Einige Anmerkungen über das Tagebuch

von Robert Leverant

Dies sind einige Anmerkungen über das Tagebuch. Sie wurden bei der Vorbereitung für eine Besprechung des Tagebuches mit Neuinitiierten niedergeschrieben. Das Tagebuch wurde von einem Bewussten Wesen, das im Berufsleben Rechnungsführer war, entworfen, um anderen zu helfen, seine Ebene zu erreichen. Mit anderen Worten: Das Tagebuch ist ein Hilfsmittel, das uns helfen soll, in Übereinstimmung mit dem Göttlichen Plan zu leben, bis wir seine bewussten Mitarbeiter geworden sind.

Es bedient sich zweier nützlicher Eigenschaften das Gemüts: der Einsicht und der Voraussicht. Wie oft wünschen wir uns, dass wir noch einmal eine Gelegenheit bekommen, oder wir sagen: ‚Wenn ich das gewusst hätte.‘ Das Tagebuch gibt uns diese Gelegenheit. Indem wir das Tagebuch gewissenhaft ausfüllen, erleben wir in der Gegenwart (Voraussicht), dass die Vergangenheit sich ständig erneuert, was und eine Möglichkeit gibt, uns zu ändern (Einsicht).

Das Wunder dabei ist, dass die meisten von uns sich gar nicht wirklich ändern wollen, und doch tun wir es durch das Führen des Tagebuches und durch die Meditation.

Dieses knüpft an eine weitere hilfreiche Fähigkeit des geschulten Gemüts an; die Analyse, ein Wort, das ursprünglich trennen oder aussortieren bedeutet. Viele von uns haben im Chemieunterricht Experimente durchgeführt, wobei wir eine Substanz analysierten oder heraussonderten, die uns manchmal unbekannt war. Wir taten dies, indem wir einer vorgegebenen Anleitung genau und schöpferisch folgten und die Ergebnisse in ein Blatt oder in ein Buch eintrugen.

Das Tagebuch, das wir für unser Experiment benutzen sollen, ermöglicht es uns, eine sehr feine Substanz – die Seele – von zwei gröberen Substanzen – dem Gemüt und dem Körper – zu analysieren bzw. zu trennen. Entsprechend unserem Voranschreiten tauchen zwei Eigenschaften oder Kennzeichen der Seele auf: das Licht und der Ton.

Die Seele wird das (Wahre) Selbst genannt, und das Blatt wird als ein Tagebuch zur Selbstprüfung bezeichnet. Das Wort Selbstprüfung sagt uns, dass das Laboratorium unserer Experimente wird selbst sind, unser eigenes Gemüt.

Die Worte Experiment, Analyse usw. sind wissenschaftliche Grundbegriffe. Sie sind wertfrei und neutral, und genauso soll die Einstellung zu unserem Tagebuch, zu unserer Erforschung und zu unserer Übung sein, die die Göttliche Wissenschaft der Seele genannt wird.

Wie jede andere Wissenschaft beruht unser Studium auf einigen Hypothesen. Wir haben zwei: dass Gott existiert, und dass Er von allen Menschen gesehen werden kann.

Das Tagebuch, das uns helfen soll, diese Hypothesen zu bestätigen, trägt die Spaltenüberschriften ‚Gebote‘ (das, was beachtet werden muss) und ‚Fehler‘ . Das Wort ‚beachten‘ deutet an, dass wir mit einer offenen und objektiven Einstellung etwas beobachten. Einfach etwas zur Kenntnis nehmen, das ist alles. Nirgendwo heißt es, dass wir uns schuldig oder entmutigt fühlen sollen, wenn wir fehlen, oder uns etwas zugute halten sollen, wenn wir nicht versagen, oder irgendeine andere derartige Haltung aus dem Gefühl der Selbstquälerei oder des Stolzes heraus einnehmen sollen, um uns mit unseren Neigungen von dem Ziel der Selbsterkenntnis abzuhalten.

Das Tagebuch soll uns ferner zeigen, wer wir sind, denn wer wir sind ist gleichbedeutend damit, wo wir zu einem bestimmten Zeitpunkt stehen. Der Meister sagt dazu: Entscheidend ist nicht, was ein Mensch tut, sondern was er denkt.‘ So stellen wir unsere Fehler fest oder wo wir bei unserem Experiment nicht die Erkenntnis aus den vorangegangenen Tagen genutzt haben.

Die innere Stimme, die während der Nacht alles beobachtet, beginnt nach einiger Zeit am Tage zu sprechen, wenn die gleiche Situation auftaucht. Manche nennen diese Stimme das Gewissen. Je mehr wir auf diese Stimme hören, desto stärker wird sie. Auch sie ist eine wertfreie oder neutrale Stimme. Diese Stimme weist nicht mit mahnendem Finger zurecht oder mit lauten oder gefühlsbetonten Worten, was ein Anhaltspunkt dafür ist, ob wirklich sie und nicht unser Ich spricht. Im mystischen Schrifttum wird diese Stimme ‚der Zeuge‘ oder ‚der Beobachter‘ genannt. Dieser innere Zeuge beobachtet und registriert unser ganzes Melodrama, alles ohne Ausnahme. Er ist ein wertvoller Freund, den wir kennenlernen, indem wir das Tagebuch genau und regelmäßig ausfüllen.

Die charakteristischen Rubriken im Tagebuch befassen sich mit den fünf Bindungen oder mit den Punkten, in denen die Seele sich mit Körper und Gemüt identifiziert und darin verloren hat. Unter diesen Spalten ist eine weitere, um Fehler im selbstlosen Dienen anzumerken, und darunter befindet sich eine Spalte, um darin eingesetzte Meditationszeit aufzuzeichnen. Es ist natürlich, dass diese beiden Spalten beieinander stehen, denn sie sind miteinander verknüpft, sie sind sozusagen die zwei verschiedenen Seiten derselben Münze. Der Meister hat ausführlich über die fünf Bindungen geschrieben. Zeitweilig können wir, indem wir eine abgrenzen, sehen, dass sie mit einem anderen Wesenszug verbunden ist. Woher kommt das? Sie rühren alle von einer gemeinsamen Ursache her: unsere Aufmerksamkeit lässt vom Simran oder dem liebevollen Gedenken ab. So ist jede Bindung einfach ein anderer Weg fern von der Liebe. Hilfreich bei diesen Überlegungen mag sein, dass die guten Eigenschaften in der christlichen Literatur Tugenden (= virtus) genannt werden. Die Wurzel des Wortes virtus ist vir, die lateinische Bezeichnung für Mensch.

Dieses Wissen führt uns zu einem weiteren Aspekt des Tagebuches: ‚die Heranbildung zum Menschen‘; so beschreibt der Meister Seine Arbeit mit uns. Er sagt, Gott zu finden ist sehr einfach, aber ein Mensch zu werden, sehr schwierig.

Des Meisters Aufgabe ist im Laufe der Zeit schwieriger geworden, und zwar, weil heutzutage das Erziehungssystem darnieder liegt. Die Inder sagen, dass man in seinem Leben drei Arten der Verwandtschaft zu verehren habe: die Eltern, die uns in die Welt brachten und uns aufzogen; unsere Lehrer, die uns von Tieren zu Menschen erzogen; und die Heiligen, die uns von der menschlichen Ebene zur Gottheit bringen.

Mit Hilfe des Tagebuchs bildet uns der Meister zu Menschen heran, Er erfüllt also die Aufgabe, die zu anderen Zeiten von den Lehrern durchgeführt wurde. Indem wir die Tagebücher führen und voranschreiten, können wir feststellen, dass er auch die Arbeit übernimmt, uns zu erziehen. All dies muss Er tun, bevor Er Seine eigentliche Aufgabe, Seine von Gott übertragene Arbeit, durchführen kann, uns auf den Inneren Ebenen zurück zu unserer Heimat zu führen.

Für wen ist dieses Tagebuch gedacht, wovon schon der Name sagt, dass es täglich und abends ausgefüllt wird? Für uns oder für den Meister? Ich würde sagen, es ist für uns. Seine Absicht ist es, uns für uns selbst verantwortlich zu machen, damit wir auf eigenen Füßen stehen können und nicht auf Seinen. Wir werden verantwortlich, indem wir allmählich bewusst werden und erkennen, ‚wer wir sind‘. Bis wir nicht erkannt haben, dass wir die Wahl haben, sind wir nicht fähig, auch die andere Wange hinzuhalten oder etwas anderes zu tun als vorher. Dafür ist es wesentlich, dauernd Bestand aufzunehmen, sich selbst zu analysieren, da es die Voraussetzung zur Selbsthingabe bildet.

Es ist schon genug geschrieben worden über die Notwendigkeit, dass wir Eins sein sollen, so dass unsere Gedanken, Worte und Taten in allem übereinstimmen. Und im Tagebuch gibt es verschiedene Spalten für Gedanken, Worte und Taten, die bei jedem Wesenszug zu beachten sind.

Die innere Einstellung, mit der wir das Tagebuch führen, ist sehr wichtig. Ich finde, dass der äußere Zustand meines Tagebuches meine Einstellung widerspiegelt – wenn es schlampig, widersprüchlich, unordentlich und zerknittert ist usw. Mit anderen Worten, das äußere Erscheinungsbild sagt alles.

Wenn wir das Tagebuch als etwas ansehen, das nur für den Meister geführt wird, als etwas, das alle vier Monate nach Indien geschickt werden soll, so tun wir zwei Dinge, die ich als sehr schädlich für unser Wachstum ansehen würde. Das eine ist, dass wir vergessen, dass der Meister nicht gleich Indien ist – dass Er unmittelbar hier ist, und dass dies kein Briefwechsel ist, der von selbst mit Seinem Weggang endet. Empfänglichkeit ist der Schlüssel.

Die zweite Gefahr ist, dass wir bloße Techniker oder Tagebuch-Ausfüller werden und nichts weiter. Es ist ein äußerst schöpferisches Studium, das das Experiment einschließt, das heißt, es ist eine Übung der Inspiration nach gewissen Grundregeln.

Solch eine Arbeit des Prüfens und Irrens ist voll Freude. Wenn wir das vergessen, wenn wir uns erlauben, reine Techniker zu werden, dann wird das Leben öde, weniger interessant, unsere Übung wird zum Zwang, voll von ‚du sollst‘ und ‚du musst‘ und ‚der Meister sagt‘.

Dann verlieren wir unser gesundes Empfinden, das innere Bedürfnis und verlieren den Geist der Lehren aus den Augen und den Zweck des Tagebuches, das uns ja helfen soll, lebendig zu bleiben und in der lebendigen Gegenwart zu wachsen, im gegenwärtigen Augenblick, und ‚fröhlich zu sein‘.

Der Meister rät, jeweils an einem charakteristischen Fehler zu arbeiten – er nennt es Unkraut, das ausgejätet und nicht bewässert werden sollte. So sind wir alle Gärtner. Der Unterschied zwischen seiner Methode und der der modernen Psychologie ist fundamental, denn die moderne Psychologie lehrt uns, diese Wesenszüge zu entwickeln. Der Meister lehrt uns, sie auszumerzen. Beide sind sich einig, dass es schädlich ist, sie zu unterdrücken.

Es gibt eine Geschichte, die einige von euch vielleicht kennen. Wenn ja, so denkt darüber nach, wie sie auf euch selbst anwendbar ist, das heißt, wie ihr mit euren Möglichkeiten und eurer Person eure Begrenzungen überwinden könnt.

Es lebte eine Frau, die nicht lesen oder schreiben konnte, deshalb füllte sie das Tagebuch nicht aus. Auch sah oder hörte sie nichts bei der Meditation. Sie ging ganz verzagt zum Meister. Er fragte sie: ‚Füllen Sie das Tagebuch aus?‘ die Frau war in ihren Vorstellungen verhaftet und dachte, wie könne sie das tun? Sie begann zu weinen. Jemand sagte zum Meister: ‚Sie kann weder lesen noch schreiben.‘ Der Meister sagte: ‚Sie müssen das Tagebuch ausfüllen‘. Nach außen hin oder von der Ebene des individuellen Gemüts war der Meister dabei, etwas Unmögliches zu verlangen und war sehr grausam.

Bei der Weltreise des Meisters haben einige von euch vielleicht bemerkt, dass die Antworten des Meisters sich auf zwei Ebenen bewegen: einmal auf der Ebene des Gemüts, wo sie gelegentlich ohne Sinn erscheinen und somit das Gemüt überspringen; zum anderen auf einer Ebene höheren Verstehens, mit Bezug auf den Fragenden.

Die Frau ging nach Hause. Und zum ersten Mal nahm sie das Tagebuch ganz ernst, als etwas Heiliges, das es ist, denn das Tagebuch soll uns zu etwas Ganzem oder Einem machen, und sie arbeitete schöpferisch. Es wird berichtet, dass sie an jenem Abend Kerzen rings um das Tagebuch anzündete und ihren Tag überdachte, und dann betete sie. Am nächsten Morgen sah sie bei ihrer Meditation des Meisters Strahlende Form im Innern.

Noch ein Wort der Warnung aus meiner eigenen Erfahrung: Wenn wir das Tagebuch vernachlässigen, vernachlässigen wir alles. Wie bei allen Übungen steht der Glaube an erster Stelle, und wenn wir nicht glauben, schwindet die Welt, an die wir glaubten. Und der Abschnitt auf der Seite des Tagebuchs: Was ergab Ihre Innenschau? Was ergab sich beim inneren Hören? Welche Schwierigkeiten hatten Sie bei der Meditation? Wie weit hatten Sie sich Ihrem Körper entzogen?‘ – wird bedeutungslos. Jeder Tag, an dem wir es unterlassen, das Tagebuch auszufüllen, macht unsere

Reise länger und länger, macht unsere Heimkehr schwieriger und schwieriger.

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Die tägliche Aufzeichnung oder das Tagebuch ist die beste Methode, sich seiner Unzulänglichkeiten und Fehler bewusst zu werden. Rottet sie aus und reißt sie heraus, und plant den weiteren Fortschritt. Ohne eine solche Selbstanalyse und Selbstkritik ist kein wirklicher Fortschritt möglich.

Kirpal Singh