Kirpal Singh

Das Königreich Gottes

I

Wann immer wir religiöse Bücher lesen oder irgendein Thema studieren, gibt es eine bestimmte Terminologie, die dem jeweiligen Gebiet eigen ist. In Gesetzbüchern zum Beispiel haben verschiedene Ausdrücke eine fachkundige Bedeutung oder Konnotation. Wenn wir mit der Definition der verwendeten Ausdrücke vertraut sind, sind wir in der Lage, das Gesetz richtig zu verstehen, und wir werden es anwenden können. Wenn ein Laie den Text desselben Gesetzes liest, wird er nicht in der Lage sein, die eigentliche Bedeutung des Gesetzes zu verstehen, oder es anzuwenden.

Uns liegen Schriften vor, Heilige Schriften. Darin finden wir eine bestimmte fachkundige Terminologie. Solange wir mit dieser nicht vertraut sind, sind wir nicht in der Lage, den wahren Gehalt der Schriften zu verstehen. In den Schriften werden bestimmte Wörter gebraucht, wie zum Beispiel das Königreich Gottes, das in euch ist. Es kommt das Licht Gottes vor.

Wenn dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib Licht sein;

Dies sind Redewendungen, die der deutschsprachigen Bibel eigen sind.

Aufgrund des speziellen Gebrauchs von Wörtern wie diesen, können Personen, die nicht mit ihnen vertraut sind, die Schriften nicht korrekt verstehen. Sie interpretieren sie lediglich vom intellektuellen Level aus; und viele Formulierungen wie Licht in euch oder Gott ist Licht werden von den intellektuellen Menschen interpretiert, als sei das Licht der Vernunft gemeint. Aber die Schriften sagen uns:

Wenn dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib Licht sein.

Worin besteht der Unterschied?

Immer wenn die Meister kamen, legten Sie die Wahrheit in einer sehr einfachen Weise dar, so dass auch die einfachen Menschen sie verstehen konnten. Aber leider haben Menschen ohne praktische Innere Erfahrung sie auf eine Art interpretiert, die es anderen schwer macht, sie zu verstehen. Wenn wir die Schriften selbst zur Hand nehmen und sie lesen, werden wir finden, dass ihre Sprache immer sehr einfach ist. Aber die Aufgabe wird schwierig, wenn wir sie angesichts der Kontroversen betrachten, die von verschiedenen intellektuellen Interpreten hervorgerufen wurden, die kein Wissen von der praktischen Seite der Dinge haben. Indem sie von der intellektuellen Ebene ausgehen, verkomplizieren sie die Dinge. Jene, die die widersprüchlichen Kommentare zu den Schriften lesen, werden verwirrt und bleiben spirituell unbelohnt.

So, die Sache würde leichter werden, wenn ihr die Schriften direkt selbst lest. Ich denke, der beste Weg, eine Schrift zu verstehen, ist immer, sie in der Originalsprache zu lesen, in der sie geschrieben wurde. Wenn ihr die Sprache versteht, werdet ihr die Schrift wahrscheinlich besser verstehen können, als wenn ihr lest, wie ein anderer sie in die Sprache übersetzt hat, die ihr kennt. Ein einziger Fehler in der Interpretation kann sehr viel von der Essenz verändern.

Der größte Teil unserer Schriften wurde in einer anderen Sprache als der geschrieben, in welcher wir sie heute lesen. Als ich auf der Suche nach der Wahrheit war, wollte ich die persische Literatur von Maulana Rumi, Shamas-i-Tabrez und anderen Heiligen des Mittleren Ostens lesen. Ich las die Kommentare sehr renommierter Interpreten, und jeder vermittelte eine andere Version derselben Sache. Ein Kommentator neigt dazu, den Standpunkt wiederzugeben, an dem er festhält, nicht das, was die Schriften – die tatsächlichen Texte der Schriften – vermitteln. Und so unterliegen die Personen, welche auf solche Kommentare angewiesen sind, der Tatsache, in die Irre geführt zu werden. Aus diesem Grund musste ich die persische Sprache gründlich studieren, um in der Lage zu sein, jene Schriften in ihrer Originalfassung lesen zu können. Und ich stellte fest, dass sie sich von dem unterschieden, was die Kommentatoren sagten.

Die Bibel war ursprünglich in Hebräisch geschrieben. Später wurde sie in verschiedene Sprachen übersetzt. Die Übersetzer fanden hier und dort etwas, das sie nicht richtig erklären konnten; und so laufen jene, die nur diese Übersetzungen lesen, Gefahr, sich zu verirren.

Ich hatte Gelegenheit, intellektuell sehr weit fortgeschrittene Personen zu treffen, welche die Führer von Tausenden von Menschen waren. Wenn ich sie über etwas aus den Schriften fragte, nur um der Interpretation willen, schwiegen sie oder gaben ihre eigene kuriose Interpretation auf einem intellektuellen Level. Ihre Vorstellung von Gott, der Seele und den Schriften entsprach der Ebene ihres Intellekts und ihrer Interessen.

Wo immer ich spreche, frage ich die Oberhäupter der verschiedenen Gemeinschaften immer, was sie unter biblischen Zitaten wie Gott ist Licht und Ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes usw. verstehen. Aber weil sie nicht nach Innen gegangen sind, interpretieren sie das Licht Gottes als das Licht der Vernunft und des Verstandes.

Neulich begegnete ich dem Oberhaupt einer großen Religionsgemeinschaft und fragte ihn nach dem Sinn von Worten wie: Wenn dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib Licht sein; und Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; das Reich Gottes ist inwendig in euch. – ‚Nun, besagt das irgendetwas?‘ Es kam keine Antwort auf diese Frage.

Der Punkt ist, dass in den Heiligen Schriften Wahrheiten enthalten sind. Leider können wir sie nicht korrekt interpretieren, wenn wir nicht mit dem vertraut sind, was Innen liegt.

Ich hielt eine Reihe von Ansprachen in der Kirche von Louisville. Der zuständige Geistliche war sehr aufgeschlossen und gab zu, dass obwohl das, was ich sagte, aus der Bibel und anderen Schriften stammte, er kein praktisches Wissen von den darin erwähnten Wahrheiten habe.

Was ich euch sage, ist nichts Neues. Es steht alles in den Schriften. Ich hatte lediglich das gute Schicksal, zu den Füßen eines Meisters in Indien zu sitzen, Der ein in der Praxis erfahrener und Vollkommener Heiliger war. Zu Seinen Füßen lernte ich nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis – die Wahrheit selbst zu sehen.

Wenn ihr die Dinge mit eigenen Augen seht, seid ihr voll überzeugt. Was kann man für gewöhnlich beobachten? Wir halten Gott für etwas im Bereich der Gefühle oder für etwas Emotionales oder ansonsten für eine Sache von Schlussfolgerungen, zu denen man durch intellektuelles Ringen gelangt. All dies unterliegt der Täuschung. Die Schriften sagen uns jedoch, dass wir Augen haben, zu sehen, und doch nicht sehen.

Selig sind eure Augen, dass sie sehen […] Viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, was ihr seht, und haben’s nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben’s nicht gehört.

So sagen unsere Schriften.

Aber was haben sie gesehen, und was haben sie gehört? Das ist der Punkt. Die Schriften sagen uns, Gott ist Licht. Sie sahen das Licht Gottes. Aber wo und wie?

Gott schuf den Menschen Ihm zum Bilde, und der Mensch schuf Stätten der Verehrung nach dem Bild des Menschen. Kirchen haben die Form der Nase. Alle Tempel anderer Religionsgemeinschaften sind kuppelförmig wie der Kopf, und die Stätten zur Verehrung in mohammedanischen Moscheen haben die Form der Stirn. All diese sind nach dem Bild des Menschen geschaffen. Was bewahren wir in ihnen? Erstens das Symbol des Lichts und zweitens das Symbol des Tonprinzips. Dies ist nur, um die Wahrheitssucher darauf hinweisen, dass sie in diesem Tempel des Körpers, den sie tragen, das Licht Gottes finden werden. Dieses Licht könnt ihr sehen, wenn euer Inneres Auge geöffnet ist. Ihr werdet auch die liebliche Symphonie der Musik der Sphären hören, wie Plato Sie nennt, welche durch die ganze Schöpfung hindurch widerhallt.

Der physische Körper ist somit der Wahre Tempel Gottes und nach diesem Vorbild des Menschen wurden die äußeren Stätten der Verehrung geschaffen, in denen ihr das Symbol des Lichts und des Tones findet.

Als ich noch im Dienst war, unterstand mir ein römisch-katholischer Beamter. Ich bat ihn, zum Bischof von Lahore, im Punjab, zu gehen und ihn über die Symbolik der großen Glocke zu befragen, die in den Kirchen geläutet wird. Dieses Symbol findet man gleicherweise in allen anderen Stätten der Verehrung, seien es Hindu- oder Sikh-, Jain- oder Buddhisten-Tempel. – Wir finden auch das Symbol des Lichts in den Kirchen in der Form von brennenden Kerzen, welches auch ein verbreitetes Symbol in allen anderen Stätten der Verehrung ist.

Ich erklärte ihm all das und bat ihn, den Bischof, der in Indien als der fortschrittlichste galt, zu fragen, was das Läuten der Glocken bedeute. Er ging zu dem Bischof, welcher erwiderte, dass es nur den Sinn habe, die Menschen zur Kirche zu rufen. Aber wenn dies richtig wäre, wie können wir dann diesen Brauch in den Tempeln anderer Religionen erklären, wo jeder Besucher, wenn er eintritt, die Glocke läutet? Bei den Hindus ist es allgemein üblich, zur Gebetszeit irdene Lampen anzuzünden und Glocken zu läuten. Diese Symbole stehen für etwas, worüber wir nichts wissen.

Wenn man in diesen Tempel Gottes – den menschlichen Körper – schaut, findet man das Licht Gottes. Wo kann man Gott finden? Wohnt Er in den Heiligen Schriften? Die Heiligen Schriften enthalten lediglich einen sehr guten Bericht über die wertvollen Erfahrungen, welche die Meister Selbst in diesem Tempel des Körpers machten. Sie sahen das Licht Gottes im Innern und hörten die Stimme Gottes im Innern. Das Studium der Schriften wird in uns den Wunsch erzeugen, die Wahrheit zu erkennen.

Weilt Gott in den heiligen Tempeln? Wir haben Respekt für alle Tempel, denn dort singen wir alle zum Lobe des Herrn. Diese heiligen Tempel sind nach dem Bild des Menschen geschaffen, um uns daran zu erinnern, dass Gott im menschlichen Körper erkannt werden kann und nicht außerhalb von ihm.

Wo ist Gott dann zu finden? Im Wahren Tempel des Körper.

Wir lesen im 1. Korintherbrief:

Wisset ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?

Alles ist heilig, wo man in Hingabe kniet. Die Wahren Tempel sind diese Körper, die wir tragen. Die ganze Welt ist der Wahre Tempel Gottes, die Erde unten und der Himmel droben. Es gibt keinen Ort, an dem Gott nicht gegenwärtig ist.

Diese Tempel wurden errichtet, um es uns zu ermöglichen, zusammenzusitzen und unsere Hände im Gebet zum Allmächtigen zu vereinen. Aus diesem Grunde kommen wir in Tempeln zusammen. Aber Gott wohnt nicht in den von Menschenhand gemachten Tempeln. Er wohnt in dieser menschlichen Gestalt, die wahrhaftig der Tempel Gottes ist. Wir müssen sie sauber und rein halten. Wie sauber wir doch die Tempel aus Stein und Mörtel halten – sowohl innen als auch außen! Aber wie steht es mit dem Wahren Tempel Gottes – dem menschlichen Körper? Er muss vor allen anderen Dingen rein und keusch gehalten werden.

Im 2. Korintherbrief heißt es:

[…] So lasset uns von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes reinigen und fortfahren mit der Heiligung in der Furcht Gottes.

Aber wir schänden diesen Tempel Gottes nur. Wieder beziehe ich mich auf den Korintherbrief:

So jemand den Tempel Gottes verderbt, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, – der seid ihr.

Diese Schriften gehören uns. Sie wurden von den Heiligen Meistern verfasst, Die Gott in Sich gefunden haben. Welche Erfahrung auch immer Sie hatten, schrieben Sie nieder zu unserer Führung und Hilfe.

Weiter steht in der Bibel:

Das sage ich aber, liebe Brüder, dass Fleisch und Blut nicht können das Reich Gottes ererben.

Der Ausdruck Fleisch und Blut bezeichnet das Leben der Sinne. Bevor wir nicht wissen, wie man sich über den physischen Körper erhebt, können wir nicht das Reich Gottes ererben.

Paulus schrieb:

[…] dass Fleisch und Blut nicht können das Reich Gottes ererben; auch wird das Verwesliche nicht erben das Unverwesliche. Der Herr des Himmels und der Erde wohnt nicht in Tempeln mit Händen gemacht.

Das sagen alle Schriften. Es bedeutet aber keinesfalls, dass wir keinen Respekt für die Stätten der Verehrung haben; wir haben Respekt für sie, denn dies sind die Orte, die geschaffen wurden, um zum Lobe des Herrn zu singen, Den wir lieben sollen von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Da wir Gott lieben, ist die Atmosphäre überall dort, wo wir zusammensitzen und Sein Loblied singen, mit der liebevollen Hingabe der Ergebenen geladen. Aber Gott wohnt in uns. Das ist die Tatsache, die ich deutlich mache.

Ein mohammedanischer Heiliger verkündet:

Der, Den du anbetest, nach Dem du verlangst, wohnt in dir, aber du suchst Ihn woanders, in den äußeren Dingen; wie willst du Ihn finden?

Das ist, was uns die Schriften und alle Heiligen sagen.

Der Körper ist der Wahre Tempel Gottes, in dem Gott wohnt. Wie können wir Ihn verehren?

Die Schriften sagen uns:

Gott ist Geist, und die Ihn anbeten, die müssen Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

Die elementaren Schritte, die wir in all den Religionen finden, beginnen mit dem Körper. Sie führen oder bahnen den Weg zur Wahren Spiritualität und sind hilfreiche Faktoren. Sie sind Mittel zum Zweck; sie helfen uns wie eine Amme, die ein Kind mit aufzieht. Wir müssen den besten Gebrauch von ihnen machen; und mit gebührender Achtung für all die Religionsgemeinschaften und ihre große Bedeutung für das soziale Leben des Menschen, müssen wir noch über sie hinausgehen. Es ist ein Segen, in einem Tempel geboren zu werden, aber nicht notwendig, in einem zu sterben.

Ich wies euch schon darauf hin, dass wir im 20. Jahrhundert das Glück haben, Berichte über die Spirituellen Erfahrungen aller Meister zu besitzen, Die in der Vergangenheit kamen. Wir sind begünstigt, dass wir all diese Worte der Weisheit haben, die unschätzbaren Aufzeichnungen Ihrer Lehren und Erfahrungen, die Sie mit Sich Selbst und mit Gott hatten. Wenn wir gelebt hätten, bevor jene Meister kamen, wären wir ohne sie gewesen. Das einzige, was nun bleibt, ist, dass wir diese Schriften in ihrer richtigen Perspektive betrachten müssen; und um damit zu beginnen, müssen wir die Terminologie der Schriften lernen. Wenn ihr die Schriften unter der Anleitung von jemandem lest, der keine Erfahrung des Lichts im Innern hatte, der Gott nicht aus einer Ersthand-Erfahrung erkannte, wird es nahezu unmöglich, die an sich einfachen und zugänglichen Wahrheiten, die von den Meistern gelehrt werden, zu verstehen.

In der Offenbarung heißt es:

Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! […] und Er wird bei ihnen wohnen […]

Manche Menschen werden fragen: ‚Wo sollen wir Gott finden?‘ Zu diesem Zweck müssen wir in unser eigenes Selbst hineinschauen, welches, so sagen es die Seher, der Wahre Tempel Gottes ist. Wir müssen den besten Gebrauch von den Schriften und den Stätten der Verehrung machen. Wir müssen die Wahre Bedeutung der Schriften, die wir haben, verstehen. Doch ehe wir nicht zu den Füßen von Jemandem sitzen, Der Selbst erlebt hat, was sie beschreiben, und Der fähig ist, uns diese Erfahrung zu geben, sind wir dazu nicht in der Lage. Nur ein Wahrer Meister ist kompetent, uns all das zu geben.

Was sagen die Schriften? Wieder sprechen sie von der Wahren Heimat unseres Vaters und beten:

Dein Reich komme.

Ich werde euch jetzt nicht Beispiele aus allen Schriften geben; ich habe euch in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, einzig den Kern dessen, was sie sagen, dargelegt, um euch die Wahrheit nahe zu bringen, so wie sie in ihnen enthalten ist.

Was steht in unserer Bibel?

Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden […] das Reich Gottes ist inwendig in euch.

Wenn wir das Reich Gottes betreten sollen, müssen wir das Reich Gottes in uns betreten und nicht im Äußeren danach suchen.

Andere Schriften sagen:

Das Wort ist jenseits aller physischen Wahrnehmung und Begrenztheit.

Das Wort, die Quelle allen Segens, wohnt im menschlichen Körper.

Nur wenn ihr euch Innen erhebt, werdet ihr das Wort erfahren.

Wir lesen in der Bibel:

Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren.

Jene, die lediglich das Leben der physischen Sinne führen und nicht wissen, wie man das Körperbewusstsein übersteigt, werden nicht das Ewige Leben haben.

Aber wer sein Leben verliert, der wird’s finden.

Sein Leben verlieren heißt nicht, Selbstmord zu begehen; es bedeutet, über das Körperbewusstsein zu gelangen, während man lebt. Lasst mich euch einen traurigen Vorfall erzählen, der sich in Indien aus Unkenntnis über die wahre Bedeutung der Schriften zugetragen hat. Wir lesen in der Bibel, dass das Reich Gottes in uns ist. Es kann durch den Tod im Leben, oder mit anderen Worten, durch eine neue Geburt gewonnen werden, denn es heißt in den Schriften:

Wer sein Leben verliert, wird das Ewige Leben erlangen.

Das hatte ein gewisser Mann in den Schriften gelesen. Die Geistlichen gaben ihm zu verstehen, dass er, wenn er sterbe, direkt in das Reich Gottes kommen würde; denn die Geistlichen hatten keine praktische Erfahrung von der Wahrheit in den Schriften. Was tat also der Ärmste? Er nahm ein Glas voll Wein und tat ein großes Stück Opium hinein. Dann stellte er es vor sich auf den Tisch und sagte: O Gott, ich komme nun zu Dir. Mit diesen Worten trank er den tödliche Trunk, nahm sich das Leben und ruinierte auf diese Weise sich und seine Familie.

Das war die Folge blinden Glaubens an die Lehren blinder Priester. Die Schriften hatten es niemals so gemeint. Natürlich sagen sie uns: Wer sein Leben verliert, der wird das Ewige Leben finden. Aber sein Leben verlieren bedeutet, sich willentlich über das Körperbewusstsein zu erheben. Es ist eine praktische Sache, die wir zu den Füßen eines Menschen lernen können, Der diese Erfahrung gemacht hat und ein Wahrer Adept in der Theorie und Praxis der Wissenschaft der Spiritualität ist.

Weiter heißt es:

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.

Die Schriften erklären das Ganze sehr genau; vorausgesetzt, es ist ein Wahrer Lehrer da, Der sie aus persönlichem Wissen und persönlicher Praxis erläutert und ein Führer auf dem Gottespfad ist.

Die Taufe oder Initiation aus den Händen von Einem, Der völlig kompetent ist, den Lebensimpuls zu übertragen und eine Erfahrung vom Jenseits zu gewähren, ist auf dem Pfad der Meister eine absolute Notwendigkeit. Der Meister kann einen durch Seine persönliche Aufmerksamkeit über das Körperbewusstsein erheben und eine Ersthand-Erfahrung vom Reich Gottes im Innern geben.

Ferner lesen wir:

Es sei denn, dass jemand von Neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.

Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden. Es geht einzig darum, von Neuem geboren zu werden aus dem unvergänglichen Samen, nämlich aus dem Lebendigen Wort Gottes, das da ewiglich bleibt.

Ebenso steht in den Schriften:

Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes, so wird euch alles zufallen.

‚Trachtet nach dem Reich Gottes‘ ist das Wichtigste und Vordringlichste – das Übrige kommt von selbst. Bedauerlicherweise haben wir das Reich Gottes immer im Äußeren gesucht.

Um ins Reich Gottes einzutreten und um das Reich Gottes zu sehen, müssen wir umkehren, den Tempel des Körpers betreten. Wir müssen nach Innen gehen und dort hineinschauen. Es ist ein regelrechter Prozess der Einwärtswendung. Unser Körper wurde mit einem Haus verglichen, das zehn Türen hat. Die äußeren Sinnesorgane bilden neun derselben: zwei Augen, zwei Ohren, Mund, zwei Nasenöffnungen, das Rektum und das Geschlechtsorgan. Das sind die Öffnungen des Körpers. Es sind die Tore, mit denen wir beständig leben. Außerdem gibt es noch ein zehntes Tor. Es liegt im Innern und ist latent. Es führt zum Reich Gottes. Aber sehr wenige finden dieses Tor, über das geschrieben steht:

Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führet; und wenige sind ihrer, die ihn finden.

Darüber hinaus heißt es:

Klopfet an, so wird euch aufgetan.

Aber wir wissen nicht, wo und wie wir anklopfen sollen. Dies ist eine Frage der Praxis. Das zehnte Tor im Körper ist das Eingangstor ins Jenseits. Solange man nicht alles darüber weiß, kann man nicht ins Reich Gottes eingehen.

Wie könnt ihr nun euren Weg zum Reich Gottes, das in euch liegt und nicht außerhalb, finden? Ihr könnt nur hineinkommen und sehen, wenn ihr imstande seid, euch nach Belieben über den physischen Körper zu erheben. So sagen die Schriften:

Lernt zu sterben, damit ihr zu leben beginnen könnt.

Nehmt das Kreuz auf euch, und das Kreuz wird euch aufnehmen. Wenn auch der äußere Mensch vergeht, so wird doch der Innere tagtäglich erneuert.

Christus sagte in unmissverständlichen Worten:

[…] der nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach.

Das Leben, das gerettet werden kann, das Ewige Leben, können wir nur dann haben, wenn wir lernen, während des Lebens zu sterben.

Dadu, ein Hindu-Heiliger, sagt:

Dadu, lerne zu sterben, ehe der Tod kommt, denn am Ende müssen alle sterben.

Was ist der Tod? Der Tod ist nichts Schreckliches; er ist nur eine Verwandlung, der Übergang von einer Ebene zu einer anderen. Was geschieht, wenn ihr den physischen Körper zur Zeit des Todes verlasst? Dieser physische Körper wird niedergestreckt. Wir legen diese sterbliche Hülle ab. Da wir nicht gelernt haben, wie man sie ablegt, überrascht uns letztlich der Tod, und wir werden unversehens von ihm überwältigt.

Wir denken, dass wir nur der Körper sind, und hängen an dem, was ihn umgibt. Aber der Tod kommt, und wir müssen dies alles zurücklassen; und deswegen sind wir erschreckt und verwirrt. Außerdem wissen wir nicht, wo wir hinzugehen haben oder wer da geht. Und weil wir nicht wissen, wie man den Körper verlässt, müssen wir die Agonie des Todes erleiden.

Gestern habe ich euch von Plutarch zitiert:

Die gleichen Erfahrungen, welche die Seele beim Verlassen des Körpers zur Zeit des Todes macht, hat einer, der in die Mysterien des Jenseits eingeweiht wurde.

Das ist die Bedeutung von Lerne zu sterben, damit du zu leben beginnen kannst. Aber leider haben wir das noch nicht verstanden.

Wiederum heißt es:

Entsagt dem Fleisch um des Geistes willen.

Beachtet das Wort entsagen. Wir leben die ganzen 24 Stunden des Tages im physischen Körper. Wir haben den physischen Körper, den Intellekt und die Seele. Wir wissen viel über den physischen Körper und seine Umwelt, unsere Familien, unsere gesellschaftlichen Beziehungen, politischen Zugehörigkeiten und ähnliches. Auch auf intellektuellem Gebiet sind wir sehr fortgeschritten. Aber wir wissen wenig oder nichts über unsere Seele – das Wahre, Innere Selbst in uns. Es gibt Werte und höhere Werte des Lebens. Jede Sache hat ihren eigenen Wert.

Ist nicht das Leben mehr denn die Speise und der Leib mehr denn die Kleidung?

Ich sagte euch neulich, dass wir in unserem täglichen Leben unbeabsichtigt klug handeln. Wenn ein Mensch einen Unfall hat und seine sehr teure Kleidung beschädigt und zerrissen wurde, sagt er: ‚Das macht nichts, ich bin gerettet.‘ Und was tut er, wenn er von einer tödlichen Krankheit befallen ist und die Ärzte seine Lage für hoffnungslos erklären? Er sagt: ‚In Ordnung, gebt all das Geld, das ich habe, aus, damit ich gerettet werden möge.‘ Wenn kein Geld im Haus ist, sagt er: ‚Nun, verkauft all meine Besitztümer, damit ich gerettet werden möge.‘ Somit gilt uns der Körper mehr als alle Besitztümer, die wir haben. Wenn er sich nun sein Bein oder seinen Arm bricht, schreit er auf: ‚Das macht nichts, ich bin ja gerettet.‘ Dies zeigt, dass es etwas noch Wertvolleres gibt als den physischen Körper. Dieses Etwas ist das eigentliche Leben in ihm – das aktive Lebensprinzip, dessen er sich noch nicht wirklich bewusst ist, obwohl er dessen Gegenwärtigkeit in sich spürt.

In weltlichen Angelegenheiten handeln wir auf diese Weise. Aber in Spirituellen Dingen handeln wir ganz anders. Wir handeln wie kleine Kinder, mit all unserer Sorge für den physischen Körper und seine Umgebung, um intellektuellen Fortschritt zu erlangen. Wir achten in keiner Weise auf unser Inneres Selbst – das Wahre Selbst in uns. Ist das nicht sehr seltsam? Das ist die große Täuschung, in der wir unser ganzes Leben lang leben.

Der wichtigste Aspekt im Leben eines Menschen ist sein eigenes Selbst, und er tut in dieser Richtung wenig oder gar nichts. Wem ihr auch begegnet, könnt ihr sagen:

Mein lieber Freund, hast du dies jemals in Betracht gezogen? Du musst den Körper eines Tages verlassen.

Aber das ist kein Schrecken. Es heißt nur, diesen Körper zu verlassen und ins Jenseits einzutreten, über das wir bis jetzt nichts wissen. Und wer ist es, der geht? Das ist, was ich euch in meiner vorhergehenden Ansprache erklärte. ‚Erkenne dich selbst‘ war immer das Thema aller Schriften. Schon die alten Griechen und Ägypter gravierten in ihre Tempel: Erkenne dich selbst.

Ihr geht in Tempel, damit ihr euch selbst erkennen mögt – nicht andere; nicht Bücher, Religionen, soziale Bräuche, Rituale. Sondern sie sagten: Erkenne dich selbst. Nur zu diesem einen Zweck geht ihr in die Kirche – um euch selbst zu erkennen und Gott zu erkennen.

Das menschliche Leben ist die goldene Gelegenheit, welche ihr habt. Die Höchste Mission im Leben des Menschen ist, sich selbst zu erkennen und Gott zu erkennen. Wenn er dies nicht getan hat, hat er nicht das Ziel erreicht, für welches das Leben des Menschen bestimmt war. Ihr mögt ein exzellenter Ingenieur sein, ihr mögt ein großer Astronom sein, ihr mögt ein berühmter Arzt sein, ihr mögt irgendetwas sein, doch solange ihr nicht etwas über euer eigenes Selbst wisst, habt ihr herzlich wenig getan. Warum? Weil ihr schließlich doch den Körper verlassen müsst. All eure intellektuellen Errungenschaften und all eure äußeren Besitztümer können euch nicht zur Selbsterkenntnis verhelfen, welche allein den Übergang von dieser Welt ins Jenseits leicht machen wird.

Das ist das Desideratum aller Religionen. Kabir sagt uns, dass dies die einzig Wahre Ergebung, die einzig Wahre Religion ist, zu wissen, wie man während des Lebens stirbt. Und das werdet ihr zu den Füßen des Lebenden Meisters lernen, Der ein praktischer Adept in diesem Fach ist. Er wird in der Lage sein, euch eine Ersthand-Erfahrung davon zu geben, wie man über das Körperbewusstsein gelangt – wie man während des Lebens stirbt. Wenn Er euch einmal eine Erfahrung gegeben hat, könnt ihr diese von Tag zu Tag durch regelmäßige Übung entwickeln, mit der rechten Führung und Hilfe, die ohne weiteres gegeben werden wird.

Das ist das wichtigste Thema, doch leider haben wir es zu lange ignoriert.

Trachtet daher zuerst nach dem Königreich Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit, und all diese Dinge werden euch dazugegeben werden.

All diese Dinge, denen wir den größten Teil unseres täglichen Lebens widmen, werden uns dazugegeben, wenn wir an erster Stelle unser eigenes Selbst suchen.