Kirpal Singh

Der Blüte folgt die Frucht

Spürst du ein Verlangen nach der Wahrheit, ergib dich Ihr mit jedem Atemzug. Löse dich von den Bindungen an die Welt, indem du die Augen des Herzens abwendest. Komme zum Wahren Sinn des ‚Roza‘ (Moslem-Festtag1) und lass alle äußeren Praktiken; verrichte das Wahre Gebet und erfreue dich am Brot der Liebe zur Zufriedenheit deines Herzens.

Versteht ihr die Bedeutung dieser Hymne? Wie man für äußerliche Gebete erst die Hände und Füße waschen soll, so sollt ihr euer Gemüt reinwaschen von den weltlichen Bindungen, wenn ihr euch setzt, um euch an Gott zu erinnern – erst dann kann das Wahre Gebet verrichtet werden. Wenn ihr das Wahre Gebet ausüben könnt, welches ist dann wohl besser, das Äußere oder das Innere? Vergleicht diese beiden Arten einmal.

Es heißt, wenn man Innerlich Erfolg hat, dann sollte man dem mehr Zeit widmen. Aber wir neigen dazu, äußeren Dingen mehr Zeit einzuräumen. Einst begegnete ich einem gelehrten Pandit (Gelehrter der Religionswissenschaften). Er hatte eine Innere Verbindung bekommen. Danach las er täglich drei Stunden in den vedischen Mantras und nur eine halbe Stunde widmete er der Meditation. Wenn ihr nun das bekommen habt, was in den vedischen Mantras gesagt ist, würdet ihr dann weiterhin mehr Zeit für das Lesen der heiligen Bücher einsetzen oder lieber das praktizieren, was ihr aus diesen Büchern gelernt habt? Man sollte beide Möglichkeiten sorgfältig vergleichen und sich dann entscheiden, wofür man mehr Zeit verwenden sollte. Hat man jedoch keinen Inneren Kontakt bekommen, sollte man nicht die hingebungsvollen Übungen aufgeben, da man sonst alles verlieren wird.

Was ist der Sinn der verschiedenen Bräuche? Man entzündet eine Lampe und läutet eine Glocke im Tempel. Welchen Übungen sollte einer mehr Zeit widmen, der auf diese äußerliche Weise anbetet, obwohl ihm die Inneren Übungen das Göttliche Licht offenbaren? Natürlich den Inneren Übungen! Äußere Übungen mögen aufhören, aber man braucht sich nicht zu sorgen, solange der Innere Kontakt besteht. Aber wie verhalten wir uns, nachdem uns diese Gabe zuteil wurde? Wir fahren fort mit den äußeren Übungen und verwenden keine Zeit auf die Inneren Praktiken – es ist ein Jammer. Alles Äußere war dazu bestimmt, uns zur Inneren Wahrheit zu führen.

Diese Situation erinnert mich an die Geschichte eines Mannes, der zu einem Priester ging, um etwas Parshad – gesegnete Speise – zu bekommen. Er nahm den Parshad in die Hand und versteckte ihn hinter seinem Rücken. Dann streckte er die andere Hand aus, um noch mehr zu bekommen. Der Priester gab ihm nichts mehr. Ein Hund kam und fraß, was der Mann hinter seinem Rücken versteckt hielt. Was wir also bereits hatten, nutzten wir nicht, und was uns neu geschenkt wird, lassen wir unbeachtet. So stehen wir dann mit leeren Händen da. Die äußerlichen Übungen bilden den Anfang. Macht den besten Gebrauch davon. Erkennt ihr dann Zweck und Ziel, die ihnen zugrunde liegen, sollt ihr den Inneren Praktiken mehr Zeit widmen. Sehr oft verwenden wir drei oder vier Stunden für äußere Dinge und nur fünf oder zehn Minuten für die Innere Praxis. Die Hymne hat folgende Bedeutung: Bekommt ein Mensch den Wahren Inneren Kontakt, dann ist es belanglos, ob er die äußeren Gebete und Bräuche einhält. Tatsächlich, wenn jemand sich am Wahren Inneren Gebet erfreut, wird er die äußeren Übungen vergessen.

Zähle die Nächte der Trennung (vom Herrn) durch jede Rosenkranzperle. Wirf alle äußeren Gebete weg und singe nur den Gesang der Wahrheit.

Einige Leute fahren fort, den Rosenkranz zu beten, vielleicht hundert oder zweihundert Mal. Es ist schon richtig, sich an Gott zu erinnern – aber wenn die Aufmerksamkeit zurückgezogen ist und man die Innere Wahrheit berührt, wie soll man dann an den Rosenkranz denken? Die Aufmerksamkeit oder die Seele hat sich von außen vollkommen zurückgezogen. Versteht die Worte der Hymne und ihre Bedeutung nicht falsch – ihr könnt selber vergleichen. Ihr solltet nach Innen gehen. Falls nun jemand keine Inneren Übungen ausführt und auch gleichzeitig die äußeren aufgibt, was dann? Man sollte wenigstens etwas tun!

Nimm keine Bäder in den heiligen Flüssen Ganges, Jumna oder Pushkar2, sondern tauche ständig im Ozean der Liebe unter.

Man unternimmt eine Pilgerreise, um einen Heiligen aufzusuchen und verbringt an Seiner Seite die Zeit in liebevoller Erinnerung an Gott. Von der Erinnerung an Ihn überwältigt und davon berauscht, kommt man in die Lage, die so beschrieben werden kann:

Kein Wort kommt von Seinem Munde, aber Seine Tränen zeugen von dem Vorgang in Seinem Herzen.

Es gibt eine berühmte Romanze von der Prinzessin Laila und Majnu. Diese Geschichte zeigt deutlich die Kraft des liebevollen Gedenkens. Eines Tages machte Laila sich auf den Weg, um Majnu zu treffen. Auf dem Weg saß ein Moslempriester, der sein ‚Namaz‘ – Gebet – ausübte. Diese Priester breiten eine Matte vor sich aus in der Meinung, dass sie von der Welt abgeschlossen sind und dass niemand zwischen ihnen und Gott ist; in dieser Haltung beten sie. Laila, berauscht von dem Gedanken an ihren geliebten Majnu, trat auf die Gebetsmatte, als sie vorbeikam. Kazi Sahib, der Priester, verlor seine Beherrschung und begann, die Prinzessin zu verfluchen, aber sie hörte ihn nicht. Als der Priester sich nach seinem Wutausbruch beruhigt hatte, merkte er, dass er eine Prinzessin verflucht hatte und fürchtete, der König würde ihn enthaupten lassen. So wartete er auf ihre Rückkehr. Als sie sich ihm näherte, ging er ihr entgegen und sagte:

Bitte vergebt mir, ich beging einen schweren Fehler. 

Sie fragte, was er getan habe, und er antwortete:

Ihr seid über meine Gebetsmatte gegangen und ich habe Euch verflucht. 

Prinzessin Laila öffnete ihre Augen weit vor Verwunderung und fragte:

Wessen hast du gedacht, als du auf der Matte saßest? Ich, die nur eines Sterblichen gedachte, sah weder dich noch deine Gebetsmatte – welcher Art war dein Gebet?

Versteht ihr das? Wenn ihr die Wahrheit gefunden habt, dann wird alles Äußere bedeutungslos. Reift die Frucht am Baum, fallen die Blüten von selbst herunter. Ein Baum trägt Blüten, aus ihnen werden Früchte, die dann reifen. Unsere Blüten – nämlich die äußeren Praktiken – werden von selbst wegfallen, wenn aus ihnen die Frucht erwächst. So hat alles seinen eigenen Wert.

Werde nicht der Ergebene eines Idols – es steckt nichts dahinter. Ziehe dein Herz zurück von den Idolen und bete die Wahrheit in dir an.

Wie gesagt, es gibt Bilder von verschiedenen Göttern, aber wenn Er Selber in euch erscheint, dann ist das weitaus besser als jegliches Bild. Die Anbetung von Göttern ist der erste Schritt. Dieser Schritt wird unternommen, um in uns die Liebe zu Gott zu erwecken, aber wenn ihr meine Meinung hören wollt – wie kann ein Mensch irgendjemanden lieben, den er nie gesehen hat und dem er nie begegnet ist?

O Wesen, verschwende nicht soviel Zeit mit der Verschönerung deines Körpers; versuche, deinen Körper zu vergessen, welcher aus Staub gemacht ist; strenge dich an, zum Lebenselixier zu gelangen. Löse dich vom weltlichen Rausch und rauche nur das Wahre ‚Soolfa‘ (eine Art Haschisch). Mit jedem Atemzug nimm Liebe in dich auf. Lässt der Rausch nach, so trinke wieder und wieder. Werde vom Göttlichen so berauscht, dass die Lust am Weltlichen vergeht.

Der äußere Rausch wird von selbst aufhören, sobald man die Wahre Berauschung Innen erfährt. Vergeht der Innere Rausch, dann trinkt mehr. Doch wo? Nur in der Gegenwart eines von Gott berauschten Menschen kann man selber den Göttlichen Rausch erleben. Wenn er nachlässt, sollten wir von neuem trinken. Das heißt, wir sollten ihn wieder und wieder aufsuchen, um die Rauschwirkung durch seine Gegenwart zu erneuern. Wenn wir solches anstreben, wird unser Rausch eines Tages von Dauer sein. Die Wirkung der äußeren Rauschmittel vergeht, aber täglicher Kontakt mit der Inneren Trunkenheit lässt diesen Zustand wachsen, bis wir selbst zu dieser Trunkenheit geworden sind.

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Fußnote: 1) Fastentag der Moslem; Anm. d. Redaktion 2011. 2) In der Hindureligion gibt es verschiedene heilige Flüsse, in denen die Leute Bäder nehmen. Sie hoffen, dadurch Erlösung zu erlangen.