1. Daya – Mitgefühl

Mitgefühl bedeutet Barmherzigkeit, Gnade, Mitleid oder Freundlichkeit. Wenn einem beim Anblick des Leidens eines Menschen das Herz blutet und man wirklich Mitleid mit dessen Leiden hat, dann sagt man, dass man Mitgefühl hat. Ein mitfühlender Mensch kann den Anblick des Leidens eines anderen nicht ertragen und teilt unwillkürlich dessen Elend. Er versucht, dessen Leiden mit allen Mitteln zu lindern und fühlt sich erst dann wohl, wenn dies geschehen ist.

Der Herr ist barmherzig. Er wird von den Gurus als höchst barmherzig beschrieben. Er ist der Erhalter und schüttet Gnade auf alle.

Der mächtige Barmherzige erhält und überschüttet alle mit Gnade.

Gauri M5, 249-7

Die Inwendig suchende Seele verwirklicht die Farbe des Herrn. Die Seele ist ein Teilchen des Herrn.

O Kabir, die Seele ist ein Teilchen des Herrn.

Die Seele, welche den Farbton des Herrn annimmt, erwacht in der inneren Seele und hat Mitgefühl für alle Wesen und behandelt alle mitfühlend. Sie hat ein freundliches Gefühl für alle und liebt sie. Sie hat daher liebliche Worte für sie. Dies ist die wesentliche Grundlage aller Tugenden und Wünsche.

O Nanak, Demut und Liebenswürdigkeit sind die Grundlage aller Tugenden.

Asa War M1, 470-13

Dharma wird aus einem solchen mitfühlenden Herzen geboren.

Dharm oder das Wort, aus Seiner Gnade geboren, ist der sprichwörtliche Bulle […]

Jap Ji – Strophe 16,
herausgegeben von Kirpal Singh, 1894 – 1974

Nur ein mitfühlender Mensch kann Dharmatma (ein Hochbeseelter) sein. Geduld und Vergebung werden aus Mitgefühl geboren. Wenn es kein Mitgefühl gibt, gibt es auch nicht Dharma oder Vergebung. Mitgefühl und Dharma (Pflicht) sind stark miteinander verbunden. Solange es Mitgefühl gibt, bleiben göttliche Tugenden wie Dharma, Wahrheit, Zufriedenheit, Vergebung und Geduld erhalten. Mit ihrem Verschwinden gehen auch sie und ihr Platz wird von den fünf Räubern eingenommen, nämlich: Lust, Ärger, Gier, Verhaftung und Stolz.

Tulsi Das sagt, dass Mitgefühl die Wurzel des Dharma und Stolz die Wurzel aller Sünden ist. Wir sollten daher das Mitgefühl bis zu unserem letzten Atemzug nicht aufgeben.

Mitgefühl ist die Wurzel des Dharma und Stolz die der Sünden, O Tulsi! Gib das Mitgefühl nicht auf, solange noch Atem im Körper ist.

Ein mitfühlender Mensch ist voll von liebevollem Mitgefühl und ist wie eine randvolle Tasse, die überläuft. In ihm gibt es keinen Gedanken an Gewalt. Solche Menschen sind gesegnet.

Guru Arjan sagt, dass das Verdienst, die Pilgerfahrt der achtundsechzig Orte durchzuführen, dadurch erlangt wird, dass man Lebewesen Mitgefühl entgegenbringt. Solche Reinheit und solches Verdienst kann nicht durch Wohltätigkeit und Pilgerreisen erlangt werden. Dieses Verdienst wird nicht von allen erlangt. Das Verdienst, welches aus Mitgefühl resultiert, ist Gnade. Dieser  Mensch ist gesegnet, und Mitgefühl wohnt in seinem Herzen.

Besser als die Pilgerfahrt der achtundsechzig heiligen Orte ist Mitgefühl. Derjenige, welcher es durch Seine Gnade erhält, ist in der Tat gesegnet.

Der mitfühlende Mensch hat eine Aura der Glückseligkeit um sich. Er hat eine glänzende Stirn, gütige und barmherzige Augen und einen mitfühlenden Blick. Er schenkt sein Herz den deprimierten und leidenden Menschen. Seine süßen Worte wirken wie heilende Schauer auf durstige und ausgedörrte Herzen. Er kann im wahrsten Sinne des Wortes als Mensch bezeichnet werden. Die Lebewesen werden glücklich, weil sie ihn sehen, und viele Sünden vergehen. Menschen ohne Mitgefühl haben zwar menschliche Formen, verdienen es aber nicht, Menschen genannt zu werden, da sie von tierischen Leidenschaften beherrscht werden. Eigensinn, Selbstsucht, Grausamkeit und Ungerechtigkeit sind ein Teil ihrer Natur und sie sind eine Ursache für Unruhe in der Welt. Ihre Zeitvertreibe und Vergnügungen werden zur Ursache von Elend für die Lebewesen. Solche üblen Menschen halten es für eine gewöhnliche Sache, eine beliebige Anzahl von Menschen für ihre egoistischen Zwecke bluten zu lassen. Sie sind sündige Menschen und giftiger als Schlangen. Man wird vergiftet, wenn man auf sie schaut – ganz zu schweigen davon, sie zu berühren. Eine Schlange beißt gelegentlich, aber solche grausamen, irreligiösen Menschen stechen durch ihre Worte, ihre gerunzelte Stirn und ihre Blicke die Menschen in ihrer Umgebung hunderte Male, was zur gewaltsamen Separierung der Menschen und zur Trennung der vereinten Herzen führt. Es ist besser, sich von ihnen fernzuhalten.

O Kabir, gib dich nicht mit den Üblen ab. Halte dich fern und laufe vor ihnen weg

Kabir Salok, 1371-9

Man sollte bei der Ausübung von Mitgefühl sehr vorsichtig sein. Manchmal wenden wir aus Unwissenheit Mitgefühl an, welches zur Härte wird. Kein Bauer sät die Saat ohne reife Überlegung in den Boden. Wenn er es anders macht, ist sie vergeudet. Das Gleiche gilt auch für die Nächstenliebe. Es ist notwendig, zwischen denen, welche es verdienen, und denen, welche es nicht verdienen zu unterscheiden. Die Ergebnisse dessen, wenn man anders vorgeht, sehen wir in Form von Sadhu Samaj (Gesellschaften von Asketen), Vereinen und heiligen Orten, die zu Orten der Irreligion, der Lust, des Zorns, der Maya und der Eifersucht geworden sind.

O Nanak, Ruhm sei dem Herrn. Möge alles in Seinem Willen gedeihen. Friede sei mit der ganzen Welt.

Ein mitfühlender Mensch opfert sein Interesse, um das Leiden anderer zu lindern. Wer sein Leben dem Herrn für Seinen Dienst und den Seiner Geschöpfe übergibt, verdient Ewiges, Wahres Leben, und wer versucht, sein eigenes Leben zu retten, verliert es.

Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.

Bibel

Lust, Zorn, Mayas Wein und Eifersucht haften an meinem Gemüt. Mitgefühl, Dharma und der Dienst des Meisters treten nicht einmal im Traum ein.

Kabir, Ramkali, 971-3

Bhagat Parmanand sagt, dass diese heuchlerischen Räuber sich die Bäuche vollschlagen, indem sie andere ausplündern. Jene Handlungen, die uns im Leben im Jenseits erniedrigen, werden von ihnen ausgeführt. Sie haben die Gewalt nicht aufgegeben. Sie haben kein Mitgefühl für Lebewesen. Sie genießen nicht die Gesellschaft der heiligen Männer und akzeptieren ihre alten Lehren nicht. Indem er das Haus anderer plündert oder sie niederreißt, füllt er seinen eigenen Bauch.

Er tut das, womit er sich im Jenseits einen schlechten Ruf verdient. Gewalt hat seinen Geist nicht verlassen und er hat kein Mitgefühl. O Parmanand, er findet keinen Gefallen an der Gesellschaft von Sants oder folgt Ihren Lehren.

Parmanand Sarang, 1253-7

Ein mitfühlender Mensch ist in seinem Herzen sehr darauf bedacht, anderen Gutes zu tun, und er wünscht allen Gutes im Rahmen des Willens des Herrn.

Die Einhaltung der Wahrheit, der Zufriedenheit und des Mitgefühls ist die Grundlage der Reinheit. Man sollte sich selbst auslöschen und zum Staub der Füße der anderen werden. Aber nicht jeder kann diesen Reichtum erlangen. Derjenige bekommt ihn, wer die Gnade des Transzendentalen Herrn genießt.

Wahrheit, Zufriedenheit und Mitgefühl sind die Grundlage der Reinheit. Gib (das) Ego auf und werde durch die Gnade des Transzendentalen Einen zum Staub der anderen.

Sri Rag M5, 51-10

Nur der kann dieses Mitgefühl verstehen, der alle Lebewesen als sein eigenes Selbst betrachtet. Diese Stufe kann man nur erreichen, indem man stirbt, während man lebt. Guru Nanak Sahib sagt, dass ein solcher Mensch Ehrungen an der Tür des Herrn erhält. Diese Stufe wird von einem, der lebendig stirbt, leicht erreicht.

Derjenige, der stirbt, während er lebt, empfängt Mitgefühl in sich und weiß alles. O Nanak! Alle Ehre für ihn. Er erkennt sich selbst in allen Wesen.

Sidh Gosit M1, 940-17

Wenn einer den Herrn als alles durchdringend sieht, die Sinne kontrolliert, der Melodie von Naam lauscht, Zufriedenheit übt und Mitgefühl für alle Lebewesen hat, dann sind seine Gelübde erfüllt.

Wenn einer am Tag von Ekadashi den Herrn in allen Richtungen sieht, wenn man die Sinne kontrolliert und dem Namen des Herrn lauscht, wenn er in seinem Gemüt zufrieden ist und Mitgefühl für alle Lebewesen aufbringt. Auf diese Weise sind dann seine Gelübde erfüllt.

Gauri M5, 299-3

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Fußnote: