John Wannop

Vom Tod zum Leben

Die Geschichte des John Wannop

‚Gefängnisinsasse, aber freier Mensch durch des Meisters Gnade.‘

An einem Apriltag des Jahres 1959 stand ein Mann vor einem Richter in einem Gerichtssaal, nachdem er des Mordes für schuldig befunden worden war, und hörte folgendes Urteil:

Sie sollen von hier in das Okalla-Gefängnis gebracht werden und dort bis zum 23. Juli warten. Dann sollen sie auf den Richtplatz geführt werden, um dort den Tod durch den Strang zu sterben – und möge Gott Erbarmen mit Ihrer Seele haben.

Nachdem dieses Urteil gefällt war, lief der Richter aus dem Gerichtssaal, und seine Frau folgte dicht hinter ihm, um ihm in dem Kummer beizustehen, den er beim Lesen des Urteils empfand.

Ich war der Mann, der vor dem Richter stand, und mit dem Urteil, das er fällte, begann für mich das Erwachen der Erkenntnis und des Lebens.

Ich wurde nach Okalla gebracht und in die Todeszelle geführt, um auf das Ende zu warten. Während ich dort war, begann ich über viele Dinge nachzudenken, über mein Leben und darüber, was mein Tod sein würde. Ich suchte sogar noch zu diesem späten Zeitpunkt nach etwas, für das ich sterben könnte – und konnte nichts finden – nicht einmal mit Hilfe eines Geistlichen und Seelsorgers beider Konfessionen. Ich hatte ein kleines Buch mit dem Titel ‚Yoga-Leben‘ bekommen und durch dieses Büchlein kam ich mit Dr. Ananda Shananda in Verbindung, der mit der Yoga-Stiftung arbeitete. Er besuchte mich und lieh mir die Gita und einige andere Bücher zum Lesen. Während des Lesens dieser Bücher hatte ich das Symbol ‚OM‘ abgezeichnet und an der Wand meiner Zelle befestigt.

Eines Tages, während ich so dasaß und darüber nachdachte, was in der Gita von Krishna zu Arjuna gesagt worden war, nämlich:

Wenn ein Mensch an mich (Krishna) denkt, während sein physischer Körper stirbt, dann wird er zu mir kommen,

geschah etwas Seltsames.

Das Symbol ‚OM‘ begann zu wachsen und im strahlendsten Gelb zu erglühen und zur selben Zeit war ein Summen zu hören – wie die Musiknote ‚As‘. Dies hielt so lange an, bis ich in einer goldenen Strahlung gebadet war und einen Ton hörte, der alles übertraf, was ich jemals vorher erfahren oder gefühlt hatte. Er durchdrang mich und überwältigte meine Sinne und ich empfand einen vollkommenen Frieden, der über allem Verstehen lag. Während ich mich in diesem Zustand befand, erschien mir ein Wesen, ein Mann, Der mir sagte, dass ich mich nicht sorgen solle, da alles in Ordnung käme und ich etwas bekommen würde, für das ich leben und sterben könne. Dies ereignete sich einen Monat, bevor ich gehängt werden sollte.

Am Tage nach dieser Erfahrung besuchte mich Dr. Ananda und ich berichtete ihm darüber und wir beschäftigten uns während der nächsten zwei Wochen stundenlang intensiv damit. Schließlich sagte mir Dr. Ananda, dass er mir nicht mehr weiterhelfen könne und dass ich an Kirpal Singh in Indien schreiben solle, denn nur Er allein könne mir helfen. Ich schrieb an den Meister, eine Woche, bevor ich gehängt werden sollte, und drei Tage später wurde mir gesagt, dass mein Todesurteil in lebenslängliche Gefangenschaft umgewandelt worden war. Meine Strafe war abgemildert worden.

Man brachte mich zum British-Kolumbischen Zuchthaus und ich machte die formellen Aufnahmetests und bekam im Juli 1959 meine Aufgaben zugeteilt. Im August bekam ich Antwort vom Meister. Der Brief berichtete mir von einem Weg, dem ich folgen und mit dem Leben ganz in Einklang sein konnte. Ich sollte mit Betty Shifflet Verbindung aufnehmen, aber sie nahm zuerst mit mir Verbindung auf und schickte mir ein Buch – das ‚Jap Ji‘ –, das ich wie ein Ertrinkender las, welcher sich an einem Stück Holz klammert.

Der erste Satz, welcher mich traf, war die Aussage:

Gott schuf den Menschen, der Mensch die Religionen.

Dies arbeitete in mir mit solch einer Kraft, dass ich tagelang über nichts anderes nachdachte. Ich sah ein Bild in dem Buch, das mich zurückholte. Es war ein Bild vom Meister, Er sah wie die Person meiner Erfahrung aus, aber nicht ganz genau so. Das verwirrte mich. Ich wusste nicht, wer es anders sein sollte, als Der, Dessen Name unter dem Bild stand. Er sah vertraut aus, aber blieb doch ein Fremder. Erst später erfasste ich die volle Bedeutung Seines Bildes.

Im Februar 1960 wurde ich ins Stony-Mountain-Zuchthaus in Manitoba überführt, um dort zu bleiben und den Hauptanteil meiner Strafe – zehn Jahre – zu verbüßen. Weitere Verbindung mit dem Meister kam mit und durch jene liebe Seele Betty zustande, die mir weitere Bücher schickte. In einem der Bücher sah ich das Bild von Hazur – Baba Sawan Singh Ji, des Meisters Meister. Ich begann mir darüber Gedanken zu machen, dass Er die Person meiner Erfahrung sein könnte und das verwirrte mich: Ich öffnete die Bücher bei den zwei Bildern und sah zwei Männer, verschieden und doch gleich; Sie beide waren die Person meiner Erfahrung. Aber wie konnte das sein? Ich hatte nur einen Mann gesehen.

Während ich darüber brütete, kam mich der liebe Mr. Rattray besuchen – inzwischen verstorben, er war des Meisters kanadischer Repräsentant. Das war im Jahr 1961. Mr. Rattray übermittelte mir im Namen des Meisters die Initiation und obwohl ich die Erfahrung der goldenen Sonne nicht wieder hatte, war es eine Erfahrung, die ich nicht so bald vergessen werde. Ich nahm nach der Initiation die Betrachtung der beiden Bilder wieder auf, und während ich so dasaß und auf die beiden Bilder schaute, verschmolzen sie miteinander und wurden eines. Das war der Mann. Er war eine Vereinigung oder eine Verschmelzung von meinem und Seinem Meister. Diese Erkenntnis stützte mich in den folgenden Jahren.

Es gab Zeiten, in denen ich in meinen Meditationen keinerlei Fortschritt machte und diese häuften sich von 1963 bis 1965. Zweifel senkten sich in mein Gemüt und ich dachte mir, dass ich wieder anfangen sollte zu suchen. Ich trat verschiedenen Gruppen bei, besuchte einen Kursus vergleichender Religionswissenschaften, kaufte die Schriften der zwölf großen Religionen und studierte sie drei Jahre hindurch mit dem Wunsch nach Verständnis, obgleich ich niemals die Lehren des Meisters verließ. In all meinen Studien konnte ich nicht den Frieden finden, den ich beim Meister gefunden hatte und in der Tat bekräftigte all mein Studieren die Lehren des Meisters.

Ich vertiefte mich allmählich sehr in des Meisters Bücher und alles, was über Ihn geschrieben worden war und die Dinge begannen sich zu ändern; kleine Dinge, zum Beispiel, dass mir das Wachpersonal traute, andere Gefängnisinsassen bei mir um Rat und Verständnis für ihre Probleme nachsuchten, einige Mitglieder des Personals mich als Verbindungsmann benutzten, als ein inoffizielles Mitglied des Insassenkomitees, um sicherzustellen, dass Ereignisse wie der Sporttag, Konzerte und besondere Veranstaltungen reibungslos vonstatten gingen. Ich hatte im Rundfunkstudio die Aufgabe, die Rundfunksendungen für die Anstalt zusammenzustellen und dies brachte mir eine offene Zelle ein, sodass ich andere Insassen besuchen konnte, die irgendwelche Sorgen hatten. Ich hatte dieses Vorrecht während der zehn Jahre, in denen ich dort Dienst leistete. Nach dieser Zeit reichte ich ein Gnadengesuch ein. Aber das Gesuch wurde abgelehnt. Das bereitete mir etwas Kummer, aber nicht lange, da ich viel zu tun hatte. Im Jahr 1970 wurde ich in die Matsqui Institution in Britisch-Kolumbien überführt.

Hier kam ich mit Arran Stephans und der Satsanggruppe in Vancouver in Verbindung. Es war mir nun möglich, ab und zu den Satsang zu besuchen. Das Personal hier war mir gegenüber unsicher und sie brauchten ein ganzes Jahr, um mich kennenzulernen, zu verstehen, wie ich war und was sie von mir erwarten konnten. Ich reichte 1971 wieder ein Gnadengesuch ein und es wurde abermals für zwei Jahre hinausgeschoben. Während dieser Zeit kam ich mit einem Arbeitsfeld in Berührung, von dem ich oft gehört hatte – mit zurückgebliebenen Kindern – und begann mich intensiv damit zu beschäftigen.  Im Januar 1972 wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, unentgeltlich für eine Zweigschule in Surrey zu arbeiten. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf. Nun gehe ich wieder zur Schule, damit ich fähiger wurde, in diesem Bereich zu helfen.

Ich empfinde tiefes Bedauern für einige meiner Handlungen und tiefe Achtung für die Ergebnisse jener Taten. Ich habe beide Seiten des Lebens kennengelernt. Der Höhepunkt kam für mich im November 1972, als der Meister nach Britisch-Kolumbien kam. Ich konnte nicht dabei sein, um Ihn ankommen zu sehen, aber die nächsten drei Tage war ich bei Ihm.

Freitag Abend war ich im Unity Centre in Vancouver und sah endlich den Meister persönlich. Die Begegnung mit einigen der vielen Freunde, die ich während der Jahre gewonnen hatte – der lieben Betty Shifflett, Mrs. Lucille Gunn, Mr. Khanna – raffte in einem Nu all die Jahre des Wartens zusammen. Nach des Meisters Vortrag gingen Barry Cantor und ich in das Motel, wo der Meister untergebracht war, und warteten auf die Ankunft von Arran Stephens und Ted Cropp – dem christlichen Kaplan der Matsqui Institution. Durch Arrans Vermittlung wurde mir die Ehre zuteil, den Meister in Seinem Schlafraum zu sehen. Ted Cropp und ich wurden in den Raum gebracht und saßen vor dem Meister auf dem Boden. All die Fragen, die ich Ihm während der letzten 13 Jahre hatte stellen wollen, wurden dadurch beantwortet, dass ich nur zu Seinen Füßen sitzen und in Seine wundervollen Augen schauen konnte. Worte schienen zu unzulänglich zu sein, denn aus Seinen Augen kamen die Antworten auf jeden meiner Gedanken. Ich ging zu den anderen Vorträgen und jedes Mal, wenn ich den Meister sah, wurde ich weiter in den Zustand vollkommener Versenkung emporgehoben. Ich erkannte nicht, wie vollkommen Er war, bis zu dem Sonntag, an dem der Meister abreisen musste.

Ted hatte mich zum Flughafen gefahren, um den Meister abfliegen zu sehen und wir kamen dort an, als Er Sich gerade anschickte, ins Flugzeug zu gehen. Ich stand neben der Tür, durch die Er gehen musste und als Er hindurchging, schien Er mich mit einem tiefen Blick anzuschauen. Ich folgte Ihm zusammen mit den anderen Satsangis bis hinunter zur Rampe und sah zu, wie Er die Zollformalitäten erledigte. Dann überwältigte mich ein Gefühl und ich ging zurück zum Fenster des Vorraumes und beobachtete Sein Flugzeug, wie es zur Rollbahn fuhr und schließlich abhob. Ich sah Ihm nach, bis es am Himmel außer Sichtweite war. Wie ich so in den leeren Himmel starrte, fühlte ich, dass ich einen Teil meiner selbst verloren hatte, der mir lieb und teuer war, und ich begann zu gehen. Ich ging bis zu einem Stück Land namens Wreck Beach – ungefähr 16 Kilometer vom Flughafen entfernt –, wo ich mich hinsetzte, hinaus auf den Ozean blickte und versuchte, mir der Gefühle in mir klar zu werden. Ich ging zum Busbahnhof und nahm den Bus zurück zur Matsqui Institution, nachdem ich Arran und die Cantors angerufen hatte.

Während der Busfahrt, als ich aus dem Fenster schaute, ohne die vorübergleitende Landschaft wahrzunehmen, wurde mir bewusst, dass ich nichts verloren hatte, nur die physische Verbindung mit dem Meister. Er war bei mir – in mir – und an der Stelle stehend, wo ich Ihn und Hazur an jenem Tag im Jahr 1959 gesehen hatte, erkannte ich, was Er meinte, wenn Er sagt, dass die physische Anwesenheit nicht genug ist: Wir müssen im Denken und im Geist beisammen sein, um wahrhaftig vereint zu sein.

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Quelle: Sat Sandesh / März–April 1974, S. 57 ff.