Das Leben von Guru Nanak

III

O Herr, ich kann die Trennung länger nicht ertragen. Die lange Nacht des Erinnerns und Wartens ist nun zu Ende. Du weißt, wie meine Seele nach Dir verlangt und wie sehr mein Herz schmerzt – bitte, komme nun zu mir und errette mich!

Guru Nanak

Eines Morgens ging Nanak zum Ravi-Fluss, an dessen Ufern Er Sich in Meditation verlor. Es heißt, dass Er dort die Höchste Verwirklichung erreichte und den Sinn Seiner weltlichen Mission erkannte: den Armen und Bedürftigen zu dienen, Sich dem Namen Gottes – Sat Naam – hinzugeben und die Menschen zu Gott zu führen.

Drei Tage weilte Er ohne Unterbrechung in einer herrlichen Inneren Schau, und am vierten Tag brach Er die Stille und erklärte: 

Es gibt weder Hindus noch Moslems.

Diese einfache Botschaft verbreitete sich in der Stadt und verwirrte die Menschen. Als die Qazis – Moslempriester – davon hörten, gingen sie zu Nanak und baten Ihn, die Bedeutung dieser Worte zu erklären. Er gab ihnen keine Antwort. Sie waren bestürzt und verärgert, luden Ihn jedoch ein, mit Ihnen zu beten, um allen zu zeigen, dass sie wirkliche Moslems seien. Nanak willigte ein und betrat mit ihnen die Moschee. Doch als alle zum Gebet niederknieten, blieb Nanak stehen. Als das Gebet zu Ende war, griffen sie Nanak voller Empörung an, weil Er als Hindu ihren religiösen Übungen so wenig Achtung entgegenbrachte. Doch Nanak wies einen der Qazis daraufhin, dass er nicht gebetet, sondern an seine Stute gedacht hatte, die gerade ein Fohlen warf. 

Dann wandte Er Sich an den Qazi neben Sich: 

Und du warst in Kabul und hast Pferde gekauft.

Beide Männer waren beschämt, beugten sich vor Ihm nieder und bezeugten, dass Nanak die Wahrheit gesprochen hatte. Und dann fragten sie Nanak, wer Er denn wirklich sei. 

Nanaks Antwort war: 

Wenn ich sage, ich bin ein Hindu, so werdet ihr mich töten – aber ich bin auch kein Moslem. Ich bin eine Puppe aus den fünf Elementen, die von etwas Unsichtbarem bewegt wird. Und dieses Unsichtbare bin ich.

Und die Qazis fragten Ihn: 

Welche Religion ist die Wahre? Wie kann man nach ihr leben?

Nanak rezitierte einen Vers als Antwort:

Mache das Mitleid zu deiner Moschee, den Glauben zum Teppich deines Gebets, und lass die Rechtschaffenheit deinen Koran sein. Bescheidenheit sei deine Beschneidung und Frömmigkeit dein Fastenopfer – so wirst du ein Wahrer Moslem sein. Rechtes Tun sei deine Kaaba (Pilgerort), dein Wahrer Pir1 (geistiger Führer), wie auch dein Kalma2 (Gebet). Und in Seinem Willen zu leben möge dein Rosenkranz sein. Nanak sagt, der Schutz des Herrn ist einem solchen Moslem gewiss.

Guru Nanak, Rag Magh Ki War M1

Nachdem Er die Qazis verlassen hatte, gab Nanak den größten Teil Seines Besitzes weg und zog an einen abgeschiedenen Ort in der Nähe von Sultanpur. Zusammen mit Seinem ergebenen Schüler Mardana erwartete Er dort den Inneren Befehl, der Ihn auf die erste von mehreren Reisen in fremde und weit entfernte Länder führen sollte. Während Seines Aufenthaltes in Sultanpur wurde Ihm Sein zweiter Sohn Lakhmi Das geboren. Diese Geburt bot Seiner Familie den willkommenen Anlass zu einem letzten Versuch, Ihn vom Leben eines Entsagenden abzubringen. Jeder der Angehörigen legte Ihm dar, warum Er aus diesen und jenen Gründen den weltlichen Bindungen nicht entsagen sollte: als Familienvater sei es Seine Pflicht, Sich um den Haushalt zu kümmern, als Sohn dürfte Er die Eltern nicht vergessen; und wie könne Er als Ehemann Frau und Kinder verlassen?

Als sie geendet hatten, antwortete Er ihnen aus Seinem Innersten Herzen – sehr bestimmt, doch zugleich sanft und voll Verstehen: 

Die ganze Menschheit ist meine Familie, und der Herr und Gott, Der über uns wacht, ist unser Einer Vater. Ich lasse euch in der Obhut des Einen, Der für uns alle sorgt. Die Welt wird von tödlichen Flammen bedroht. Und ich ziehe hinaus, um jenes unsichtbare Feuer – des Übels – zu löschen, das die ganze Menschheit gefährdet.

Als ob sie Seine Worte verzaubert hätten, stimmten alle zu gingen stillschweigend davon.

Doch da Er sehr wohl wusste, welche Bürde Seine Frau zu tragen haben würde, blickte Er sie mit Augen an, die alle Sorgen der Welt kannten und legte die Hände auf ihren Kopf: 

Sulakni, ich danke dir für deine große Liebe und für dein großes Opfer – sei versichert, dass es dir der Eine, für Den ich jenes Werk vollbringe, im Übermaß entgelten wird.

Schließlich wandte Sich der Meister Seiner Schwester zu, die Ihn die ganze Zeit still angeblickt und mit den Tränen gekämpft hatte. Sie sah in ihrem Bruder schon lange nicht mehr einen einfachen Menschen, sondern eine Göttliche Verkörperung. 

Nanaki, jene Liebe und Hingabe ist am größten, die einen nichts mehr für sich selbst erbitten lässt, sondern bescheiden im Willen Gottes beharrt. Wisse, dass ich immer in dir wohne und du mich dort finden wirst, wenn du deine Aufmerksamkeit nach Innen wendest. Aber ich habe noch viele Schwestern in der Welt, die Leid erdulden. Ich werde zum Aufbruch gemahnt. 

Dann segnete Er sie alle und macht Sich auf den Weg.

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Erläuterungen: 1) Pir – ein Spiritueller Führer. Gleichbedeutend mit Guru. 2) Kalma – wörtlich Wort. Ein Heiliges Gebet, das sagt: Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist Sein Prophet (Rasul).