Der Pfad, den alle gehen müssen

von Dr. George Arnsby Jones

Kein Buch, noch irgendein Artikel einer Zeitschrift (dieser hier eingeschlossen) kann den Menschen aus seiner Knechtschaft des Gemüts und der Materie befreien. Wenn es einen Maßstab der Wahrheit hinter den Worten eines Buches oder Aufsatzes gibt, kann der einzelne Sucher darüber nachsinnen und dann versuchen, die Wirklichkeit, die durch die Worte widergespiegelt wird, zu begreifen. Aber bei der endgültigen Analyse muss der Wahrheitsstrebende einen anderen Menschen finden, Welcher das Spirituelle Ziel der Gottheit erreicht hat, und der den Suchenden zum letzten Ziel als ein verlässlicher Wegweiser und Spiritueller Lehrer führen kann. Metaphysische Kurse und Bücher können den Sucher nicht in die Lage versetzen, praktische Erfahrung von den höheren Spirituellen Ebenen zu erlangen, selbst wenn er die Zeit hätte, für den Rest dieses planetarischen Zyklus zu studieren. Solche Lehren befassen sich hauptsächlich mit der Formenwelt des Lebens; aber der Ewige Aspekt des Lebens ist spirituell und übersteigt alle kausalen, mentalen und physischen Formen.

Das Beruhigen der wandernden Gemütsströme ist eine der ersten Forderungen in der Wissenschaft des Surat-Shabd Yoga. Das durchschnittliche menschliche Gemüt gleicht einem verwickelten Wollknäuel, hoffnungslos verwirrt und sich immer mehr verknotend. Die Wollfäden drehen sich herüber und hinüber in den ständig wechselnden Strömungen der verstandes- und gefühlsmäßigen Umgebung des Menschen. Um diese zügellose, wandernde Natur des Gemüts zu überwinden, gibt der Adept der Mystik, der Satguru, dem Strebenden den Simran der ursprünglichen Namen Gottes, und dieser führt zu einer Beruhigung des Gemüts und zu einem Zurückziehen der Seelenströme zum Inneren Brennpunkt. Hat der Strebende einmal diese Technik gemeistert, so entdeckt er, dass sein Wahres Selbst die Seele ist – und nicht die Gesamtheit des Gemüts, der nach außen gehenden Kräfte und des physischen Körpers, die den äußeren Organismus des menschlichen Wesens in sich fasst. Er ist Augenzeuge der Entwirrung des verwickelten Wollknäuels des Gemüts und zieht in sich selbst die geordnete Linie eines mentalen Prozesses, unter der völligen Kontrolle des Atman oder der Spirituellen Seele.

Von seinem neuen, überlegenen Standpunkt aus kann er das verwickelte Gewebe der Gedanken beobachten, das unablässige Geschnatter von Billionen sich kreuzender Wellenlängen, welches das Innere Leben der Mehrzahl der Menschen beinhaltet. Er wird der Zeit- und Raumlosigkeit der Inneren Wirklichkeit gewahr, und begreift dann, was die großen Mystiker der Vergangenheit meinten, wenn sie die „illusorische Natur der Form“ erwähnten.

Wenn er einmal der höheren Ebenen des Seins gewahr geworden ist, verliert der Strebende alles Gefühl von Furcht oder Versagen in Bezug auf sein äußeres Leben. Durch die Gnade seines Satguru enthüllt sich von selbst sein Schicksal vor Ihm, und er hat den großen Ausblick auf den leuchtenden Bereich des Lebens, welcher sich nach vorn und oben hin ausbreitet. Die Wahre Identität des Satguru, Den er bisher als großen und edlen Lehrer in der physischen Welt kennengelernt hatte, wird dem Strebenden offenbar, und er beugt sich tief vor der Strahlenden Majestät dessen, Der wahrhaftig die Verkörperung des Höchsten Einen ist.

Die religiöse und mystische Literatur bezieht sich auf den Pfad, den alle gehen müssen. Das befreite menschliche Wesen entdeckt, dass der Satguru der Pfad, und das Lebendige Shabd oder Naam der Pfad ist, und dass er selbst der Pfad ist – denn der Pfad war schon immer in ihm. Das Himmelreich Gottes ist in euch. Er merkt, dass die hypnotischen Bilder der äußeren Welt von seiner Inneren Vorstellung entfernt wurden, und während einer gewissen Zeit vergisst er täglich die drückenden Bedürfnisse seiner Umgebung und vergräbt sich in das Innere Reich der Wirklichkeit. Er weiß, dass dies der Spirituelle Schatz ist, der ihm die Fülle des Lebens geben wird. Um den galiläischen Meister erneut zu zitieren:

Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und Seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.

Es gibt so viele strebende Sucher, die mit dem Schlüssel des Himmelsreiches versehen worden sind und die doch nichts dafür getan haben. Sie werden die Beute gefühlsmäßiger Verwirrungen und Enttäuschungen, einfach deshalb, weil sie nicht den ersten Schritt hin zur Spirituellen Befreiung gehen wollen. Sie beklagen die materielle Welt, aber sie weinen und jammern in einer Orgie des Selbstmitleides. Sie antworten noch auf jene Trägheit, die in der Grundnatur des Menschen das Leben in seinem Urzustand reflektiert. Solch ein Instinkt liegt niemals weit unter der gefühlsmäßigen und mentalen Wahrnehmung des Menschen und hält ihn in der Gefangenschaft des gegenwärtigen Status quo, ganz gleich, wie sehr er die Befreiung aus solcher Gefangenschaft erstreben mag. Durch die Technik des Surat-Shabd Yoga wird der Einzelne in das ungeheure Meer des Lebensstromes während der Meditation eingetaucht, und dieses Tonprinzip zieht die Seele des Strebenden aus dieser Macht der Trägheit hinaus. Während solcher Meditationen wird der einzelne sich seiner selbst als ein abgesonderter, souveräner Atman bewusst und erfährt sich doch gleichzeitig als eine Einheit mit dem gesamten Kosmos.

Während des Übens von Simran hat der Strebende eine bequeme Haltung einzunehmen, und dann seine Innere Aufmerksamkeit auf den Brennpunkt zwischen den Augenbrauen, das Tisra Til oder Dritte Auge, zu konzentrieren.

Simran ist ein geistiger Prozess und schließt ein Aussprechen von Worten oder Sätzen mit der Zunge nicht ein. Der Strebende wiederholt also die geladenen Worte im Geist, während er seine innere Aufmerksamkeit auf den Brennpunkt des Dritten Auges gerichtet hält. Die geladenen Worte, vom Satguru zur Zeit der Initiation gegeben, werden langsam wiederholt, ohne dass dies eine Spannung oder einen Druck auf der Stirn verursacht. Der Strebende widmet dieser Praxis gewöhnlich eine halbe Stunde am Tag, anfänglich, wenn er diesen Pfad beginnt, aber dehnt diese Zeit später eventuell bis zu zwei oder drei oder noch mehr Stunden am Tag aus. Die Praxis des Simran führt also zu einer Beruhigung des Gemüts und bringt es so zu einem Zustand des Gleichgewichts.

Wenn der Simran eine gewisse Zeit genau ausgeführt wird, bringt er die Erfahrung eines Zustandes der Inneren Ruhe und Erleuchtung. Die Seele wird bewusst von ihrer körperlichen Knechtschaft befreit und wird unwiderstehlich durch den hörbaren Lebensstrom unter der Kontrolle des Satguru nach oben gezogen. Wird die Seele solcherart von der physischen Ebene fortgezogen, so sammelt sie sich an ihrem eigenen Bewusstseinsbrennpunkt; der Strebende erfährt Innere Erleuchtung und aufeinanderfolgende Ebenen des Bewusstseins entfalten sich von selbst. Wenn die Seele diese ersten Ebenen der Inneren Reiche überschreitet und die subtile Ebene erreicht, erscheint die Strahlende Form des Adepten der Mystik und führt die Seele aufwärts von Ebene zu Ebene. Wenn die Seele dem Adepten der Mystik im Innern begegnet, ist die Arbeit von Simran vollendet und der Spirituelle Fortschritt wird vollständig in die Hände des Satguru übergeben, bis hinauf in die höheren Bereiche.

Der Gebrauch des Simran zum bewussten Überschreiten der physischen Ebene durch die Seele hat eine zweifache Wirkung. Erstens rottet der Simran der geladenen Worte alle nach außen gerichteten Gedanken aus und ermöglicht es dem Bewusstsein, sich auf das Denken an Gott zu konzentrieren, und zweitens gibt der Simran der Seele die Möglichkeit, sich über das Körperbewusstsein zu erheben und so Zugang zu den höheren Seinsebenen zu erlangen. Um voll wirksam sein zu können, muss die Praxis des Simran beständig und ununterbrochen ausgeführt werden. Beständiges Denken an den Höchsten Einen wird erlangt durch die unverdrossene Praxis von Simran und dies ist wahrlich eine Leben spendende Kraft für den Spirituell Strebenden.

Nanak rief Gott an:

Wenn ich an Dich denke, lebe ich. Vergesse ich Dich, so bedeutet das den Tod für mich.

Simran, das Denken an Gott durch die geladenen Worte, ist die einzige natürliche Methode Innerer Verwirklichung und die am leichtesten zu übende, denn Junge und Alte können gleicherweise teilnehmen an der Technik des Surat-Shabd-Yoga. Simran bringt den Strebenden in bewussten Kontakt mit dem Inneren hörbaren Lebensstrom.

Das Bewusstsein des Menschen geht in die Richtung, die das Gemüt ihm weist. Die Menschen werden nicht durch die Vernunft gelenkt, wie es allgemein angenommen wird, sondern durch ihre Einbildungskraft. Jedes Gefühl, Verlangen oder jede Absicht schafft ein Bild in einem Teil des Gemüts, welches uns für gewöhnlich nicht bewusst ist. Jede Einzelheit dieses Bildes steht da in lebendigen Farben, in einer vitalen ausdrucksvollen Form, so vollendet ausgeführt wie ein Gemälde von El Greco oder Rembrandt. Wir werden dessen gewahr in Augenblicken großer Anstrengung, großer Freude oder Furcht. Eine alte Frau, die nachts eine wacklige Treppe hinuntergeht, ist sehr besorgt, sie könnte hinabfallen. Diese Angst erzeugt eine tätige Vorstellung des Fallens; und eines Tages fällt sie! Das Gemüt wirkt aus der Einbildung des Menschen heraus in die äußere Welt hinein, und es ist unwillig, seine gewohnte Tätigkeit umzukehren. Durch Simran kann der Strebende das Gemüt umkehren, indem er seine Energien an einem Punkt konzentriert, und auf diese Art wird das Bewusstsein von der physischen Ebene befreit.

Der strebende Mensch muss aus der Alptraumexistenz erwachen, in welcher er sich befindet. Er muss sich selbst von den explosiven gefühlsmäßigen Energien, die durch das Gemüt gestärkt werden, befreien. Menschliche Gier oder Eifersucht erzeugt Bilder des Todes und der Zerstörung, die sich dann in Folterung, Krieg, Mord und Wahnsinn austoben. Menschliche Furcht erzeugt Bilder, die sowohl den Handelnden als auch das Opfer lähmen, und sie eventuell vernichten. Liebe erzeugt Bilder, die befreien, verwandeln und erlösen. Und in einem Bild der Liebe muss der Strebende sich von Neuem aufbauen. Simran muss mit Liebe und Ergebenheit ausgeführt werden, denn die endgültige Natur des Universums ist nichts als Liebe!1

Die Musik des Himmlischen Wortes vibriert in allen menschlichen Wesen gleicherweise, und der Strebende auf dem Pfad der Surat-Shabd Yoga benötigt keine besondere physische oder intellektuelle Schulung, denn er ist für einfache wie gelehrte Menschen gleicherweise geeignet. Tatsächlich machen unverbildete Menschen und Kinder, auf Grund ihres verhältnismäßig unkomplizierten Bewusstseins und Glaubens, oft schnellere Fortschritte auf dem Pfad, als ihre spitzfindigen Brüder, obgleich dann der schließliche Fortschritt eine feste Beharrlichkeit und Anstrengung erfordert, die bei jungen Menschen nicht immer zu finden sein mag. Das Eheleben ist kein Hindernis für die Durchführung dieser Spirituellen Wissenschaft und es gibt keine strengen Übungen, die befolgt werden müssen. Jedoch, Adepten der Mystik sind selten, und selbst wenn diese Spirituellen Lehrer gefunden wurden, sind nur relativ wenige der nachfolgenden Aspiranten darauf vorbereitet, sich selbst dieser einfachen Art von Disziplin zu unterziehen, die diese königliche Wissenschaft fordert. Der Geist mag nach Befreiung rufen, aber das Fleisch ist schwach, und Gemüt und Materie rufen die Schwankenden zurück in den Kreislauf von Leid und Freud.

(aus: Sat Sandesh, September 1970, Seite 40)

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Fußnote: 1) Soami Ji Shiv Dayal Singh, der Große Adept der Mystik und Sant Satguru des 19. Jahrhunderts, beschrieb einst Seinen Schülern die Inneren Reiche. Als Er auf die Höchste Region zu sprechen kam, sagte Er einfach: Sie ist nichts als Liebe!