der Schulzeit musste Er mit Seiner Klasse auch das Alphabet erlernen. Alle anderen hatten die Buchstaben im Nu hingekritzelt, doch Nanak schrieb ohne aufzusehen fleißig weiter. Der Lehrer wunderte sich und ging zu Ihm, um nach Seiner Arbeit zu schauen. Man sagt, dass sich seine Augen vor Erstaunen weiteten und er nicht anders konnte, als sich vor seinem Schüler niederzubeugen, denn Nanak hatte nach jedem Buchstaben eine Hymne geschrieben, mit der Er die Mysterien Gottes darlegte. Als Er zu Seinem Lehrer aufblickte, erklärte ihm Nanak, dass das Wahre Wissen in der Liebe Gottes bestünde, und wenn man sie nicht besitze, selbst ganze Wagenladungen von Büchern ohne jeden Nutzen seien. Der Lehrer war so tief beeindruckt, dass er mit Nanak zu Mehta Kalu ging und ihm sagte, dass es keinen gäbe, der Jenem etwas lehren könne, Der zur Führung der Menschheit gekommen sei.

Ein Jahr später brachte man Nanak zur örtlichen Moschee, um dort Arabisch zu lernen. Wiederum meisterte Er alle Aufgaben, die Ihm die Priester stellten, in erstaunlich kurzer Zeit; und wiederum erfüllte Seinen Lehrer dieses Wissen mit Staunen: 

O Gott, durch Deine Gnade hat dieser Junge das gemeistert, wozu andere Jahre brauchen!

Nanak lernte also, mit den Moslems über deren Religion in ihrer eigenen Sprache zu sprechen, wie Er es auch mit den Hindus tat – so wie Er zu einfachen Menschen mit einfachen Worten sprach und aus den Büchern vieler Religionen zitierte, wenn Er Sich an die Gelehrten wandte – und sie alle lauschten den Worten des Jungen mit großer Aufmerksamkeit. Den Hindus war Er ein Heiliger in Gestalt eines Kindes und die Moslems sahen einen Botschafter Gottes in Ihm.

Doch ungeachtet der Tatsache, dass man seinen Sohn als Heiligen rühmte, verlangte Mehta Kalu nur nach weltlicher Klugheit seines Kindes, und er wollte Es an die Pflichten der Welt heranführen. So vertraute man Nanak eine Viehherde an. Doch es geschahen merkwürdige Dinge. Da Er mit Seinem Herzen nicht bei der Arbeit war, ließ Nanak das Vieh frei herumlaufen, während Er die Heiligen Schriften studierte oder Stunden in Meditation verweilte. 

Als Er eines Tages ins Gebet vertieft war, wanderte der Schatten des Baumes, unter dem Er saß, über Ihn hinweg, und die Sonne brannte auf Sein Gesicht herab. Das sah eine Kobra, die von der Kraft, die von Ihm ausstrahlte, angezogen worden war, und sie erhob ihr Haupt, um Ihm Schatten zu spenden. Die Zeit ging vorüber und die Schlange verweilte still in der Aura des Friedens, die von Ihm ausging. Sie verschwand erst, als ein vorbeikommender Reiter, der um Nanaks Leben fürchtete, heran galoppierte. 

Ein anderes Mal saß Nanak in Meditation, und Sein Vieh lief in ein nahegelegenes Feld und tat sich an den Pflanzen gütlich. Als der Bauer das bemerkte und Nanaks Pflichtvergessenheit sah, brachte er Ihn vor Mehta Kalu und verlangte finanzielle Entschädigung. Wie sie nun gemeinsam mit dem Bürgermeister zu den Feldern des Bauern gingen, um den Schaden festzustellen, waren sie, als sie dort ankamen, höchst erstaunt, denn sie sahen, dass das Feld weitaus mehr Frucht trug als zuvor. 

Diese und ähnliche Begebenheiten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer im Ort, und selbst die weisen Männer des Dorfes konnten nicht anders, als zum jungen Nanak mit einem Gefühl des Erstaunens und der Achtung aufzublicken. Doch Nanaks eigene Familie brachte Ihm solche Empfindungen keineswegs entgegen.

Die hingebungsvolle Suche nach jenem Inneren Wissen, von dem alle Schriften sprechen, erzürnte Seinen Vater immer mehr; und er zwang Nanak, an der Einweihungszeremonie – Upanayana – der Hindus teilzunehmen. Dabei wurden die Kinder zu Zweimalgeborenen gemacht. Man gab ihnen eine heilige Schnur zu tragen und ein heiliges Mantra, das erläuterte, wie man die Sonne im Innern erblickt. Doch wie konnte Er, Der die Verkörperung des Lichts dieser Sonne Selbst war, an einem leeren Ritual teilnehmen? 

Als nun der Brahmane daranging, die geheiligte Schnur um den Hals des Knaben zu legen, verweigerte es ihm Nanak: 

Von welchem Nutzen ist eine Baumwollschnur, die schon in diesem Leben zerreißt und im Jenseits keinem helfen kann? Und worin besteht das Gute, dass sie ihrem Träger verleiht, wenn Menschen, die sich durch sie als ‚zweimal geboren‘ glauben, die übelsten Taten begehen?

Die Versammlung erhob sich voller Empörung über solch ein Benehmen bei der heiligen Zusammenkunft. Doch Nanak ließ Sich durch ihre Erregung nicht aus der Ruhe bringen und verfasste folgende Hymne:

Webe aus der Baumwolle deines Mitleids die Schnur der Zufriedenheit und knüpfe damit den Knoten der Enthaltsamkeit mit der Kraft der Wahrheit. Solch eine Schnur kannst du um meinen Nacken legen, o Pandit; denn sie wird nicht zerreißen, locker werden oder verloren gehen – o Nanak, wer diese Schnur trägt, ist gesegnet.

Guru Nanak, Rag Asa Di Var M1

Diese Worte beschwichtigten den Ärger des Brahmanen; und vielleicht öffneten sie seine Augen sogar der ernsten Tatsache, wie sehr seine Religion bereits zu leeren Ritualen entartet war und dass in Wahrheit selbst ihre Führer die heilige Schnur nicht mehr trugen.

Obwohl Er die Achtung so vieler Gelehrter gewonnen hatte, glaubte Sein Vater noch immer, dass Er arbeitsscheu sei – vielleicht sogar verrückt. Er versuchte unbeirrbar, seinen Sohn von den unweltlichen Wegen abzubringen und Ihn der Ordnung der Welt zurückzugeben. Jedes Mal, wenn es fehlschlug, erregte ihn das und trieb ihn zu immer größeren Bemühungen an. Da er Nanak den bäuerlichen Pflichten nicht gewachsen glaubte, verfiel er nun auf einen anderen Plan.

Er gab Nanak eine Summe Geld und bat Ihn, es sorgsam anzulegen. Er war sich sicher, dass Nanak seine Bedeutung erkennen würde, wenn Er Selbst einmal Geld in den Händen hielt. Gehorsam und bestrebt, den Vater zu erfreuen, ging das Kind mit dem Geld zur Nachbarstadt. Auf dem Weg dorthin traf Nanak eine ausgehungerte Schar von Entsagenden, die nichts als das aufrichtige Verlangen nach Gott besaßen. Da Nanak wusste, dass es keinen besseren Weg gibt, Geld anzulegen, als frommen Menschen Nahrung zu geben, schenkte Er ihnen alles, was Er bei Sich trug. 

Doch Mehta Kalus Zorn kannte keine Grenzen, als er davon erfuhr. Er beschimpfte Nanak wegen Seines Leichtsinns und Unvermögens, Sich um die eigene Zukunft zu sorgen. Zum Ärgernis Seines Vaters entgegnete ihm Nanak ganz ruhig: 

Vater, Ihr seid alt geworden und habt noch nichts getan, um Euch auf den Tod vorzubereiten.

Doch die Worte trafen auf taube Ohren, und man schlug Ihn, bis Er voll blauer Flecken war.

O Herr, sage mir, wer mein Vater und meine Mutter sind und woher ich gekommen bin. Ich bin nur ein armer Fisch in Deinem weiten Meer – wie kann ich Dich da erkennen und Dein rettendes Ufer erreichen? Und ich weine vor Schmerz, weil ich Deinen Wassern entrissen bin. Ich flehe in Todesangst zu Dir und bitte Dich um Hilfe.

Guru Nanak, Gauri & Sri Rag M1

Die nächsten Tage verbrachte Nanak ohne Unterbrechung in Meditation. Er aß nichts, noch sprach Er mit irgendjemand. Seine Eltern machten sich von Tag zu Tag größere Sorgen um Ihn, bis sie schließlich einen Arzt holten. Doch Nanak bat ihn mit höflichen Worten, wieder zu gehen: 

Ich leide nicht an einer Krankheit des Körpers, sondern einzig unter der Trennung von Gott, die mich vor Sehnsucht vergehen lässt. Ich sehe die Augen des Todes über mich wachen; Gott Selbst hat mir diese Krankheit gegeben; nur Er allein kann mich heilen.

Mehta Kalu begann nun zu erkennen, dass seinem Sohn niemand helfen konnte: Der Arzt war nicht fähig Ihn zu heilen, noch vermochten Ihn die Weisen zu ändern. Aber er glaubte, wenn sein Sohn auf die rechte Weise mit den Dingen der Welt beschäftigt sei, würde Sein Leid ganz sicher beendet und er selbst von der Schande befreit, die das seltsame Verhalten Nanaks über ihn gebracht hatte. 

Zu seiner Freude ermutigte ihn Nanaki, die ihm anbot, für ihren Bruder entsprechend zu sorgen. Ihr Mann gab Ihm Arbeit als Verkäufer in einem kleinen Getreidegeschäft; und Nanaki selbst bereitete alles für Seine Hochzeit vor. Seine Familie freute sich endlich über Ihn, denn Er führte das Geschäft recht gut. Obwohl Er Sich noch immer voller Freude den Spirituellen Übungen hingab und die Gemeinschaft der Heiligen aufsuchte, handelte Er im Geschäft voller Verantwortung und mit ungewöhnlicher Ehrlichkeit. Zudem brachte Ihm Seine offene und freundliche Art die Achtung der Menschen ein. Was Seine Familie anging, so wurde Ihm bald ein Sohn namens Sri Chand geboren und Seine Frau erwartete schon das nächste Kind, das wieder ein Sohn werden sollte. Doch inmitten aller weltlichen Sorgen blieb Sein Herz stets Gott zugewandt. 

Eines Tages, als Er gerade fleißig im Geschäft arbeitete, betrat ein Fakir – Heiliger Mann – den Laden, ging direkt auf Ihn zu und erklärte: 

Für diese Dinge sind wir nicht in die Welt gekommen.

Dann ging er unverzüglich aus dem Geschäft. Das entfachte die Glut in Nanaks Herzen sogleich zu einem hellen Feuer. Später an diesem Tag wog Er für einen Kunden Getreide ab und zählte die Pfunde. Als Er zu der Zahl tera kam, – was in Punjabi sowohl dreizehn als auch dein bedeutet – geriet Er in einen Zustand Göttlicher Berauschung und wiederholte immerzu die Worte tera, tera – Ich bin Dein, o Herr, ich bin Dein – und wog dem Käufer mehr und mehr Getreide zu. Als dies der Besitzer des Ladens erfuhr, eilte er herbei, um Nanak zu tadeln und seinen Verlust einzufordern. Doch Gottes Wege sind geheimnisvoll, und Er sorgt für Jene, Die Ihm vertrauen. Und so ergab es sich, dass Nanak, statt Geld zu verlieren, einen großen Gewinn für das Geschäft erzielt hatte. Der Besitzer des Ladens entschuldigte sich und bat Nanak, weiter für ihn zu arbeiten. Doch dieser erwiderte, dass es nun an der Zeit für Ihn sei, Sich um Seine Wahre Arbeit zu kümmern – um die Gottverwirklichung.

________________

Erläuterungen: 1) Die Sikh-Gelehrten sind sich über den wirklichen Geburtstag von Guru Nanak nicht einig. Manche sagen, dass Er im Monat Kartik – Oktober / November – geboren sei, andere legen dieses Datum auf den Monat Baisakh – April / Mai – fest. Darüber wurden ganze Bücher geschrieben; und die glaubenswürdigsten Untersuchungen weisen auf Baisakh als wahren Geburtsmonat hin; obwohl Sein Geburtstag in Indien heutzutage im November gefeiert wird. Ein Gelehrter namens Hari Ram Gupta zeigt jedoch auf, dass die Zeit Seines Spirituellen Erwachens – Sein Wahrer Geburtstag – wahrscheinlich in den Herbstmonaten, in der Zeit des Kartik liegt. Siehe ‚History of Sikh Gurus‘ von Hari Ram Gupta, Seite 34–36. 2) Der Ruf des indischen Kuckucks – ‚Pee-ah, Pee-ah‘ – klingt wie das Hindu-Wort für Geliebter. Hier nennt Nanak den Kuckuck Seinen Rivalen, weil auch er die Nacht ohne Schlaf verbringt und nach seiner Geliebten ruft.