Berlin

II

Am nächsten Morgen, Montag, dem 28. August, flogen der Meister und einige Satsangis nach Berlin. Wieder hatten wir einen ganz ruhigen Flug bei herrlichem Sonnenschein.

In Berlin war nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis von Satsangis zusammen, da es für viele, die mit dem Auto unterwegs waren, eine zu lange und anstrengende Fahrt gewesen wäre. Im Flugzeug begleiteten etwa 30 Satsangis den Meister und Seine Party, und im Laufe des Tages kamen noch einmal 30 dazu, die inzwischen auf anderem Wege nach Berlin gekommen waren. Der Meister wohnte hier im Palace-Hotel.

Als einige von uns in den Konferenzraum des Hotels kamen, wurden wir vor eine Prüfung gestellt, wie weit wir Toleranz und Liebe für andere hatten. Dort kam nämlich eine alte Frau auf uns zu, die ziemlich aufgebracht über den Meister sprach. Sie war durch nichts zu beruhigen und fing immer wieder von neuem an, schlecht über den Meister zu reden. Sie hatte die feste Absicht, mit Ihm persönlich zu sprechen, anscheinend sogar noch vor dem Satsang. So waren wir alle ein wenig besorgt, dass sie Unannehmlichkeiten bereiten würde. – Wie ich erst hinterher erfuhr, hatte man mit Gyani Ji über den Vorfall gesprochen, und er meinte: „Sie wird keinen Ärger machen.“

Bei diesem ersten Satsang in Berlin war der Meister, wie es mir schien, von einer ganz besonderen Heiterkeit, die einfach jeden von uns anstecken musste! Während Er sprach, saßen wir in einem kleinen Halbkreis um Ihn herum.

Zu Beginn des Gesprächs erkundigte Sich der Meister eingehend nach dem Schicksal der geteilten Stadt. Er erzählte, dass Er auch bei Seiner letzten Weltreise 1963 in Berlin gewesen sei und dass Er für diese Stadt besondere Anteilnahme empfinde.

Ich werde zu Gott beten für diese Stadt.

Und mehrmals sagte Er:

Bitte übermittelt den Menschen im anderen Teil der Stadt meine Grüße. Sie fehlen mir sehr.

Auf Seine Frage, ob jemand aus Ostberlin anwesend sei, meldete sich ein älteres Ehepaar, das aufgrund der Neuregelung nun die Möglichkeit hatte, in den Westen zum Meister zu kommen. Noch vor einem Jahr wäre das nicht möglich gewesen. Der Meister zeigte in diesen zwei Tagen eine besondere Liebe und Fürsorge diesen beiden Menschen gegenüber. So fragte Er sie, die beide initiiert waren, nach der allgemeinen Meditation jedes Mal persönlich nach ihren Erfahrungen und war sehr erfreut, als Er das zweite Mal die glückliche Antwort des Herrn erhielt, er habe Licht gesehen.

Der Meister sagte, dass das Unwissen und die enge Sicht der Menschen schuld seien an der Uneinigkeit unter den Völkern und Nationen.

Sie trennen gewaltsam Menschen voneinander und sehen nicht, dass wir alle eine Familie sind.

Anschließend hatten wir wieder Gelegenheit, dem Meister Fragen zu stellen. Jemand fragte nach der genauen Bedeutung der Initiation.

Der Meister antwortete:

Initiation bedeutet, seine ganze Aufmerksamkeit von außen zurückzuziehen, sie nach Innen zu wenden, sich so über den Körper zu erheben und mit dem Meister Innen in Verbindung zu kommen. Es ist die Initiation in die Welt des Jenseits. Es mögen Stufen da sein, aber es bedeutet das, was ich Ihnen gesagt habe. Jeder mag selbst herausfinden, wo er steht.

Dann fügte Er noch hinzu:

Die Initiation umfasst zwei Aspekte, einen äußeren und einen inneren. Der erste ist das vorbereitende Studieren und Verstehen der Theorie und der zweite das Erheben ins Jenseits.

Nach einer Minute des Schweigens sagte der Meister:

Konzentration bedeutet, seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu richten und alles andere zu vergessen. – Unsere Fragen, die alle aus dem Intellekt kommen, werden beantwortet werden, wenn wir uns über den Körper erheben. Geht nach Innen und seht selbst.

Dabei fiel mir folgendes Bild von Meister Sawan Singh ein:

Ein Mann ist in den Brunnen gefallen, und ein anderer steht oben und bietet ihm an, ihn an einem Seil hochzuziehen. Er lässt das Seil schon hinab in den Brunnen, aber der Gefangene dort unten ruft zu ihm hoch: Sage mir bitte erst, wie es da oben aussieht, wie man sich dort fühlt und ob ich auch nicht wieder hinunterfalle, wenn ich erst einmal oben bin usw. Was wird der Mann, der oben steht, ihm antworten? – Er sagt: Ergreife das Seil und klettere herauf. Dann kann ich dir alles zeigen, und du wirst mit deinen eigenen Augen sehen, was ich dir doch nur schwer verständlich machen kann, solange du dort im Brunnen liegst. Warum erst noch Zeit verlieren?

Am Ende des Satsangs war die Atmosphäre so von der Göttlichen Ausstrahlung des Meisters geladen, dass man es einfach nicht mit Worten beschreiben kann. Bevor Er ging, sagte Er nochmals, wir sollten den Menschen jenseits der Mauer Seine Grüße übermitteln.

Seid fröhlich, denn wir sind alle Eins.

Es war inzwischen 18:00 Uhr geworden und der Meister setzte sich nun mit einzelnen Besuchern des Satsangs zusammen, die persönliche Fragen an Ihn hatten. Ich hatte kurze Zeit mit jemandem gesprochen, und als ich wieder zum Meister hinübersah, entdeckte ich, dass die alte Frau, die am Vormittag so schlecht über den Meister gesprochen hatte, neben Ihm saß und der Meister sehr liebevoll mit ihr sprach. Sie sagte wieder zu Ihm, der Meister sei böse, worauf Er ihr mit noch größerer Liebe entgegnete: „Schau mir in die Augen. Sind meine Augen böse?“ – Ich konnte sonst nichts hören von dem Gespräch, da wir alle in einigem Abstand standen. Ich sah nur, dass die Frau ganz verändert war, geduldig zuhörte und mit friedlichem Gesichtsausdruck wieder fortging. – Dies wird mir ein unvergessliches Beispiel dafür sein, was Wahre Liebe vermag!

Schon etwa zwei Stunden später, um 20:30 Uhr, trafen wir uns erneut zum Satsang. Der Meister fragte uns, was wir wollten, Gespräch oder Meditation. Als allgemein der Wunsch nach Meditation geäußert wurde, hatte Er geantwortet:

Gut, so werde ich euch das Wasser und das Brot des Lebens geben. Das ist der eigentliche Zweck, für den wir zusammengekommen sind.

Nachdem Er wieder ganz genaue Anweisungen zur Meditation gegeben hatte, saßen wir etwa eine halbe Stunde. Er notierte anschließend wieder die Ergebnisse und sprach zum Abschluss noch einige sehr eindringliche Worte:

Entscheidet noch heute, was ihr wollt, ob Gott oder die Welt. Einmal wenden wir uns spirituellen Dingen zu, dann wieder der Welt. Wir gehen einen Schritt vor und dann wieder einen zurück. Überall graben wir kleine Löcher in den Boden, dann hören wir wieder auf und beginnen an einer neuen Stelle zu graben. Entscheidet euch heute! Wenn ihr den Weg Gottes betretet, werden euch alle anderen Dinge von selbst gegeben. Der Mensch muss mit Vertrauen den Weg weitergehen, den er einmal aufgenommen hat.

Am nächsten Morgen führte der Meister dieses Thema in einem unvergesslichen Gespräch weiter aus. Er sprach über die Reinheit des Herzens:

Reinheit des Herzens besteht dann, wenn kein anderer Gedanke als der an Gott aufkommt. Lasst nichts zwischen euch und Gott stehen, nichts und niemanden!

Wir sollten alle ehren, mit denen wir von Gott zusammengeführt werden. Aber wir sollten wissen, dass sie uns bei der Aufgabe, uns über den Körper zu erheben, von keinerlei Hilfe sein können. Ihr müsst ganz allein gehen. Geht ganz allein zu Gott! Entscheidet euch, was ihr wollt! Ihr solltet euch bereits entschieden haben. Je mehr ihr eure Fehler ausmerzt, desto mehr werdet ihr euch von allen Bindungen lösen. Ihr werdet wunderbaren Fortschritt machen.

Ich habe euch gestern aufgefordert, euch zu entscheiden, was ihr wollt. Wie viele von euch haben es getan? – Ich fürchte, dass es nur wenige sind.

Wir suchen immer im Äußeren. Aber um Gott zu finden, müsst ihr nach Innen gehen.

Der Heilige Ramanuja begegnete einmal einer Frau, die gebückt unverwandt auf den Boden schaute und offensichtlich etwas suchte. Der Heilige fragte sie, was sie denn suche. Sie antwortete, sie habe eine Nadel verloren und suche nun schon eine Stunde lang vergeblich danach. Daraufhin fragte Ramanuja sie, wo sie denn die Nadel verloren habe, worauf sie antwortete: „Herr, ich habe sie im Haus verloren.“

Wir mögen lachen über diese Geschichte, aber unsere Lage ist ähnlich, da wir Gott, Der in uns ist, durch äußere Handlungen zu finden hoffen. Wir müssen Gott in uns suchen. Aber um Ihn dort zu finden, müssen wir unser Herz reinigen. – Mögen wir bei einem sitzen, dessen Kleidung voller Schmutz ist? – Ganz sicher nicht. Wie können wir dann davon träumen, dass Gott bei uns sitzen will, solange wir uns nicht gereinigt haben?

Früher haben die Meister erst dann eine Innere Erfahrung gegeben, wenn das Gefäß schon gereinigt war. Heute, in diesem Zeitalter, bekommen wir zuerst eine Ersthand-Erfahrung, die wir dann weiterentwickeln müssen.

Am Nachmittag hatten wir wieder ein Gespräch mit dem Meister, in dem Er Fragen beantwortete.

In einer Seiner Antworten erklärte Er, was Kultur sei. Kultur, so sagte Er, entsteht aus selbstlosem Dienst und Wissen. Wenn wir Kultur besitzen, werden wir nur sanfte Worte und liebevolle Gedanken für andere haben. Meistens hören wir nicht richtig zu, wenn andere zu uns sprechen, und so verstehen wir sie nicht und werden aufgebracht.

Bei dieser, wie auch bei vielen anderen Antworten des Meisters musste ich erst einmal überlegen, wo der Zusammenhang mit der gestellten Frage lag. Oft umfasste eine Frage ein ganz allgemeines Problem und der Meister ging auf einen ganz bestimmten Aspekt davon ein oder auch genau umgekehrt. Aber fast immer konnte man an der Reaktion der Fragenden sehen, dass der Meister ihr Problem zufriedenstellend beantwortet hatte. Ich glaube, man kann daran erkennen, dass Er weniger die ausgesprochene Frage beantwortet, als vielmehr den ganzen Problemkreis, der dahinter steht. So war dies wieder eine Bestätigung dafür, dass der Meister alle unsere Gedanken genau kennt, besser als wir selbst!

Auch bei Seiner Antwort auf die nächste Frage – über Kindererziehung – sprach der Meister über die Kultur des Herzens: Er sagte, dass die heutige Erziehung und Ausbildung nur auf den Intellekt bezogen sei, dass der Kopf erzogen würde, aber nicht das Herz. Die Folgen davon seien Aggressionen, selbstische Regungen, Rachegedanken usw. Würden wir alles mehr vom Herzen aus betrachten, statt nur mit dem Kopf, könnten alle Streitigkeiten beigelegt werden, es gäbe dann keine Probleme mehr.

Ein Satsangi sagte, der Meister vergleiche in einer Seiner Schriften den ergebenen Schüler mit einer Flöte, auf welcher der Meister Seine Melodien spielt. Dieses Bild hatte ihn sehr stark beeindruckt, und er bat den Meister, hier etwas über seine Bedeutung zu sagen.

So erklärte der Meister:

Die Flöte ist innen ganz leer. Wir müssen uns Innen ganz leer machen, um zum Instrument des Meisters zu werden, auf dem Er erhabene Melodien spielen kann. Das ist die Bedeutung dieses Bildes.

In einem anderen Zusammenhang sagte der Meister:

Seid kindlich! – Und mit einem humorvollen Lachen fügte Er hinzu: Kindlich, nicht kindisch! Seid einfach wie die Kinder! Ein Heiliger hat einmal gesagt: „Es ist eine Gnade, dass Gott die verborgene Wissenschaft nicht den Weltweisen enthüllt, sondern sie den kleinen Kindern (to the babies) offenbart.“

Eine der letzten Fragen an diesem Nachmittag lautete:

In dem Buch „Godman“ spricht der Meister von zwei Wegen, dem der Selbstunterwerfung und dem der spirituellen Disziplin. Welches ist der leichtere Weg und welches der schwierigere?”

Antwort:

Die völlige Selbstunterwerfung ist der schwierigere Weg, die Selbstdisziplin ist einfacher. Ich will euch ein Beispiel geben, das dies veranschaulicht. Hazrat Ibrahim kaufte einmal einen Sklaven, was damals Brauch war. Er nahm den Sklaven mit sich und fragte ihn, was er essen wolle, was er anzuziehen wünsche, wo er schlafen wolle usw. Auf all diese Fragen antwortete der Sklave: „Herr, was Ihr mir geben wollt. Ich werde es nehmen.“ – Hazrat Ibrahim war so beeindruckt von der Selbstunterwerfung seines Sklaven, dass er zu Gott rief: „Herr, mein Sklave hat mehr Ergebenheit für mich als ich für Dich! Er hat mir gezeigt, was wahre Demut ist.“ – So seht ihr, was wahre Selbstunterwerfung bedeutet? Es bedeutet, keinen eigenen Willen mehr zu haben, sich mit Körper, Gemüt und Seele dem Meister zu übergeben. Der erste Schritt ist die Selbstdisziplin, der zweite die Selbstübergabe. Sie wird nach und nach erreicht, wenn ihr der Person, die ihr liebt, alles hingebt, zuletzt euch selbst.

Das Licht Innen zu sehen und den Ton Innen zu hören ist das beste Heilmittel. Dadurch werden wir zur Wohnstatt aller Tugenden werden.

Am Abend fand um 20:00 Uhr im Urania-Haus ein öffentlicher Vortrag des Meisters statt. Auch dieser Saal, der wie der in Köln etwa 300 Plätze hatte, war voll besetzt.

Wesentliche Worte, die mir an diesem Abend besonders im Gedächtnis blieben, waren die folgenden:

Seht zuerst, dann preist Gott. Wenn ihr vom Inneren Licht und Ton sprecht, bevor ihr es gesehen und gehört habt, ist das genauso, wie wenn ein Blinder das goldene Licht der Sonne preist. So seht zuerst, dann singt.

Am Ende des Vortrags verabschiedete sich der Meister auf so unbeschreiblich demütige Weise! Er sagte:

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zwei Stunden lang so geduldig zugehört haben. Ich hatte das Glück, Sie zu sehen, und Sie hatten das Glück, mich zu sehen. Aber ich hatte das größere Glück, da Sie nur einen vor sich gesehen haben und ich gleich so viele von Ihnen. – Gott segne Sie alle.

Ich musste nach dem Vortrag noch auf jemanden warten und so konnte ich beobachten, dass viele Leute noch vor dem Eingang in Gruppen zusammenstanden und über den Vortrag des Meisters sprachen. Sie schienen von Ihm und von Seinen Worten stark beeindruckt zu sein. Als ich dann zum Hotel ging, lief eine Gruppe ziemlich dicht hinter mir her und ich hörte dauernd irgendwelche Worte von ihnen, die der Meister gesagt hatte.