Mystische Dichtung

von Dr. Vinod Sena

Die Aufgabe wahrer Kunst besteht darin, die Seele des Menschen in Einklang zu bringen mit dem unermesslichen Weltall, das ihn umgibt und in welchem er einen methodischen Ablauf ahnt, eine harmonische Ordnung, eine Harmonie, die einem Gesetz, einem Willen gehorcht, der unendlich weit über ihm steht, endlos Sorge für ihn trägt, für den abermillionsten und doch empfindenden Teil eines Staubkorns.

Große Denker haben alle diese Ordnung erkannt. In der Tat müssen sie es, denn sie bedingt ihr Denken und ihre Sprache. Wenn das Universum ein Chaos wäre, das einer Gesetzlosigkeit gleichkommt, dann wäre jeder zusammenhängende Gedanke unmöglich, und wir wären nicht besser, sondern schlechter daran als ein Blinder, der in einer Menschenmenge herumgestoßen wird.

Dichter und Philosophen, die Poesie in ihrer Seele haben, versuchen ihre Ansichten durch viele Gleichnisse, wohlabgestimmt auf diese große, harmonische und universale Bewegung, zu übermitteln.

Bei Plato gibt es eine Geschichte von Er, dem Pamphylier, dessen Verwandte nach zehn Tagen seinen toten Körper auf dem Schlachtfeld suchten und ihn ohne die Spur einer Zersetzung fanden, und wie er am zwölften Tag, auf den Scheiterhaufen gesetzt, wieder lebendig wurde und ihnen erzählte, wo er in der anderen Welt gewesen sei und was er gesehen habe; vor allem von der großen Spindel auf den Knien der Schicksalsgöttin, die bis zum Himmel reicht, und sich in acht Windungen in abgestufter Geschwindigkeit bewegt; und am Rande einer jeden sitzt eine Sirene, die sich mitdreht und die einen einzelnen Ton singt. Die acht Töne zusammen formen alsdann eine Harmonie.

Hört, was Milton sagt:

Dann lauschte ich der Harmonie der himmlischen Sirenen. Sie sitzen auf den neun verhüllten Sphären und singen jenen mit den Lebensscheren und drehn die demantene Spindel, herum gewickelt ist darauf, der Götter und Menschen Schicksalslauf. Es liegt so süßer Zwang in der Musik; der Schicksalsgöttin Töchter lullt er ein und zieht die schwankende Natur in ihren Bann; in gemessenem Lauf zog die niedere Welt dahin nach der himmlischen Melodie.

Dieses Gleichnis stellt eine Wahrheit dar, eine der beiden wichtigsten Wahrheiten auf der Welt, nämlich dass das Universum kein Chaos, sondern Harmonie ist.

Die andere und einzig gleichwertige Wahrheit auf der Welt ist nun, dass dieser Makrokosmos des Universums mit seiner Harmonie keinesfalls begriffen werden kann, außer er ist auf das Auge, den Verstand und die Seele des Menschen eingestellt, den Mikrokosmos. Alle philosophischen Systeme laufen unvermeidlich darauf hinaus, dass die universale Harmonie für den Menschen bedeutungslos und nichts ist, außer, soweit er sie begreifen kann, und dass er sie nur begreifen kann, wenn er sie auf eine entsprechende Harmonie in sich selbst bezieht. Er ist nur das abermillionste Atom eines Fleckens. Trotzdem ist es empfindend, reflektierend und da es reflektiert, zieht es das ganze in seinen winzigen Kreis und hält es zusammen, unwahrnehmbar; was wären wir anders als tote Dinge?

Umhergeworfen in der Erde täglichem Lauf. Mit Felsen und Steinen und Bäumen.

Wahrnehmbar nur durch die Gnade der Empfindung sind wir Erben von alledem und Könige. Um Traherne, einen der Dichter anzuführen, mit denen ich mich befassen will:

Schwerlich erträumt hat sich das Kind, dass alle Schätze der Welt so nahe sind, dass somit es selbst das Beste sei und die Krone von allem ringsumher, doch wars nur so allein, da war das Diadem, der Edelstein, der auf diesen Erdball jedes Ding umschließend, allumfassend Ring, das himmlische Auge viel weiter als das Firmament, worin sie alle eingeschlossen sind. Die glorreiche Seele, obwohl sie König war geschaffen, sie zu besitzen, erschien als kleines, unscheinbares Ding.

Hier ein anderer, Henry Vaughan:

Ich sah die Ewigkeit, vergangne Nacht, gleich einem großen Ring aus reinem endlosem Licht ganz ruhig, in aller Helle; und unten, rund um ihn, bewegte sich in Stunden, Tagen, Jahren durch die Sphären gelenkt gleich einem gewaltigen Schatten die Zeit.

In diesem Schatten sieht er Menschen aller Arten und jeden Standes, den Liebhaber, den ‘finsteren Staatsmann‘, den ‘ängstlichen Geizhals‘, den ‘verfeinerten Genussmenschen‘,  die ihren besonderen Trugbildern nachjagen:

Doch einige, die allezeit weinten und sangen und sangen und weinten, schwangen sich auf in den Ring; doch die meisten brauchten keine Schwingen. O Toren, sagte ich, so die dunkle Nacht dem Wahren Lichte vorzuziehen, in Grotten und Höhlen zu leben und den Tag zu hassen, weil er den Weg zeigt, den Weg, der aus dieser toten und dunklen Stätte hinaufführt zu Gott. Ein Weg, wo du die Sonne betreten kannst und du lichter bist als sie! Aber als ihre Torheit ich so besprach, flüsterte einer, ‘Diesen Ring besorgte der Bräutigam nur für seine Braut.‘

So haben wir zwei Ringe, den unermesslichen, harmonischen Ring des Weltalls, der sich über und um uns dreht, und den winzigen wahrnehmenden Ring, der mit der Pupille deines oder meines Auges und mit einem Gehirn verbunden ist, das winzig klein und doch unendlich fähig ist. Aber es gibt noch etwas zu sagen, eine Sache von erster Bedeutung, die diese kleine Menschenseele betrifft. Sie strebt und sehnt sich instinktiv nach einer größeren Harmonie, und sei es nur dafür, ihr noch vollkommenere Ergebenheit zu bezeigen; und sie strebt und sehnt sich durch die Gleichheit nach der Einheit und Sohnschaft. Der Mensch ist folglich ein Teil des Universums und empfindet in sich eine Harmonie, die der größeren Harmonie, die er sucht, entspricht.

Traherne schreibt:

Du erfreust dich der Welt nie so recht, bis das Meer selbst in deinen Adern fließt, bis du in den Himmel eingehüllt und mit den Sternen gekrönt bist.

Gleicherweise lesen wir in Brownings ‘Johannes Agricola‘:

Da oben ist der Himmel, und Nacht für Nacht schaue ich durch sein prächtiges Dach. Nicht Sonnen, noch Monde halten mich auf, da mir der Glanz bekannt; ich halte mich fern dem Schwarm der Sterne, denn ich will zu Gott gelangen. Es ist zu Gott, wohin ich so schnell eile, denn in Gottes Brust, meiner wahren Wohnstatt, wenn jene Schwärme glänzender Pracht vorüber, lege ich zuletzt meinen Geist nieder.

Die Frage ist nur, ‘Wie wird es gemacht?‘ Es geht nicht mittels der Philosophie. Der Streit zwischen der Philosophie und Poesie ist allgemein bekannt und tief verwurzelt. Die Herabwürdigung der Poesie durch die Philosophie ist ebenso töricht wie sie andererseits ernstlich erkennbar ist. Denn die Philosophie versucht, Gottes Absicht in dem einen oder anderen System zu begreifen. Gott, sagt Heine, schuf den Menschen nach Seinem Bilde, und der Mensch beeilte sich, das Kompliment zurückzugeben.

Der Dichter ist bescheidener, er strebt nicht an, zu begreifen, sondern zu erfassen, in den einen oder anderen Punkt des großen, sich drehenden Kreises blitzartig einzudringen. Die Dichter sind aus zarterem geistigem Stoff als ihre Gefährten, und ihr Geist hat auserlesene Fäden aufzufangen, verstreute Botschaften zu ergreifen und zu leiten zwischen dem äußeren Mysterium des Weltalls und dem inneren der individuellen Seele.

Doch man mag fragen:

Wie geht dieses Erfassen vor sich? Welches ist der Vorgang?

Es gibt eine Dreiheit im Menschen: Das, was tut, das, was weiß, und das, was ist. Der Weg zum Spirituellen Verständnis liegt in dem, was ist. So wie alle Dinge sich gegenseitig anziehen, zieht Geist den Geist an. Nur dadurch, dass wir so werden wie sie, sind wir sie; erfassen wir die Spirituelle Wahrheit in ihnen. Das Himmelreich ist in uns; wenn auch als ein verlorenes Gebiet. Mag sein, aber wir wissen heute, wie sich ein verlorenes Gebiet seines elterlichen Staates erinnern wird, und was für einen schweren Weg die Eltern gehen werden, um das wiederzufinden, was verloren ist. Hierin liegt der zentrale Grundsatz der Mystiken. Der Mensch, das Universum und Gott sind von Natur aus eins. Die Einheit (wenn wir sie finden) läuft durch alle Verschiedenheiten und harmonisiert sie. Deshalb müssen wir, um irgendetwas von Gott zu erfahren, in dem Ausmaß so sein wie Gott; darum ist auch die beste Weise, sich an einem Feind zu rächen (denkt in den heutigen Tagen daran), nicht so zu sein, wie er es ist.

Aber man fragt immer noch: Welches ist der Vorgang? Sicherlich ist das im Gesagten inbegriffen. Der Mensch hat in sich, ich will nicht sagen ein ‘erhabenes Selbst‘,  aber eine Seele, die innen auf eine Botschaft lauscht, die sie so gern hört, dass sie sich manchmal auf Zehenspitzen zur Schwelle hin erheben muss:

Botschaft kam aus fremdem Land, als ob dort all mein Reichtum läge und mein Schatz. Sie hat so sehr mein Herz entbrannt, ins Ohr zog es die Seele zum gewohnten Platz, sie ging dahin, die Süße zu empfangen und stand auf der Schwelle, um am unbekannten Guten sich zu laben. Sie schwankte dort, als wollt aus meinem Ohr sie fort. Begierig war sie, aufzunehmen, die Freudenbotschaft wie sie kam; den Wohnort hätt sie fast verlassen, um sich daran zu erfreun.

Aber die Botschaften kommen von außen und zu ihrer Zeit, und oft in völlig überraschender Weise. Man muss die Stunde erwarten und auf die Einladung vertrauen; keiner von beiden kann man befehlen. Dichter lesen das Wort nicht, indem sie sich kräftig bemühen und lernen, wie es die Philosophen tun, noch ringen sie mit Gott. Sie warten, bereiten sich vor und sagen: Es geschehe mir nach Deinem Wort. Sie warten in einer weisen Passivität.

Nicht wählen kann das Aug‘, nur sehen; wer kann dem Ohr befehlen still zu sein; der Körper fühlt, wo wir auch stehn, ob wir es wollen oder nicht. Kräfte gibts, glaub ich, solcherart, die regen das Gemüt von selber an, dass man bei weisem Warten das Gemüt dadurch nähren kann. Denkst du, aus dieser Mächtigkeit von nimmer sprechenden Dingen, wär selbst zu kommen nichts bereit, wir müssten darum ringen?

Und wieder erzählt uns derselbe Wordsworth in seinem ‘Untern Abbey‘ von der heiteren und gesegneten Stimmung, worin:

... des Atems dieser Körperform, selbst der Bewegung unseres Menschenbluts beinahe überhoben, körperlich im Schlaf versinken und lebendige Seele werden: Da wir mit einem Aug‘, das von der Macht des Einklangs und der Freude tief gestillt, ins Sein der Dinge schauen.

Der Weg der Dichter ist somit nicht der des Strebens und der ein Geschrei zu machen. Es genügt ihnen, zu warten, als Gefäß des vorüberziehenden göttlichen Odems. Der Dichter kommt mit einem Sprung nur durch Warten und Vertrauen zu den Wahrheiten, zu denen die Philosophen schwer beladen und mit Krampfadern auf der Heroesstraße der Logik nie gelangen können.

Es bleiben noch zwei Dinge über den Mystizismus zu sagen.

Das Erste ist, dass alle Mystiker, wie auch immer ihr Ausblick oder ihre Einsicht war, merkwürdig dankbare und noch merkwürdiger glückliche Menschen waren. Sie haben, wenn nicht die Zufriedenheit selbst, so doch den Weg zur Zufriedenheit und eine Verankerung für die Seele gefunden. Sie besitzen sie in der Geduld. Sie sind die Reinen im Herzen und gesegnet, weil sie Gott sehen, oder zu sehen glauben.

Das Zweite ist, dass jedem Mystiker der Geist der Einheit und Gleichheit in allen Dingen eigen ist und er dazu neigt, sich mit Symbolen zu befassen.

Ein Wort muss noch über einen Grundsatz des mystischen Glaubens gesagt werden, der natürlich von den beiden Prinzipien ausströmt. Wenn das Universum eine geordnete Harmonie, und die Seele des Menschen eine winzig kleine Harmonie ist, die nach ihr vibriert, sich nach ihr sehnt und mit ihr eins zu sein verlangt; wenn sie wiederum durch die Erinnerung sich selbst erkennt, wie sie einst mit ihm (mit dem Universum vereint) vereint gewesen ist, wenn auch jetzt auf Erden abgeirrt, eine verlorene Provinz des Gottesreichs, warum ist es dann, dass der König selbst leidenschaftlich danach sucht, wiederzufinden und wiederherzustellen, was verloren war? Die Idee eines Christus, der sich die Füße endlos über steinigen Plätzen wund läuft, unersättlich in der Suche nach dem verlorenen Menschen, seinem Bruder oder der verlorenen Seele, seiner ersehnten Braut, verfolgt die ganze mystische Dichtkunst. Sie verfolgt Quarles, aber bei ihm ist es mehr der Schrei der Seele, der Braut, die den Bräutigam sucht: So wie ich meinem Geliebten gehöre, so gehört Er mir. Das ist der Refrain von Quarles und seine ständige Bemerkung.

Warum überschattest du dein liebliches Gesicht? O warum verweigert deine verfinsternde Hand des die Sonne belebenden Auges Licht? Welch Licht bleibt ohne das Deine in mir? Du bist mein Leben, mein Weg, mein Licht ist in Dir; ich lebe, ich bewege mich, und durch Deine Strahlen sehe ich. Du bist mein Leben, wendest du Dich ab, durchleb‘ ich tausend Tode. Du bist mein Weg – ohne Dich, mein Geliebter, wandre ich nicht, sondern irre umher. Du bist mein Licht, ohne Deinen erhabenen Anblick sind meine Augen durch ewige Nacht verdunkelt. Mein Geliebter, Du bist mein Weg, mein Leben, mein Licht. Du bist mein Weg, ich gehe irre, wenn Du entfliehst. Du bist mein Licht; wie blind bin ich, wenn es verborgen  ist. Du bist mein Leben; wenn Du dich zurückziehst, sterbe ich. Meine Augen sind trüb und blind; ich kann nicht sehen, zu wem oder wohin sollte meine Finsternis fliehn, außer zu diesem Licht? Und was ist dieses Licht anderes als Du? Wenn ich meinen Weg verloren habe, Geliebter, sage, soll ich dann weiter umherirren auf zweifelhafte Weise? Geliebter, soll sich ein Lamm aus Israels Schafherde verlaufen? Und doch wendest Du Dein Antlitz ab und fliehst mich. Und dennoch bitte ich um Gnade und Du verweigerst sie mir? Sprich, bist Du verärgert, Geliebter, oder prüfst Du mich nur? Löse Deine Strahlen auf, schließe Deine Schwingen und bleib stehn! Sieh, sieh, nun bin ich blind, tot und verirrt! O Du bist doch mein Leben und mein Licht, mein Weg! Geschehe nun Dein Wille! Wenn Leidenschaft mich fliehen heißt, wird mein Verstand gehorchen, meine Schwingen werden nicht weiter ausgebreitet sein, als von mir zu Dir!