Kirpal Singh und die christliche Inkarnation

von Reverend Dr. phil. R. St. Drane

Schon viel zu lange war die christliche Lehre über die Inkarnation nur vergangenheitsorientiert. Heutzutage herrscht indes eine intensive Suche nach verbindlichen Wertbegriffen. Einige Leute entwickeln eine konservative Haltung angesichts der gegenwärtigen Zweifel und Veränderungen. Die Mehrheit der übrigen Leute scheint jegliches Interesse an den alten Lehrsätzen und Dogmen als beengend beiseite zu schieben. Das Christentum ist, zugleich mit allen anderen Weltreligionen, durch dieses gegenwärtige kulturelle Durcheinander beeinflusst. Es ist jedoch ein Zeichen der Hoffnung, dass die Jugend heutzutage nach praktischen Beweisen für die Redlichkeit und Wahrheit sucht. Dem Autor bedeutete es eine große Hoffnung, bei seiner eigenen Suche mit der Person und Lehren von Kirpal Singh bekannt zu werden. Er wies auf praktisch erwiesene Wahrheiten hin, wo ehedem in der westlichen, christlichen Hemisphäre nur Gedankengebäude bestanden. Dieser Segen kann der ungläubigen, fragenden Mehrheit der Menschen, die ohne Richtung umherirren, von Hilfe sein. Mit Hilfe des Ruhani Satsang, der Gemeinschaft von Suchern nach persönlicher Spiritueller Wahrheit, kann man sehen und erkennen, dass Gott nicht tot ist.

Viele Leute innerhalb und außerhalb religiöser Organisationen haben ‚aufgegeben‘, das heißt sie sind ungläubig, da sie den Enttäuschungen des Lebens nicht mehr gewachsen waren. Sie wurden von Bitterkeit erfüllt; als die Dogmen und Lehren ihres Glaubens ohne Beweise blieben. Dies ist auch einer der Gründe, warum der Autor eine Tätigkeit außerhalb der institutionalisierten Kirche suchte. (Der Autor ist ein geweihter Priester der ‚Jünger Christi‘ und diente in drei Kirchen vor seiner gegenwärtigen Tätigkeit in einem Zentrum für geistige Gesundheit). Er hatte das Bedürfnis, sich und anderen dabei zu helfen, eine umfassende Selbsterkenntnis zu entdecken, bevor eine Gotterkenntnis zustande kommen konnte. Für viele Leute besteht die Schwierigkeit darin, dass es an Hinweispunkten und einer gelenkten Erfahrung mangelt, durch die sie in Ruhe die Wirklichkeit ihres eigenen Inneren Spirituellen Lebens kennen lernen können. Die Schrift von Kirpal Singh  ‚Mensch, erkenne dich selbst‘ ist als eine Starthilfe sehr bedeutsam, zusammen mit seinem Buch  ‚Das Gebet‘. Wahres Wissen erlangt man jedoch erst durch die Meditationspraxis des Meisters.

Zum Zweiten bleiben gläubige Christen gewöhnlich an der Oberfläche und begnügen sich mit sozialen und kulturellen Verbesserungen. Meister Kirpal Singh pflegt solch einen Dienst nicht zu tadeln. Gewöhnlich ermutigt Er die Leute, an ihrem Posten zu verharren und zu dienen. Nachdrückliche Aufforderungen, das Spirituelle Leben zu vertiefen, werden dagegen oft als fremdartig angesehen, selbst bei westlichen Oberhäuptern. Glen Clark, Frank Laubach, E. Stanley Jones, Sam Shoemaker und andere protestantische, Spirituelle Führer werden oft als fremdartig angeschaut. Es scheint jedoch, dass sie und andere bedeutende Christen sich darüber bewusst waren, dass Jesus ‚ein Mensch des Ostens‘ war, und damit durchbrachen sie Dogmen unserer Zeit. Dies spiegelt sich auch bei E. Stanley Jones wieder, der seine Zufluchtsorte in den Vereinigten Staaten so schön ‚Ashrams‘ nennt, ganz in dem Geist, den er bei seinem langjährigen Dienst in Indien gefunden hat.

Ein anderes Hindernis bei dieser Suche ist das menschliche Problem der Teilnahmslosigkeit. Die westliche Welt ist wie alle übrigen Zivilisationen den kulturellen Überlieferungen ihrer unmittelbaren Vergangenheit anheimgefallen. Pitrin Sorokin, der russische Soziologe an der Harvard-Universität, sagte vor einigen Jahren, wir hätten in den letzten ‚zweihundert Jahren in unserer vernünftigen Kultur‘ unsere Religion durch eine andere ersetzt; die Religion des ‚guten Nächsten‘. Während dies einen gewissen sozialen Zweck erfüllt, genügt es nicht in Zeiten sozialer Umwälzungen wie heute.

Unsere kirchlichen Institutionen, wie sie zu Jesu Zeiten und zu allen anderen Zeiten bestanden, sind nicht in der Lage, die angestrebten Idealmenschen hervorzubringen. Und warum nicht? Wie könnte man seinen Glauben an sich selbst und an die Christenheit erneuern? Kirpal Singh hat gezeigt, dass die menschliche Brücke‘ das Wesentliche ist. ‚Reformer werden benötigt – aber nicht von anderen, sondern von sich selber!‘ Dies sind machtvolle Worte, wie die von Jesus:  ‚An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.‘ Kirpal Singh hat, wiederum genau wie Jesus, alle besonderen Privilegien auf das Göttliche Anrecht vermieden – die selbsternannten Rangordnungen falscher Propheten – als Er sagte: ‚Gott schuf den Menschen, und der Mensch schuf die Religionen‘. Damit werden die Fallen hinsichtlich der Theorien und Dogmen der Religionen vermieden, ohne ihre ewigen Wahrheiten zu vernachlässigen. Keine Diskussion brachte jemals neues Leben. Bei Kirpal Singh schließt das Nichtverletzen auch das Nichtdiskutieren mit ein. Kein Mensch kann von der Wahrheit überzeugt werden, wenn er dazu nicht bereit ist.
 
Verwirrungen entstehen immer, wenn Theorien oder Lehrsätze als gedankliche ‚Versuche  hinzugefügt werden, um frühere positive Erfahrungen oder Ereignisse zu erklären.‘ Wir vergessen, dass die Glaubensanschauungen der Erfahrung und der Persönlichkeit untergeordnet sind, die auf solch umfassend liebevolle, ungewöhnliche Art handelt. Jesus wurde von Petrus  ‚der Christus‘ genannt, als er solche Liebe bewies. Später wurde von der Kirche auf der Grundlage eines Glaubens aus zweiter Hand politische Treue oder Erlösung gewährt, wobei wenig Empfinden für den lebendigen Christus und kein Kontakt zu Ihm bestand. Heutzutage vermengen die Leute den Menschen Jesus mit der Universalen Christus-Kraft.
 
Aus vielen unterschiedlichen Erfahrungen und aus unterschiedlichem Verstehen haben die Schreiber der frühen Kirche das isolierte Dogma der christlichen Inkarnation entwickelt. Diese Idee war nicht typisch christlich, sondern wurde oft unter dem politischen Druck mit dem Verlangen nach Gemeinschaftstreue missbraucht. Wahrscheinlich glaubten viele zur Zeit des Neuen Testaments an die Wiederverkörperung, da sie meinten, Jesus sei der wieder verkörperte Elias oder Elisha. Eine engstirnige Ansicht hat jedoch unter dem Druck der Bekehrung arge Verwüstungen in der westlichen Welt angerichtet, als einige der größten Verfolgungen und Verteufelungen aller Zeiten vor sich gingen. Diese Verfolgungen dauerten von Konstantin bis zu Hitler in unserer Zeit an und wurden oft im Namen der Religion durchgeführt, ‚um den Glauben rein zu halten‘. Die Inkarnation, die ausschließlich christliche Bezeichnung nur für Jesus, die in ihrem Wesen der Rassentrennung in den Südstaaten der USA gleicht, erweckte viele negative Assoziationen. Der Westen wird sich jetzt allmählich seines Karmas oder seiner Schuld bewusst, nämlich seiner Unfähigkeit, mit seinem Ursprung durch eine wahrhaft lebende, sich verströmende, Heilige Persönlichkeit in Verbindung zu treten. Auch Jesus musste seine frommen Kritiker zurückweisen:

Was heißest du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.

Seine am häufigsten benutzte Bezeichnung für sich selbst war ‚Menschensohn‘. Die meisten Christen überbetonen jedoch das später entstandene, trennende Dogma der jungfräulichen Geburt, womit nur der ‚Sohn Gottes‘ ausgezeichnet ist. Jesus hat in einer späteren Phase Seines Wirkens Seinen Jüngern gesagt: 

Ihr werdet größere Dinge als diese tun,

aber sie nahmen Ihn nicht ernst. Es scheint, dass die Menschen in ihrer Spirituellen Armut die Innere Macht zurückweisen, die ihnen durch die Meisterkraft zuteil werden könnte. Infolge der Zurückweisung Seines Inneren Lichtes verfolgen sie andere durch ihre eigene Blindheit.
 
Einige christliche Schriftsteller haben sich fortwährend darum bemüht, die Trennung des Menschen von Gott zu überwinden. Im Laufe der Jahrhunderte haben einige katholische Mystiker uns zugerufen, ein ‚kleiner Christus‘ zu sein, die ‚Gegenwart Gottes zu praktizieren‘, die ‚Nachfolge Christi‘ anzutreten. Ein Theologe der neueren Zeit, Paul Tillich, sprach von ‚dem Christus in Jesus‘ als dem ‚Neuen Wesen‘. Aus Erfahrung schöpfend, betonte er, dass das Neue Wesen keine Person sei, sondern ein Erwachen, eine Wiedergeburt, die das persönliche Leben betrifft und es umwandelt, wo immer und wann immer dieses Ereignis eintritt. Tillich versuchte mit dieser Betrachtungsweise den Christen zu helfen, dass sie die umformende Erfahrung als primär erkannten und die Hinwendung auf den historischen Jesus als sekundär. Dies bedeutet nicht, Jesus abzuwerten, sondern auch heutzutage ein Inneres Christus-Erlebnis zu entdecken, um eine lebendige Religion anstelle historischer Überlieferungen zu haben.
 
Jesus wurde einmal von Seinen Jüngern aufgefordert, andere zu verurteilen, da sie ‚Dämonen austrieben‘. Er weigerte sich, irgendwelche Ärzte oder Arbeiter zu verurteilen, die anderen Menschen halfen. Kirpal Singh weigerte sich ebenfalls, andere religiöse Oberhäupter in ihrer Arbeit zu kritisieren. Sein praktischer, offener Sinn für die Erfüllung der Arbeit durch den Einzelnen zeigt den ‚Geist Christi‘ heutzutage an, eine fortgesetzte Verkörperung in der Reihe der Meister, eine  ‚Spirituelle apostolische Nachfolge‘.

Gott ist in Seiner Vorsorge nicht kleinlich. Er hat zu allen Zeiten für wahrhaft Suchende Große Lehrer gegeben. Wir sind heutzutage begünstigt, einen Lebenden Meister zu haben. Viele Christen, die ‚gläubig‘ sein wollen, vermeiden es, mit Hilfe anderer Lehrer die Tiefen des lebendigen Christus unserer Tage zu erforschen. Diese Suche, im Inneren und Äußeren, nach dem Christus, dem Herrn und Meister über Leben und Tod, ist nicht leicht. Es bedeutet oft Kritik von jenen, die innerhalb strenger Überlieferungen leben. Der Autor dieser Zeilen meint jedoch, dass die von Kirpal Singh gezeigten Wahrheiten nichts anderes bewirken, als die ursprünglichen Lehren von Jesus zu bestätigen, die im Inneren und unter den Krusten von Jahrhunderten weiterleben.

Viele Menschen im Westen suchen heutzutage eine neue Betrachtungsweise ihrer Religion und einen neuen Lebensglauben für sich selbst. Der Ruhani Satsang bietet diese Erfahrung allen, und zwar Christen und weltlich Gesinnten auf die gleiche Weise. Ein Christ sollte eine besondere Erfüllung dadurch erleben, dass er sich das Wahre Leben durch tägliche Mühen erobert, durch den Tod während des Lebens, durch das  ‚Von-neuem-geboren-Werden‘, von dem Jesus sprach. Der immer lebendige Christus-Geist bleibt derselbe. 

Jesus wünschte, dass wir uns selbst und Sein Reich vollenden, indem wir den Christus, das Neue Wesen, anerkennen. Wir können Ihn in Spirituellen Führern unserer Tage wiederentdecken. Kirpal Singh ist ein Gottmensch im Leben dieses Autors. Dies bedeutet nicht, einen Meister um des anderen willen aufzugeben. Es bedeutet, das christliche Evangelium heutzutage in einer lebenden Person erfüllt zu sehen und den gleichen Gott und Vater anzuerkennen.