Stuttgart

IV

Am Freitag, dem 1. September, fuhr der Meister weiter nach Stuttgart, diesmal mit der Bahn, da es zwischen Nürnberg und Stuttgart keine Flugverbindung gibt. Das “Grand Hotel” liegt so nah am Bahnhof, dass es sich nicht gelohnt hätte, mit dem Wagen hinüberzufahren. So ging der Meister den Weg zu Fuß, und etwa 30 Satsangis folgten Ihm. Viele Leute auf der Straße schauten sich um, als sie Ihn mit Seiner Familie kommen sahen! Die meisten von uns fuhren gleich mit demselben Zug, in dem gleichen Wagon wie der Meister. Während der 2 ½-stündigen Fahrt war der Gang vor dem Abteil des Meisters und seiner Party ständig „verstopft“, weil die Satsangis keine Gelegenheit ausließen, Seinen Darshan zu haben. Ich selbst hatte einen Platz im angrenzenden Abteil, und während wir über die Lehren des Meisters sprachen, hörten wir oft durch die Wand das herzhafte Lachen des Meisters und Seiner Begleiter, nachdem Er irgendetwas gesagt hatte.

In Stuttgart wohnte der Meister im „Park-Hotel“ (wo man die Präsidenten-Suite für Ihn reserviert hatte!). Der Geschäftsführer war hier besonders zuvorkommend und tat alles, um des Meisters Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Jemand brachte das Gepäck der Party ins Hotel. Als der Empfangschef hörte, dass es sich unter anderem um das Gepäck des Meisters handelte, rief er sofort einen Boy und trug ihm auf, es nicht direkt in das Zimmer von Sant Kirpal Singh zu bringen. – „Der Große Meister soll nicht gestört werden.“ – Er sagte das in einer Art, die eine hohe Achtung vor Ihm erkennen ließ.

Am Nachmittag hatten wir im Konferenzsaal ein wunderbares Gespräch mit dem Meister. – Sowohl hier in Stuttgart als auch schon im „Grand Hotel“ in Nürnberg, standen zeitweise Hotel-Angestellte an der Tür, während der Meister sprach, oder hörten von einem Nebenraum aus zu.

Heute sprach der Meister über das Wahre Glück:

Wir müssen alle eines Tages sterben. Wir müssen den Körper und alles, was damit verbunden ist, verlassen. Gott ist vollkommenes Glück, und das ist auch in uns verankert, es ist uns angeboren. Alle Menschen streben nach Glück, weil dies unser eigentliches Wesen ist. Es ist daher unser Recht, den Wunsch nach Glück zu haben. Kann es einen glücklichen Menschen geben? – Ja. Aber wir haben noch nicht analysiert, woher Glück eigentlich kommt. Es kommt aus unserem eigenen Selbst, weil Wahres Glück in uns liegt. Wir denken, dass Glück in den äußeren Dingen zu finden sei, aber wenn uns diese Dinge weggenommen werden, sind wir unglücklich. So bindet euch an etwas Bleibendes, etwas Ewiges – das ist Gott.

Leider haben wir unser Wahres Selbst vergessen. Die Meister schauen uns ins Gesicht und sehen, dass wir unglücklich sind. Wir haben uns zu Sklaven gemacht, die unter dem Gewicht der Sinne niedergebeugt sind. Ihr werdet von anderen nur so lange geliebt, wie ihr im Körper seid. Wenn ihr gestorben seid, will niemand mehr euren Körper in seinem Hause haben. – Niemand liebt euch außer dem Gottmenschen. Der Gottmensch liebt euch wirklich. Er ist Gott im Menschen und Mensch in Gott. Die Meister geben uns einen Kontakt mit der immer währenden Freude und dem dauerhaften Frieden. Kommt! Warum bleibt ihr hier in der Welt, die nicht eure Wahre Heimat ist, und leidet?

Lebt in der Welt, aber seid nicht von der Welt. Lasst das Boot im Wasser sein, aber nicht das Wasser im Boot. Wir können erst dann Wahre Liebe zu Gott haben, wenn wir Ihn sehen.

Wir sollten einander dienen.

Lord Vishnu hatte einmal alle Götter und Teufel zu einem Festmahl eingeladen. Nun saßen die Götter auf der einen Seite der Tafel und die Teufel auf der anderen. Die köstlichsten Speisen wurden aufgetragen. Lord Vishnu lud seine Gäste ein, zu essen, so viel sie wollten, aber unter einer Bedingung: Sie durften, um die Speisen zum Mund zu führen, nicht den Arm krümmen. Alle waren erstaunt über diese merkwürdige Bedingung und so sehr sie auch versuchten, eine Lösung des Problems zu finden, kam keiner von ihnen auf eine geeignete Idee. Die Teufel gingen schließlich hungrig und grollend hinaus. Die Götter berieten noch miteinander, welchen Zweck Lord Vishnu wohl mit dieser Bedingung verfolgt hatte, bis sie dann schließlich auf den Gedanken kamen, dass man sehr gut satt werden kann, indem man sich gegenseitig das Essen reicht.

Was bedeutet dieses Gleichnis?

Wenn ihr andere glücklich macht, werdet ihr selbst auch glücklich. Wir müssen anderen helfen. Liebe kennt Opfer. Ihr opfert die Interessen anderer für euch selbst. – Umgekehrt hätten wir das Paradies auf Erden. Wenn ihr jemanden lieben wollt, müsst ihr ständig an ihn denken.

Es ist ein großer Segen, in der Gegenwart eines Lebenden Meisters zu sein. Dies hat, bei entsprechender Empfänglichkeit, mehr Wirkung als tausend Jahre angestrengter Bemühungen. So wie ein Parfumhändler den Duft seiner Essenzen in seiner ganzen Umgebung verbreitet, ist der ganze Raum, in dem der Meister Sich befindet, von Seiner Liebe erfüllt. Wenn man die Ausstrahlung Seiner Liebe voll entgegennimmt, ist die Wirkung davon größer als tausend Bußübungen.

Auch schlechte Gemeinschaft hat ihre Ausstrahlung. So achtet sorgfältig auf euren Umgang, weil ihr davon angesteckt werdet! Wenn ihr niemanden habt, in dessen Gegenwart eure Liebe zum Meister verstärkt wird, dann ist es besser, mit dem Meister in euch allein zu bleiben. Wir verehren die Heiligen unglücklicherweise nicht, solange Sie leben, sondern erst, wenn Sie gestorben sind. Wir sollten Sie verehren, während Sie leben!

Je mehr wir nach den einfachen Lehren der Meister leben, desto glücklicher werden wir werden. Sind wir nicht glücklich zu nennen, dass wir hier unter der Vaterschaft Gottes zusammensitzen? – Westen und Osten sind verschiedene Räume im Hause des Vaters.

Am Abend nach diesem unvergesslichen Vortrag hatten wir eine Meditation. Wie immer in diesen Tagen gab Er vorher ganz genaue Anweisung in einer Art, dass das Gemüt sich beruhigt. Es war bisher kein Tag vergangen, an dem wir nicht in der Gegenwart des Meisters zur Meditation sitzen durften. Was das bedeutet, wird mir erst jetzt – hinterher – richtig klar, und vielen anderen wird es ähnlich gehen.

Am nächsten Morgen fand in einem kleinen Raum des Hotels eine Initiation statt, wobei insgesamt 15 Menschen vom Meister die Ersthanderfahrung erhielten.

Leider erkennen wir zum Zeitpunkt der Initiation ihre wahre Bedeutung noch nicht und verhalten uns oft nicht in der angemessenen Weise. So wurde direkt nach der Meditation, als der Meister noch damit beschäftigt war, die einzelnen Initiierten nach ihren Ergebnissen zu fragen, in Seiner Gegenwart so laut gesprochen, dass der Meister sich an Frau Fitting wandte, damit sie für Ruhe sorgte.

Ich erinnere mich, dass der Meister in einer Seiner Ansprachen des letzten Jahres gesagt hatte:

Andere werden die Größe des Meisters immer am Verhalten Seiner Anhänger messen.

Und bei anderer Gelegenheit, während Seiner jetzigen Reise sagte Er:

Wir sind stolz auf den Meister, aber kann Er auch stolz auf uns sein?

Zur gleichen Zeit – während der Initiation – saßen die anderen Satsangis im Nebenraum und meditierten. Der Meister war zwischendurch gekommen, hatte die Anweisungen gegeben und war erst später zurückgekehrt, um nach den Ergebnissen zu fragen. – Auf Wunsch des Meisters war um 15:00 Uhr eine Zusammenkunft der Gruppenbeauftragten anberaumt – unter Seiner Leitung. Der Meister forderte die Gruppenbeauftragten auf, liebevoll in einer Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, „als kleine Räder im Maschinenwerk der Sache des Meisters“. Im Laufe des Gesprächs betonte Er mehrmals nachdrücklich die Notwendigkeit, die Schriften gründlich zu studieren.

Er wiederholte hier, was Er auch schon bei einem Satsang in Köln gesagt hatte:

Die Hälfte der Arbeit in Indien könnte eingespart werden, wenn die Lehren genau studiert würden. Ich will mich nicht beklagen, aber die Korrespondenz mit allen Lieben nimmt Tag und Nacht in Anspruch. Wir sollten bedenken, dass es nicht nur Deutschland gibt, sondern dass die Briefe aus der ganzen Welt kommen.

Am Abend fand vor etwa 700 Menschen ein öffentlicher Vortrag statt. Der Meister erklärte unter anderem, dass es zwei verschiedene Arten von Meistern gebe, die sehr unterschiedliche Aufträge von Gott hätten: Die einen, die so genannten Avatare, kommen, um die Ordnung in der Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sie belohnen die Guten und bestrafen die Schlechten. So sorgen sie für Gerechtigkeit. – Die anderen Meister kommen mit einem ganz anderen Auftrag direkt von Gott: Sie werden in die Welt gesandt, um die weltmüden Seelen zurück zu Gott zu bringen. So kommen die einen, um die Welt in Gang zu halten und die anderen, um sie zu entvölkern.

Der Meister veranschaulichte Seine Worte mit einem Gleichnis.

Denkt an Gefangene: Ein guter Mensch kommt in das Gefängnis und sieht, dass die Gefangenen Hunger leiden. So veranlasst er, dass sie zu essen bekommen. Dann kommt wieder jemand und sieht, dass die Gefangenen keine Kleidung besitzen, dass sie bloß sind, und er beschafft ihnen aus Mitleid Kleider. Ein Dritter sieht, dass die Gefangenen in schmutzigen, engen Räumen untergebracht sind, und er lässt neue bauen. – Schließlich kommt jemand, der den Schlüssel zum Gefängnis besitzt; er schließt das Tor auf und sagt: Kommt heraus, ihr seid frei. Nun, welcher der vier Männer wird den Gefangenen den größten Dienst erwiesen haben? – Die äußeren Bedingungen mochten gebessert worden sein, aber solange die Tore des Gefängnisses verschlossen blieben, blieben die Menschen darin, was sie waren – Gefangene.

So kommen die Meister, um uns aus dem Gefängnis des Körpers herauszuführen. Sie rufen uns zu: Kommt, liebe Kinder, ich warte auf euch!

Noch nie hatte der Meister so deutlich auf die Agonie des Todes hingewiesen, wie an diesem Abend. Er beendete Seinen Vortrag mit den Worten:

Das Thema, das ich Ihnen heute dargelegt habe, ist verwickelt, aber ich habe versucht, es Ihnen in klaren, offenen Worten nahezubringen.

Als Er sich schon erhoben hatte, um zu gehen, wandte Er sich noch einmal um, kam nach vorn und sagte:

Ich weiß, Sie möchten mich noch nicht verlassen, und ich möchte noch nicht von Ihnen weggehen.

Er blieb noch einen Augenblick stehen und schaute langsam durch die Reihen. Dann verabschiedete Er sich noch einmal und ging.