Maeve

Eine Erzählung von Tracy Leddy

Als Prinzessin geboren, hatte Maeve immer alles, was ihr Herz begehrte. Bis zum achtzehnten Lebensjahr war sie mit einem beständigen Lächeln und nie schwankenden Schrittes buchstäblich durchs Leben getanzt, bis eines Nachts etwas geschah, was sie vollständig veränderte.

Es war nach einem großen Fest. Maeve hatte selbst komponierte Lieder vor ihrem Vater dem König, und dem ganzen Hofstaat vorgetragen. Sie hatte die ganze Nacht mit vielen Partnern getanzt, und sie wurde gefeiert, da sie das schönste Gesicht im ganzen Königreich hatte. Der Hofstaat tuschelte von ihrer baldigen Heirat.

Maeve war zu Bett gegangen, müde, doch freudig erregt bei dem Gedanken an ihren wachsenden Ruhm. Aber in dieser Nacht vergingen die Stunden; und sie konnte nicht schlafen. Die Geräusche im Palast wurden allmählich schwächer, bis sie ganz verstummten. Alles war ruhig, doch die Prinzessin konnte nicht schlafen. Sie wälzte sich hin und her, versuchte, sich den Glanz des Abends in Erinnerung zu rufen, die Gesichter ihrer Gesellschafter, ihre Musik, alles nützte nichts.

Dann hörte sie ein Geräusch, den Laut eines Menschen, der bitterlich schluchzte. Die Stimme war gedämpft, so, als ob sie von sehr weit herkäme. Maeve lag ruhig da und wunderte sich. Woher kam dieses herzzerreißende Weinen? Und dann, mit einem Ruck, der sie kerzengerade im Bett aufsitzen ließ, erkannte Maeve die Ursache des Geräusches. Es kam tief, tief irgendwo aus ihrem eigenen Körper. Mit klopfendem Herzen saß sie da und lauschte mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit.

‚Lass mich heraus!‘  schrie die Stimme. ‚Lass mich heraus!‘ ‚Wer bist du?‘ flüsterte Maeve erschreckt. ‚Ich bin dein Selbst‘, schrie die Stimme verzweifelt. ‚Willst du mich nicht bitte herauslassen!‘ ‚Sei nicht albern‘, sagte Maeve zu der Stimme. ‚Ich bin mein Selbst. Ich brauche nur in den Spiegel zu schauen, und da sehe ich mich ganz deutlich.‘ ‚Nein, das kannst du nicht‘, sagte die Stimme, ‚du bist eine endlose Sammlung von falschen Gesichtern. Lass mich heraus, und ich werde dir zeigen, wer du wirklich bist.‘ ‚Sag nicht so einen Unsinn‘, sagte Maeve. ‚Geh und lass mich in Ruhe. Ich bin sehr müde und möchte jetzt schlafen.‘ ‚Höre mich jetzt, liebe Prinzessin‘, beharrte die Stimme. ‚Du wirst nicht schlafen können, solange du mich nicht herauslässt. Ich möchte gehört werden!‘ Die Stimme wurde sehr laut und gab ein durchdringendes Wimmern von sich.

Maeve verstopfte vor Schreck ihre Ohren und dachte: ‚Wenn das so weitergeht, werde ich bestimmt verrückt. Ich muss den Palast verlassen, bis ich dieses unglückliche Geschöpf losgeworden bin, und dann komme ich zurück.‘ Sie kroch aus dem Bett, warf schnell eine lange Robe über, zog darüber einen wollenen Mantel und schlich barfuß durch die ruhigen Hallen, die große Treppe hinunter, hinaus in die verlassenen Gärten des Palastes und durch ein kleines Tor in den angrenzenden Wald.

Glücklicherweise schien der Mond, doch auch wenn er nicht dagewesen wäre, hätte sie den Weg finden können. Sie kannte den Wald so gut wie den Palast, da sie Jahre damit zugebracht hatte, beide zu erforschen. Sie kannte die Fährten und Lauben, Dickichte und Unterhölzer, und diese Nacht ging sie zu ihrem Lieblingsort, einer alten Turmruine am anderen Ende des Waldes. Es war eine einsame Stätte; sie war eines Tages darauf gestoßen, als sie Schutz vor einem plötzlichen Sturm suchte. Keiner würde daran denken, sie in einer so vergessenen Ecke zu suchen.

Schließlich konnte Maeve die großen, moosbewachsenen Felsen erkennen, die den Eingang zum Turm markierten. Sie ging auf sie zu und setzte sich in den dunklen Eingang, das Gesicht dem Wald zugewandt. ‚Nun dann‘, sagte sie zu ihrem Selbst, ‚was willst du, dass ich tun soll?‘ Die Stimme schrieb lauter denn je: ‚Lass mich heraus!‘ ‚Wie kann ich das?‘ fragte Maeve. ‚Du musst einen Weg finden, du musst, du musst!‘ schrie die Stimme, und plötzlich, als ob eine Schleuse geöffnet worden wäre, begann sie in einem Schwall von Worten der Prinzessin zu erzählen, wie lange sie ein Gefangener gewesen war und wie fürchterlich sie gelitten hatte. ‚Hör auf!‘ rief Maeve nach einiger Zeit, ‚ich habe noch nie eine so traurige Geschichte gehört, ich kann kein Wort mehr davon hören. Gibt es niemand, der mir beisteht, dir zu helfen?‘ Und sie warf sich auf den Boden und schluchzte und schluchzte.

Eine ungewöhnliche Stille herrschte im Wald, als ein sonderbares Bild vor dem Inneren Auge der Prinzessin erschien. Sie war ein Schloss geworden, und ihr Gesicht war der höchste Turm. Eine  lange Treppe wand sich nach unten durch den Turm zu dem geheimsten Verließ im Schloss. Eine kleine Gestalt aus Licht lag in dem Verließ, eine Gestalt in Ketten, gebrochen und traurig. Die Gestalt schluchzte verzweifelt, als von außen ein langer Arm hereinreichte und den Schlüssel in der Tür zum Verließ umdrehte. Die Gestalt erhob sich und kämpfte sich zur Tür vor. Sie stieß die Tür auf und stand schwerbeladen am Fuße der Treppe. Dann begann sie zu rufen: ‚Lass mich heraus! Lass mich heraus!‘ Der lange Arm begann, Ziegel um Ziegel von der Vorderseite des Turmes zu reißen,  und mit jedem Ziegelstein fiel ein Glied von der Kette der leuchtenden Gestalt – verwandelt in einen Schmetterling, der davonflog. Die Ziegelsteine fielen, die Gestalt kletterte nach oben, bis sie die oberste Stufe erreichte, wo sie, befreit von all ihren Ketten, in der Leere der gefallenen Ziegelsteine dastand.

In diesem Augenblick schmolz das ganze Schloss zu nichts zusammen, und alles, was in der Vision der Prinzessin blieb, war die Gestalt aus Licht.

Beim Morgengrauen durchbrach ein Rascheln die tiefe Stille von Maeves Tränen, und sie schaute auf. Direkt gegenüber, im Schatten einer Eiche, saß ein weißgekleideter, alter Mann, dessen Gesicht wie die Sonne leuchtete. Seine Augen waren warm und weise, als er die Prinzessin ansah. ‚Gut getroffen, Maeve‘, sagte er, ‚dein Selbst ist tatsächlich am Fuße der Leiter. Es war kein Traum. Nun wollen wir anfangen. ‚Wer seid Ihr?‘ flüsterte Maeve scheu vor solch einem Besucher im entlegensten Teil des Waldes ihres Vaters.

Der alte Mann antwortete:  ‚Ich bin mein Selbst. ‚Die Stimme, die sich mein Selbst nennt, sagt, dass ich nur aus unwahren Gesichtern bestünde‘, sagte Maeve, ‚sie sagt, dass sie wahr sei und ich nicht. Wie kann ich herausfinden, ob dies wahr ist? ‚Nur Geduld‘, sagte der alte Mann, ‚hier werde ich es dir zeigen.‘ Er nahm eine Handvoll Erde vor der Prinzessin vom Boden. Sofort entstand eine kleine Pfütze voll mit klarem Wasser. Nicht eine Welle kräuselte die Oberfläche. ‚Nun schau dein Gesicht an, Maeve, befahl er,  ‚und sage mir, was du siehst.

Maeve lehnte sich nach vorne und schaute in die Pfütze auf ihr Spiegelbild. Was sie sah, war nicht die leuchtende Gestalt ihrer Vision, nichts dergleichen. Noch war es das Bild, das sie in den Spiegeln des Schlosses zu bewundern pflegte. Was sie in der Pfütze sah, war ein Gesichtsausdruck – einer der vielen Hunderte, die ihr jeden Tag durch den Sinn huschten,  ‚Oh!‘ sagte sie, ‚ich schaue so gierig. Ich sehe aus, als ob alles, was ich möchte, noch mehr Schokolade ist, nachdem ich bereits die halbe Schachtel aufgegessen habe.

‚Möchtest du so aussehen?‘, fragte der alte Mann.  ‚Gut, lege diese Miene ab‘, sagte der alte Mann. Maeve hob ihre Hände zum Gesicht und zog und zog. Aber nichts geschah. ‚Ihr macht Euch über mich lustig‘, sagte sie zu dem alten Mann. ‚Nicht im geringsten, antwortete er, ‚du kannst mich um Hilfe bitten.‘ Maeve neigte ihren Kopf. ‚Bitte, helft mir‘, sagte sie, ‚offensichtlich kann ich es nicht selbst.‘ Der alte Mann fasste über die Pfütze und berührte nur das Gesicht der Prinzessin. Eine Maske, so dünn wie eine Zwiebelhaut, fiel in seine Hand, kräuselte sich nach oben und verdorrte wie ein welkes Blatt. Er blies es fort. ‚Nun, Maeve‘, sagte er ruhig, ‚sieh wieder in die Pfütze. Was siehst du? Maeve lehnte sich nach vorne wie vorher und sah ihr Spiegelbild prüfend in der Pfütze an. ‚Oh, ich sehe so faul aus! sagte sie. ‚Ich sehe aus, als ob ich den ganzen Tag nichts getan hätte und nun nicht einmal willens wäre aufzustehen, um meinen Vater, den König, zu grüßen.‚Willst du so aussehen?‘ fragte der alte Mann.  ‚Nein‘, murmelte Maeve mit Tränen in den Augen. ‚Gut, dann leg auch diese Miene ab‘ , sagte er.  ‚Macht es bitte‘ , bat Maeve ihn, ‚ich weiß nun, dass ich nichts ohne Eure Hilfe tun kann.‘ Wieder fasste der alte Mann über die Pfütze und berührte das Gesicht der Prinzessin. Abermals fiel eine Maske, so dünn wie die Haut einer Zwiebel, in seine Hand, kräuselte sich nach oben und verdorrte wie ein welkes Blatt. Er blies es fort. ‚Du musst nun etwas essen, bevor wir fortfahren‘ , sagte der alte Mann und gab ihr einen kleinen Korb mit Früchten, Käse, Brot und Nüssen, den er hinter dem Baum hervorgeholt hatte. Maeve nahm es dankbar an und aß. Der Mann saß in seinen eigenen Gedanken versunken da und wartete, bis sie fertig war. Ohne ein Wort zu sagen, gab Maeve ihm den leeren Korb zurück, und ohne ein Wort zu sagen, stellte er ihn hinter den Baum. Dann befahl er: ‚Schau noch einmal in die Pfütze und sage mir, was du siehst.

Die Tage gingen vorüber, und jeder verlief auf gleiche Weise. Wenn Maeve des Morgens aufwachte, war bereits der alte Mann da und wartete auf sie. Er holte dann den kleinen Korb mit Nahrung hervor und wartete geduldig, während sie aß. Dann lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf das Spiegelbild in der Pfütze. Sobald sie den jeweiligen Gesichtsausdruck erkannt hatte, nahm er ihn von ihrem Gesicht. Die Arbeit war ermüdend. Sie konnte nur wenige Gesichtsausdrücke an einem Tag deuten. Wenn sie müde wurde, sagte der alte Mann, dass sie schlafen solle – ihre Arbeit würde am nächsten Morgen wieder beginnen.

Eines Nachts sah Maeve vor ihrem geistigen Auge das Schloss wieder. Der Turm war zum größten Teil verfallen, und die Gestalt aus Licht hatte mehr als die Hälfte der Stufen erklommen. An dem Morgen erwachte sie glücklicher, als sie lange gewesen war.

Die Gesichtsausdrücke, die sie in der Pfütze sah, wurden jedoch immer subtiler und  dementsprechend schwierig zu identifizieren. Bald kam ein Tag, an dem der alte Mann interessiert zuschaute, als sie sich anschickte, in die Pfütze zu schauen. Mit gutem Grund: Sie sah dort einen Gesichtsausdruck, den sie niemals zuvor gesehen hatte oder sich hätte vorstellen können, dass ihn irgend jemand hatte. Es war ein grausamer Anblick, ein Anblick von nacktem Hass und Stolz. Es war ihr eigenes Gesicht, beraubt von allen äußeren Masken, und es war fürchterlich anzusehen. Die Spiegelung hielt sie sehr gefangen. Ein starkes Schaudern ging durch ihren Körper, und sie begann heftig zu zittern. Mit all ihrer Kraft zog sie ihre Aufmerksamkeit von dieser hypnotischen Spiegelung und nachdem sie einen Moment direkt in die Augen des alten Mannes gesehen hatte, schloss sie ihre Augen. Daraufhin ereigneten sich drei außergewöhnliche Dinge zur gleichen Zeit. Die Stimme in ihr schrie lauter als zuvor:  ‚Lass mich heraus!‘, und ihre eigene Stimme rief:  ‚Ich möchte nicht sterben!‘, und der alte Mann fasste über die Pfütze und berührte ihre Stirn, und ihr Kopf fiel wie ein überreifer Apfel platschend in die Pfütze vor ihr. ‚Nun bin ich nichts!‘ schrie die Prinzessin auf, weil sie nur einen starken Wind spürte, wo ihre Ohren sein sollten. ‚Nicht im geringsten‘, sagte der alte Mann, als er den Kopf der Prinzessin aus dem Wasser hob. Schau noch einmal hin, Maeve, und sich, wer du wirklich bist.

Und Maeve beugte sich nochmals vor, um in die Pfütze zu sehen, und sie sah die Gestalt aus Licht, die sie ebenfalls anstarrte; und ihr Gesicht leuchtete wie die Sonne. ‚Aber wir sind dann gleich, Ihr und ich‘, keuchte sie und starrte den alten Mann an. ‚Natürlich‘, frohlockte er, denn es steht geschrieben: ‚Er ist es, Der in dir wünscht, und Er ist es, Der gewünscht wird. Er ist alles, und Er macht alles, falls du Ihn erkennen kannst. Und die beiden saßen da, niemand weiß wie lange, vergessen und vertieft und lächelten einander an. ‚Was ist das für ein Lärm, den ich höre, mein Vater?‘ fragte Maeve, ‚er ist lauter als alle anderen Geräusche des Waldes.‚Es ist der Schrei von allen anderen Gefangenen der Welt, die bitten, erlöst zu werden‘ , antwortete der alte Mann. ‚Meine Tochter, du musst jetzt zu ihnen gehen und ihnen sagen, was sie tun sollen.