Kirpal Singh

Die Suche nach der Wahrheit

I

Wir befassen uns weder mit Rassen und Religionen, noch mit irgendeiner sozialen Ordnung. Die vor uns liegende Aufgabe ist die Gottes oder des Gottmenschen, der Gott gefunden hat. Wir beten alle die Wahrheit an, die Eine ist und alles durchdringt.

Es mögen Myriaden Liebende sein, doch der Geliebte ist einer. Bekenntnisse und Glaubensansichten mögen verschieden sein, aber das Ziel ist eines.

Wir suchen alle Gott den Gott des ganzen Universums und den Gott der Gelehrten und Ungelehrten. Er hat nichts zu tun mit Hinduismus, Sikhismus, Islam oder Christentum. Er ist Einer und nur Einer, und wir beten Ihn an. Hingabe an den Meister ist eine unerlässliche Bedingung auf dem Weg gottwärts. Christus sagte:

Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben. So lange die Reben am Weinstock sind, werden sie weiter Frucht bringen.

Das bedeutet, dass die Gottsucher im Gottmenschen Wurzeln schlagen müssen. Ohne Hingabe an den Meister kann man nichts erreichen. Der Guru geht Gott voraus. Wir haben Gott nicht gesehen, noch können wir Ihn sehen. Er ist auf einer viel höheren Ebene als die, auf der wir sind. Er ist das Subtilste vom Subtilen und jenseits jeder Vorstellung. Solange wir uns nicht zu Seiner Ebene erheben und so subtil werden wie Er, können wir Ihn nicht sehen. Jeder hat seinen eigenen Gesichtskreis. Selbst die uns umgebende Atmosphäre ist voll winziger Lebewesen, die wir Mikroben nennen, aber wir können sie ohne Hilfe eines Mikroskops nicht sehen. Das Mikroskop verändert unser Sehvermögen und wir sehen die Mikroben vergrößert.

Die wichtigste Aufgabe des Menschen ist es, sich zur Ebene Gottes zu erheben. Im Gottmenschen ist Gott vollkommen offenbart. Wenn wir ein dem Guru Ergebener werden, erheben wir uns zur Ebene Gottes und beginnen, die Kraft und den Geist Gottes in Ihm zu sehen. Wir können uns Gott nicht vorstellen, noch Ihn geistig betrachten, da Er formlos ist. Im Guru nimmt Gott Gestalt an. Hingebung an den Meister ist somit Hingebung an Gott in Ihm. In der Tat ist der Meister nicht der Körper, sondern die in und durch diesen Körper wirkende Gotteskraft. Er ist der Menschliche Pol, durch den die Gotteskraft wirkt und das Werk der Erlösung vollbringt. Diese Kraft wird nicht geboren, noch stirbt Sie. Sie bleibt ewig die gleiche:

Gott kann nicht sprechen, es sei denn, Er nimmt menschliche Form an. Wie kann sich der Formlose ohne eine menschliche Form zum Ausdruck bringen.

So ist der Guru der Menschliche Pol Gottes und wirkt wie ein lebendiger Schalter mit der ganzen Energie des Ihn speisenden Kraftwerkes. Nur der Mensch kann der Lehrer des Menschen sein. Um Gott zu erkennen, muss man die Hilfe eines Göttlichen Lehrers suchen. Im Göttlichen Lehrer oder dem Guru wogt die Kraft Gottes in Fülle. Seine Augen sind die überfließenden Schalen der Gottheit. In seiner Gegenwart verliert man jeden Gedanken an sich selbst, an die diesseitige oder die jenseitige Welt. Von dieser Stufe an beginnt ‘Gurbhakti‘ (anbetungsvolle Hingabe an den Meister). Von nun an lebt der Schüler im und für den Meister. Als sich Paulus in das höhere Bewusstsein der Christuskraft erhob sagte er:

Ich lebe aber; doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir.

Khawaja Hafiz sagt auf Seine Weise dasselbe:

Mein ganzes Sein ist so durchdrungen von der Liebe Gottes, dass ich nun keinen Gedanken mehr an mich habe und mein altes Selbst vollkommen verschwunden ist. O Herr, nun bin ich Dein und Du bist mein; ich bin der Leib und Du bist wahrlich meine Seele.

An anderer Stelle sagte dieser SufiMystiker:

Seit ich mit meinem Geliebten verbunden bin, habe ich jedes Gefühl der Furcht verloren, einer, der tief in das Wasser des Lebens eingetaucht ist, kann keine Furcht vor dem Tod haben.

Als der Apostel eins war mit Christus, sagte Er:

Ich wandle nun furchtlos durch die Schatten des Todestales, denn Du bist bei mir.

Es ist eine Frage des Aufpfropfens,  der Überpflanzung eines Zweiges des einen Baumes auf einen anderen. Was geschieht? Die Frucht des zweiten Baumes nimmt, während sie ihr eigenes Aussehen und ihre Farbe behält, den Geschmack und das Aroma des ersten Baums an. Genau das geschieht, wenn die Meisterkraft oder der Lebensimpuls des Gurus auf den Schüler einwirkt. Während er zwar bleibt wie vorher, ist der Schüler nicht länger sein bisheriges Selbst, denn der Meister hat ihn durch ein Lösegeld losgekauft. Um eins zu sein mit Gott  ‘Fanafilallah‘  muss man erst eins sein mit dem Gottmenschen  ‘Fanafilsheikh‘. Dies ist der einfachste Weg, Gott zu erreichen. Es ist der Atman in uns, der den Param Atman erkennen muss. Ein Teil ist immer auf der Suche nach dem Ganzen. Wir sind so beschaffen, dass wir nicht ruhen können, bis wir Ruhe finden in Ihm. Die Flamme einer entzündeten Kerze wird sich, auch wenn sie nach unten gehalten wird, dennoch nach oben richten. Ein Klumpen Erde wird, wenn er nach oben geworfen wird, mit Sicherheit herunterfallen. Dies ist das Gesetz der Schwerkraft. Alles neigt dazu, sich seinem Ursprung zuzubewegen. Eine bewusste Wesenheit kann nicht anders, als das Meer allen Bewusstseins zu suchen. So ist die Suche nach Gott etwas Natürliches im Menschen. Warum? Weil wir auf der Suche nach Frieden und Glück sind. Aber unglücklicherweise geht unser Suchen in eine falsche Richtung. Wir bemühen uns, Glück in der Welt außerhalb von uns zu suchen. Und seltsam genug, wie klein die Freude auch sein mag, die wir aufgrund geistiger Konzentration erreichen, wir nennen sie Glück. Es ist jedoch falsch, Sinnesfreuden Glück zu nennen. Wenn die Wirklichkeit in uns aufdämmert, werden wir uns unseres Irrtums bewusst. Das Wahre Glück liegt in uns. Es ist aus der Liebe geboren, aus der Liebe zum Wahren Selbst in uns und der Liebe zum Überselbst, das ebenfalls in uns ist. Gott ist die Seele unserer Seele. Jede Seele ist vom gleichen Wesen wie Gott. Somit besteht eine angeborene Ähnlichkeit zwischen beiden. Aber durch das Fehlen von Wahrem Wissen und den Mangel an kompetenten Lehrern begreifen wir unsere wirkliche Lage nicht. Wie ein Schmetterling flattern wir von Blume zu Blume auf der Suche nach Honig, oder wie ein Moschustier irren wir von Ort zu Ort auf der Suche nach dem Moschus. Wir wissen nicht, dass der Honig und der Moschus genau im Zentrum unseres Seins in uns liegen. Ein Kind erfreut sich auf dem Spielplatz, während ein intellektueller Mensch sich an seinem Intellekt erfreut. Andererseits sucht ein junger Mann Freude in seiner Familie. So reist das Glück von einem Ort zum andern, aber es trotzt all unseren Versuchen, es zu erreichen. Wenn einer dessen müde wird, bemüht er sich, das Glück anderswo zu suchen. Dies ist der Anfang der Weisheit. Von außen wendet er sich nach Innen. Gott, der alle Herzen kennt, trifft Vorsorge für den Strebenden. Er führt den Wahrheitssucher zu Einem, Der die Wahrheit in sich Selbst verwirklicht hat und kompetent ist, uns zur Wahrheit zu führen. Wir haben einen Psalm von Guru Ram Das vor uns und wollen sehen, was er zu sagen hat:

Der Pfeil der Liebe Gottes hat mich getroffen.

Dies ist eine wunderschöne Art, seine Liebe zum Herrn zu beschreiben. Wenn diese Liebe einmal im Herzen ist, dringt sie mit der Zeit tiefer und tiefer ein. Sie ist völlig verschieden von der Liebe zu weltlichen Dingen. Guru Ram Das gibt uns in seinem Psalm eine Beschreibung seiner eigenen Neigung. Er hatte eine intensive Liebe zu Gott und sie wirkte sich wie eine Besessenheit aus. Er fährt fort zu erklären, was sie für ihn bedeutete:

Ich bin ruhelos vor Sehnsucht nach dem Anblick Gottes, so ruhelos wie ein Durstender der nach Wasser verlangt.

In diesem Vers versucht er, die Art des Verlangens in sich zu beschreiben. Der große Lehrer möchte Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Er vergleicht seinen Zustand mit dem eines Menschen, der aus Mangel an Wasser stirbt. Man kann sich gut vorstellen, was für ein schmerzhafter Zustand dies ist. Liebende schmachten und vergehen in ihrer Liebe nach dem Geliebten. Gott ist Liebe. Unsere Seele, die vom Wesen Gottes ist, ist ebenfalls gefärbt in der Farbe der Liebe. Für den Menschen ist es nur natürlich, die eine oder andere Sache zu lieben. Gegenwärtig lieben wir unseren Körper und die körperlichen Verbindungen  Familie und Kinder, Freunde und Verwandte, Wohlstand und Besitz. Aber all diese Dinge sind, wie ihr feststellen werdet, von unbeständiger Natur. Darüber hinaus ändern sie sich von einem Augenblick zum anderen. Und schließlich bleiben sie nicht immer bei uns. Entweder müssen wir sie im Laufe der Zeit verlassen, oder sie uns. Da dies der Fall ist, können wir keine beständige Freude von ihnen erhalten. Es ist nur eine flüchtige Angelegenheit. Guru Arjan sagt uns in diesem Zusammenhang:

Wir lieben alles, was sichtbar ist, o Herr, wie können wir Dich, den Ewigen lieben.

Dies ist jedoch nicht alles. Es ist auch eine Art Bindung. Wir werden im Moment vom Glanz und Zauber der weltlichen Dinge davongetragen. Wir sehen die Dinge nur oberflächlich. Wir erkennen nicht, dass sie nicht für eine längere Zeit bei uns bleiben. Die Freuden der Welt kommen und gehen wie die Bilder auf der Leinwand. Wie können wir mit vorüberziehenden Schatten glücklich sein? Wahres Glück ist ein Geisteszustand. Deshalb betonen die Heiligen:

Wenn du Wahres Glück suchst, nimm Zuflucht zu den Füßen des Herrn.

Die Kraft des Herrn durchdringt alles und verbreitet sich überall. Die Heiligen beten allein das Höchste Wesen an. Es gibt keinen Gott außer Gott. Sie sagen uns, dass wir den einen Gott anbeten sollen. Sie kommen in die Welt, um uns mit Gott zu verbinden. Ihre Mission ist nicht, persönliche Verbindungen mit Sich herzustellen. Sie sind die Heilsbringer oder Boten Gottes. Sie bringen uns Seine Botschaft. Sie leben im Willen Gottes und haben keinen eigenen Willen. Kabir betete immer:

Mein Wunsch ist belanglos, was immer ist, kommt von Dir.

Wir können die Schriften jedes Heiligen nehmen. In jeder finden wir die Lobpreisung des Herrn. Sie haben nichts aus sich selbst zu sagen. Christus sprach von sich und sagte:

Ich kann nichts von mir selber tun, sondern ich tue des Vaters Willen, der mich gesandt hat.

Heilige haben kein Gefühl der Ichheit in sich. Der große Lehrer hat eine große Pein in seinem Herzen. Derjenige, der den Schuh trägt, weiß, wo er drückt. Die Gottsucher sind immer in einem Zustand der Kreuzigung. Warum? Man muss sich über das Kreuz des Körpers erheben, dem Schnittpunkt zwischen der physischen und der astralen Welt im Menschen (dem Augenbrennpunkt):

Der Geliebte lebt weit oben, wie können wir Ihn erreichen?

Es ist eine Frage des inneren Kampfes zwischen dem Gemüt und der Seele. Die Seele wünscht sehnlichst, die Überseele (Gott) zu erreichen. Die Seele schmachtet in der Liebe zum Herrn. Man möchte entweder zu Gott emporsteigen, oder, dass Gott zu einem herunterkommt. Es gibt keine dritte Möglichkeit. Man möchte die Wirklichkeit von Angesicht zu Angesicht sehen und ganz in Ihm aufgehen. Das ist das Wesen der Liebe. Amir Khusro, ein Mystiker-Dichter, sagte:

O Gott, komm zu mir und wohne in den Pupillen meiner Augen. Lass Dich mich sehen und mich nicht sehen. Lass unser Liebesspiel zwischen uns allein sein.

Kabir sagte gleicherweise:

Komme Du in die Kammer meiner Augen und ruhe dort für eine Weile, ich würde Dich mit meinen Liedern verbergen und versuchen, Dich für mich zu gewinnen.

So sprechen Liebende. Sie fließen über vor Liebe (zum Herrn). Dies ist der Weg, um mit Gott eins zu sein. Spiritualität kann nicht gelehrt werden, aber von einem, der sie in sich hat, wie eine Infektion aufgefangen werden. Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig. Es ist genau, wie man Milch mit ein wenig Quark säuern kann. In der Gesellschaft eines solchen Menschen beginnen wir, etwas von Seiner Farbe anzunehmen. Man fühlt mit Sicherheit eine gewisse Veränderung in sich. Die Ausstrahlung eines solchen Menschen wird uns auf jeden Fall bis zu einem gewissen Ausmaß beeinflussen.

Der Weg zu Gott liegt in der Liebe. Liebe ist das Bindeglied zwischen der Seele und der Überseele. Alle religiösen Praktiken und Rituale, die wir verfolgen, sind Hilfsmittel, um die Flamme der Liebe in uns zu entzünden. Aber unglücklicherweise führen wir sie als eine Routinesache auf der physischen Ebene durch, wie Gymnastik; und so bringen sie keine Innere Wandlung zustande und sind von keinem großen Nutzen für uns. Daher ist gesagt:

Man mag hundert Jahre lang religiöse Praktiken und Bußübungen durchführen und dennoch weit von Gott entfernt sein; man kann Gott nicht gewinnen, ohne die Flamme der Liebe in sich zu entzünden.         

Wir müssen das Feuer der Liebe in uns entfachen. Ohne Liebe können wir Gott nicht erreichen, denn Er ist Liebe. Im Feuer der Liebe überlebt nichts als der Geliebte. Im Koran heißt es:

Liebe ist ein Waldbrand, der alles verzehrt außer den Gegenstand der Liebe.

Wiederum wird Liebe auch mit einem spähenden Adler verglichen, vor dem alle kleinen Vögel davonfliegen, um sich zu retten. Wer hält dieser furchtbaren Feuerprobe stand? Niemand außer dem, der das Feuer entzündet hat. Guru Gobind Singh, der zehnte Guru in der Nachfolge Guru Nanaks, sagte richtig:

Hört alle aufmerksam zu  wahrlich, ich sage euch, es ist durch die Liebe, dass man Gott erreicht.

Guru Ram Das fühlt sich nun, nachdem er das Feuer der Liebe für den Herrn in sich entwickelt hat, ruhelos wie ein Dürstender nach Wasser. Er fährt darum fort zu erklären:

Gott allein kennt den Zustand meines Herzens und die große Qual in mir.

Bitte versteht, dass es nur der Geliebte sein kann, der die quälende Pein im Herzen des Liebenden verstehen kann. Gott kennt alle Herzen und Er weiß am besten, wer sich nach Ihm verzehrt. Nur jemand, der diesen Zustand durchgemacht hat, kann sich vorstellen, was er bedeutet. Ich möchte euch von meinem Gemütszustand im Jahr 1911 und 1912 erzählen. In jenen Tagen hatte ich ein großes inneres Drängen nach Gott. Es mochte teilweise von meinen vergangenen Karmas und teilweise von der gegenwärtigen Entwicklung abhängen. Während ich im Büro saß, flossen ungewollt Tränen aus meinen Augen und befleckten die vor mir liegenden Schriftstücke. Ich fragte mich, was das sein konnte. Damals hatte ich gerade den Befehl zur Versetzung erhalten und meine Kollegen und die Familienangehörigen dachten, dass ich mir diese Versetzung zu Herzen genommen hätte. Wie konnten sie meinen wirklichen Gemütszustand kennen?

Das Mysterium des Lebens ist das größte Mysterium im Leben. Wenn diese Frage einmal auftaucht, kann man sie nicht mehr ignorieren, auch wenn man es noch so sehr versuchte. Sie kommt immer wieder hoch und erscheint auf verschiedenartigste Weise. Ich hatte einmal Gelegenheit, bei einer Sterbenden zu sitzen. Dieses Erlebnis hatte eine tief greifende Wirkung auf mich. Mit der Reinheit des Lebens hatte ich auch die Fähigkeit entwickelt, in die Zukunft zu sehen. All das fiel mir auf natürliche Weise zu. Aber bei alledem konnte ich das Rätsel des Lebens nicht lösen. Der Anblick der Sterbenden vor meinen Augen ließ mein Herz schneller schlagen. Ich konnte fühlen, dass da etwas war, das aus diesem Menschen entwich. Aber ich konnte nicht herausfinden, was es war. Ich wusste noch nichts vom Lebensimpuls. Während er in mir noch wogte, ebbte er in dem anderen Menschen ab. Die Frau auf dem Totenbett rief ihre Freunde und Verwandten zu sich, um sie noch einmal zu sehen, bevor sie sie für immer verließ; und im Augenblick danach schloss sie die Augen, um sie nie mehr zu öffnen. So ging sie vor meinen Augen hinüber und ich war verwirrt. Ich war bestürzt, den toten Körper vor mir zu sehen. Das Leben in ihr war gegangen. Aber ich fühlte, dass es in mir noch weiterwirkte. Ich folgte der Bahre mit den anderen zur Verbrennungsstätte. Auf dem Wege schauten meine Augen forschend zur Totenbahre, konnten aber nichts entdecken. Sogar die Gelehrten und Weisen wissen nicht, wie dieses Mysterium zu lösen ist. Als wir am Verbrennungsplatz ankamen, sah ich den Leichnam eines alten Mannes, der auf den Scheiterhaufen gelegt wurde. Neben diesem errichteten wir einen neuen Scheiterhaufen für den Körper der jungen Frau, den wir auf unseren Schultern getragen hatten. Der Kontrast zwischen den beiden Szenen  dem jungen und dem alten Menschen  vertiefte die Qual in meinem Herzen. Weder der eine, noch der andere konnte den Fängen des Todes entrinnen. Beide lagen sie leblos vor mir. Ich wollte wissen, was das Leben ist. Ich versuchte, die Antwort auf mein Problem in den Büchern zu finden. Ich pflegte Nächte hindurch zu lesen. Aber die Bücher verhalfen mir zu keiner Lösung. Alles, was ich ihnen entnehmen konnte, waren hier und dort verschleierte Hinweise. An einigen Stellen fand ich lange Erklärungen der Aussprüche der ‘Mahatmas‘, die in diesen Büchern aufgezeichnet waren und einem rieten, dieses oder jenes zu tun. In den Büchern stand sogar, dass es eine Frage des Todes im Leben sei. Aber wie das vor sich ging, war die Frage. Dafür gab es keine Antwort in den Büchern. Buchwissen kann nicht geben, was man durch praktische Erfahrung bekommen kann. Es ist eine Frage der Selbstanalyse. Ein Wahrer Meister kann einem eine Erfahrung vom Ausweg geben. Ich konnte das große Mysterium in seinem praktischen Aspekt erst verstehen, als ich zu den Lotosfüßen meines Meisters, Hazur Baba Sawan Singh Ji Maharaj, kam. So bahnen sich alle Dinge ihren Weg und formen sich, wenn ein intensives Verlangen da ist. Ich allein wusste, warum ich in jenen Tagen Tränen vergoss. Wie hätten andere davon wissen können?

In der Welt sehen wir die Menschen nach dem einen oder anderen weinen und klagen. All diese Tränen sind um Dinge der Welt. Sehr wenige weinen um die andere Welt (das Leben danach). Ein Wahrer Gottsucher ist immer im Zustand akuter Ruhelosigkeit und das ist immer ein glückliches Vorzeichen. Die dichten und drückenden Wolken sind die Vorboten des Regens. Die Obstbäume bringen erst Knospen und Blüten hervor, bevor sie die eigentliche Frucht tragen. So war der Gemütszustand von Guru Ram Das. In einem Zustand wie diesem sagt man unweigerlich: ‘O Herr! Ein Augenblick der Trennung von Dir wird zur lebenslangen Agonie.‘ Eine Nacht der Trennung ist eine furchtbare Hölle. Der Weltkluge weint nach der Welt, aber ein Ergebener weint nach dem Herrn:

Durch Tränen erreicht man Gott; wenn man Ihn bequem erreichen könnte, wer würde dann Trauer anlegen?

Es ist notwendig, den tief im Herzen liegenden Gefühlen Luft zu machen. Durch eine reiche Tränenflut können wir die aus Zeitaltern stammenden Eindrücke, die in das Gemüt eingegraben sind, wegwaschen. Maulana Rumi sagt uns, dass eine Pilgerfahrt zur Kaaba nur auf dem Seeweg möglich ist und nicht zu Lande. So kann Gott nur über Tränen erreicht werden, die über unsere Wangen hinab fließen. Dies ist folglich der Zustand von Guru Ram Das. Die Welt weiß nicht, was das ist, aber Gott weiß es sehr gut.

Wer mir von meinem Geliebten Herrn erzählt, ist mein nächster Verwandter.

In diesen denkwürdigen Worten hat der Guru ein schönes Bild seiner inneren Gefühle gegeben. Sind wir nicht immer begierig, etwas über einen zu hören, der uns nah und lieb ist? Gott ist der Liebste der Lieben und der Nächste der Nahen. Wir suchen alle Gott und sind begierig, etwas über Ihn zu hören. Wo ist Er? Wie kann man Ihn finden? Wie kann Er mit uns versöhnt werden? Und zuletzt, wie kann Er für uns gewonnen werden? Gott ist das einzige Ziel unseres Wünschens und für ihn sollten wir bereit sein, alles zu opfern, einschließlich unseres Selbst. In der Liebe dehnt man sich aus und glaubt, dass man der reichste Mensch auf der Welt ist und in der Lage, um Seinetwillen alles aufzugeben  sowohl sich selbst als auch seine Welt. Wir sind so begierig, von Ihm und seinen Erzählungen zu hören, dass uns jeder, der von Ihm spricht, teuer wird. Es kann ein uns völlig fremder Mensch sein, und dennoch beginnen wir, ihn zu lieben wegen der Botschaften von Gott, die er uns bringt. Guru Arjan sagt desgleichen:

Wer auch immer mich zu meinem geliebten Gott bringt, dem verkaufe ich mich glücklich als Sklaven.

Warum sollte jemand lebenslang eines anderen Sklave sein?

Weil ich so begierig bin, meinen Geliebten von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

 Dies ist dann der Gemütszustand eines Menschen, der in seiner Liebe zum Herrn verschmachtet. In solch einem Zustand ist uns jeder, aber auch jeder willkommen, der uns Liebesgeschichten erzählen kann. Der Geschichtenerzähler mag irgendwer auf der Welt sein. Wir interessieren uns nicht für seinen Stand oder seinen Glauben oder die soziale Ordnung, zu der er gehört. Wir sind alle Zecher in der Göttlichen Taverne. Wir alle lieben Göttliche Berauschung. Wenn eine Anzahl Trinker zusammensitzt und sich freuen kann, warum können es die Ergebenen Gottes nicht? Das bedeutet, dass wir die Liebe zu Gott noch nicht entwickelt haben. Wenn die Gotteskraft in uns allen wohnt, warum haben wir dann keine Liebe untereinander? Der erste Schritt in der Spiritualität ist, dieses fundamentale Prinzip zu erkennen. Einer, der dieses Grundprinzip verstanden hat, nimmt eine andere Farbe an:

Seit ich in die Herde eines Gottmenschen gekommen bin, habe ich jedes Gefühl der Zweiheit verloren und keiner ist mir fremd; ich bin nun allen ein Freund und jeder liebt mich.

Dies ist nun die auffallende Änderung, die einer in sich spürt, wenn er beginnt, sich mit einem Heiligen zu verbinden. Er beginnt, die Welt zu lieben, weil er die Kraft Gottes in jedem sieht, ohne Unterscheidung auf Grund von Religion, Stand oder Glaubensbekenntnis. Das ist die erste Lektion, die man vom Satguru bekommt.

Der Satguru ist bekannt für seine alles umfangende Liebe, in Seiner Gemeinschaft sitzen alle zusammen und bilden eine Heilige Familie.

Aus diesem Grund betrachtet Guru Ram Das jedermann als echten Freund und nahen Verwandten. Auf der anderen Seite sind wir alle ichbezogen und haben noch nicht erkannt, dass wir alle Brüder und Schwestern in Gott sind. Alle Verbindungen dieser Welt bleiben in der Welt zurück, wenn die Seele sie verlässt. Der Guru aber verknüpft uns in einer Art von Bruderschaft, die immer währt. Wie? Er stellt ein gemeinsames Ziel vor uns auf  das Ideal der Gotterkenntnis. Wenn das Endziel das Gleiche ist, müssen wir den gemeinsamen Pfad beschreiten, der zum Ziel führt. Letzten Endes werden wir uns alle in Gott treffen. Einmal fragte ich meinen Meister, wie denn am Ende alle Schüler sich treffen würden, wenn jeder seine eigene Zeitspanne und sein eigenes Maß des Fortschritts auf dem Spirituellen Pfad habe? Hazur antwortete:

Wir müssen alle den Strom des Lebens überqueren. Einige mögen mit dem ersten Boot übersetzen, andere mit dem nächsten. Der Landehafen ist letztlich der gleiche für alle. Wir werden uns alle in diesem Hafen treffen.

Deshalb ist gesagt:

Der Guru sucht die Seinen und vereint sie in der Wahren Verwandtschaft, die ewiglich die gleiche bleibt.

Das ist die Art von Verwandtschaft, in der wir durch den Meister vereint werden. Die Menschen der Welt kommen und gehen in ihrem eigenen Rhythmus und sind bald vergessen. Aber die gottesfürchtigen Menschen bleiben für immer bei uns, sowohl hier als auch im Jenseits. Sie sprechen mit uns über Dinge, die uns teuer sind. Sie sind in der Tat unsere wirklichen Begleiter. Die Vögel gleichen Gefieders fliegen zusammen. Ein Ergebener des Herrn freut sich, über den Herrn zu hören. Wir achten alle religiösen Führer, ganz gleich welcher sozialen Ordnung sie angehören, oder wo sie auch immer sein mögen. Die Unterschiede bestehen nur auf der körperlichen Ebene. Die Seele ist die Wirklichkeit und hat keinen Stand, keine Farbe oder Konfession. Von der Ebene der Seele her sind wir alle gleich. Hier liegt die Einheit in der Vielfalt. Wir haben es vergessen. Ein erwachter Mensch weist uns auf diese Tatsache eindringlich hin. Er macht sie uns bewusst. Wenn wir den Körper überschreiten, dehnt sich unser Bewusstsein aus und kommt der Allbewusstheit näher. Auf diese Weise werden wir uns der Absicht und des Planes Gottes bewusst. Dann erkennen wir, dass wir die Kinder eines Gottes sind und dass wir alle wie Brüder und Schwestern in Gott zusammenleben müssen:

Lasst uns alle miteinander verbunden sein wie befreundete Mädchen und des Herrn Lobpreis singen, nachdem wir uns die Lektionen eines Gottmenschen in der Gottesliebe zu Herzen genommen haben.

In der östlichen Terminologie wird Gott allein als der Bräutigam betrachtet, während alle von Ihm ausgehenden Seelen als Bräute oder Jungfrauen gelten. Jene, die sich mit dem Herrn vereinen, treten in einen ewig währenden Ehestand ein und sind für immer glücklich. Die irdischen Verbindungen sind kurzlebig  vielleicht 10, 50 oder selbst 1000 Jahre. Guru Ram Das rät uns deshalb, wir sollten lernen, als Freunde in Gott zusammenzusitzen und uns an nichts anderem zu erfreuen, als an Gespräch über Gott. Wir können Loblieder auf den Herrn erst singen, nachdem ein Satguru uns einen Inneren Kontakt mit der Gotteskraft gegeben hat. Ohne diese echte Erfahrung tun wir dies, nachdem wir von Gott nur in den Schriften gelesen oder über ihn von anderen gehört haben. Dieses Singen ist zweitrangiger Natur. Aber wenn wir lobsingen, nachdem wir die Wirklichkeit gesehen und die Göttliche Berauschung gekostet haben, wird unser Singen von transzendenter Art sein. Welch ein weltweiter Unterschied zwischen den beiden. Die Lieder mögen die gleichen sein, aber die Sänger sind anders.

Die Ergebenen des Herrn bleiben in Verbindung mit dem Herrn. Sie sehen Ihn von Angesicht zu Angesicht. Sie leben in einem Zustand dauernder Berauschung. Wenn sie von Gott singen, tun sie das auf eine für sie ganz besondere Weise. Ihnen ist ein charakteristischer Rhythmus und Klang eigen. Ihre Lieder fließen ganz von selbst aus der Tiefe ihres Herzens und berühren jene tief, die sie hören. Wir können diese Empfindung und diesen Zauber nicht von den Liedern jener erhalten, die keine praktische Erfahrung von Gott haben. Mit einer Erfahrung der Gotteskraft im Gottmenschen können wir nicht anders, als unwillkürlich von Ihm zu singen. Der Satguru ist die Quelle der Kraft und des Geistes Gottes. Er gibt uns eine Kostprobe dieses Elixiers. In Seiner Gemeinschaft wird unser Intellekt still, und wir fangen an, uns über ihn zu erheben. Ohne diese wesentliche Erfahrung sind unsere Lieder, wie süß und melodisch sie auch sind, nur zweitklassig. Warum? Weil unser Intellekt unablässig fortfährt, an dieses oder jenes zu denken. Diese ständige Vibration im mentalen Bereich stellt eine große Hürde auf unserem Weg dar. Wir mögen mit den besten Vorsätzen und reinsten Motiven beginnen, aber wir können den Intellekt nicht am Arbeiten hindern. In der Tiefe unseres Gemüts sind unterschwellige Strömungen ständig in Bewegung. Im Laufe der Zeit verdirbt sogar eine gute Gewohnheit sich selbst. Alle Gedanken, ob gut oder böse, fördern die Ausdehnung unseres Gemüts. Da dies der Fall ist, kommt es niemals zur Ruhe. Ohne das Gemüt zu beruhigen, können wir nicht Vorwärtskommen. Nur wenn das Gemüt im Gleichgewicht ist, kann die Seele vorwärtsschreiten und ihren Weg nach oben finden. Es ist eine Frage der Zielbewusstheit. Wenn wir in einer frohen Gesellschaft beisammensitzen, denken wir an die Liebe Gottes und die Liebe des Gottmenschen und sprechen davon. Dies hilft uns, unsere verstreuten Gedanken zu sammeln. Deshalb ist gesagt:

Sitzt zusammen als Glieder einer Familie. Vergesst alle Unterschiede und richtet eure Aufmerksamkeit gottwärts.

Es liegt ein großer Segen in solch einem Zusammensitzen. Der Herr hat gesagt: ‘Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.‘ Außerdem versuchen wir, wenn wir zusammensitzen, den Standpunkt des anderen zu verstehen. Wenn wir die richtige Haltung gelernt haben, werden wir den Ansichten anderer gegenüber tolerant. Und mehr noch, wir entgehen dem Übel der Zweideutigkeit. Wenn gleichgesinnte Menschen zusammenkommen, wollen sie natürlich über nichts als über das sie gemeinsam Interessierende sprechen  Gott und ihre Liebe zu Gott. Dies führt dann zur Verfolgung des einen (gemeinsamen) Zieles. So sind wir vor eitlem Geschwätz und vor ungebührendem Loben oder Herabsetzen anderer bewahrt. Daher ist gesagt:

Wenn die ganze Schöpfung die Offenbarung des Heiligen Lichts ist, sind die offenbarten Wesen im Kern ihres Seins nichts als heilig, ganz gleich, was ihre Taten sind.

Der Unterschied zwischen Mensch und Mensch besteht nur an der Oberfläche. Nichts ist gut  oder schlecht, nur das Denken macht es dazu. Der eine mag reich, der andere arm sein. Einer mag gut erscheinen oder schlecht, doch wir können über ihn kein Urteil fällen. Jeder hat die Kraft Gottes in sich. Auf der Körperebene sind wir alle gleich, denn alle Menschen sind innerlich wie äußerlich nach dem gleichen Muster geschaffen. Wir werden auf die gleiche Weise geboren und mit gleichen Vorrechten von Gott ausgestattet. Gott schuf den Menschen  eine bewusste Wesenheit  nach Seinem eigenen Bilde. Der Mensch ist ein Teil der Allbewusstheit. Durch Erfahrung kommen wir zu dieser Schlussfolgerung, sei es nach dem Durchleben der Sturm und Drangzeit in diesem Leben oder in früheren Inkarnationen. Der Mensch entwickelt sich beständig. Er mag heute oder morgen oder zu irgendeinem entfernten Zeitpunkt lernen. Wir sind alle auf dem Weg. Das wirkliche Glück liegt woanders. Es kommt nur in der Vereinigung mit dem Ganzen. Darum rät uns Guru Ram Das, in der Liebe zum Herrn zusammenzusitzen. Denn das würde uns einen klaren Blick verleihen und wir würden auf festem Boden stehen. Außer diesen gibt es kein anderes Mittel auf der Sinnesebene.

O Gott, gewähre Nanak seinen Herzenswunsch: Bring ihn von Angesicht zu Angesicht mit der Wirklichkeit, so dass er Ewigen Frieden haben möge.

Mit diesem Gebet kommen wir zum Abschluss dieses schönen Psalms. Dies ist die höchste Art eines Gebotes, das ein erwachter Mensch ausdrücken kann.