XXVII

Wie man Empfänglichkeit entwickelt – I

29. Dezember 1967

Leben kommt von Leben. Die Ausstrahlung eines Menschen, Der von der Kraft belebt wird, durch die Sich Gott zum Ausdruck bringt, kann sich auf einen anderen übertragen, der empfänglich ist. Er mag weit entfernt oder ganz nah sein – wenn er nicht empfänglich ist, kann er dieses Leben nicht erhalten. Leben strahlt durch Leben aus und auch durch die Augen. Die Augen sind die Fenster der Seele. Die Seele, die durch die Verbindung mit Gott belebt wird, kann dieses Lebensprinzip durch die Augen ausstrahlen – nicht durch den Verstand. Mit dem Verstand können wir nur Dinge unterscheiden. Leben wird durch Leben übertragen und nur an jene, die empfänglich sind. Sonst können sie dies Leben nicht erhalten.

Spiritualität kann man also nicht lernen, aber sie kann empfangen werden wie eine Infektion von denen, die empfänglich werden. Ein Mensch mag für Jahre im selben Haus wie der Meister wohnen und doch mag er keinen einzigen Funken der Spiritualität haben. Ein Mensch, der weit entfernt wohnt, und der empfänglich ist, wird mehr Vorteil erlangen als jemand, der nah wohnt, jedoch nicht empfänglich ist. Im Leben eines empfänglichen Menschen sammeln sich alle guten Eigenschaften. Deshalb sagt Kabir, dass es sinnlos ist, physisch beim Meister zu sein, wenn euer Gemüt nicht für den Gott im Menschen empfänglich ist.

Empfänglichkeit lässt sich entwickeln, wenn man alle fremden Gedanken vertreibt. Was bleibt, seid ihr und Er. Ihr wirkt hinter den Augen und der Gott im Menschen wirkt auch dort. Die Augen sind die Fenster der Seele, und der Gottmensch lehrt andere durch die Augen – ohne zu sprechen. Was ich euch sage, ist natürlich ein sehr schwieriger Punkt. Ihr könnt jahrelang beim Meister wohnen und dennoch kein Leben entwickeln. Wie ihr denkt, so werdet ihr. Dieses Leben fließt in euer Leben über, wenn ihr empfänglich werdet. Ihr werdet eins mit Ihm und nie mehr zwei sein.

Deshalb hat Paulus gesagt:

Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.

Genau das haben fast alle Meister gesagt, ob sie nun in Indien oder woanders lebten.

Maulana Rumi sagte:

Ich bin so erfüllt von meinem Meister, dass ich vergessen habe, wie ich heiße und ob Er in mir ist oder ich in Ihm bin. Ich kann es nicht unterscheiden.

Also ist dies etwas, das mit dem Schicksal derer kommt, die empfänglich werden. Er ist alle Weisheit, Gnade, Barmherzigkeit und Liebe. Diese Eigenschaften könnt ihr in euch entwickeln, wenn ihr empfänglich werdet – nicht durch Worte. Durch Worte versteht ihr auf der Ebene des Verstandes; aber wenn ihr nicht empfänglich werdet, kann kein Leben auf euch ausstrahlen und in euch einströmen. Versteht ihr? Das ist der Grund, warum Hunderte von Menschen im gleichen Hause wie der Meister leben mögen und dennoch keine Spiritualität entwickeln.

Ich habe euch zwei Beispiele gegeben, eines von Paulus und ein anderes von Maulana Rumi. Ein solcher Mensch wird Gurumukh genannt. Er wird zum Sprachrohr des Gurus, aber nicht auf der Ebene des Verstandes. Auf der Ebene des Verstandes könnt ihr euch vieles merken, was der Meister gesagt und gelehrt hat. Aber das hat kein Leben – weil ihr nur auf der Ebene des Verstandes sprecht.

Leben oder Bewusstheit ist etwas ganz anderes als intellektuelles Ringen oder Streiten. Versteht ihr jetzt, was ich sagen will? Wir kommen da auf einen sehr schwierigen Punkt zu sprechen. Diese Dinge kann man nicht schriftlich erklären. Geschriebenes kann nicht die Worte übertragen, die ein Mensch direkt spricht und die mit höherem Leben geladen sind.

Deshalb hat Soami Ji gesagt:

Wenn ihr zum Satsang geht, dann zieht den vollen Nutzen daraus.

Wie? Vergesst alles, wenn ihr zum Satsang kommt. Vergesst selbst die Umgebung und wer neben euch sitzt. Vergesst auch euren eigenen Körper. Dann bleiben nur ihr und Er. Augen sprechen zu Augen. Die Augen sind die Fenster der Seele. Wenn ihr euch derart vertieft, werdet ihr empfänglich und erhaltet Leben.

Leben kann nicht durch Papier oder den Verstand übertragen werden. Der Verstand erklärt nur, was eben mit Worten erklärt werden kann und nichts weiter. Die Sprache ist manchmal recht unzulänglich. Wir sind bewusste Wesen und wir werden bewusster, wenn wir durch die Empfänglichkeit das Brot des Lebens erhalten. Diese Ausstrahlung kann man ganz nahe beim Meister oder auch Tausende von Kilometern entfernt empfangen. Durch Funk und Fernsehen hört und seht ihr über Tausende von Kilometern hinweg. Wenn ihr das Mensch gewordene Naam – das Fleisch gewordene Wort – seid, warum sollt ihr dann nicht auch überallhin ausstrahlen können? Ihr könnt es. Wer Empfänglichkeit entwickelt, erhält das wahre Brot des Lebens und das wird ihm mehr Leben geben.

Das Leben ist bereits in euch, aber ihr habt euch noch nicht selbst erkannt, weil ihr von Gemüt, Materie und den nach außen fließenden Energien umhüllt seid. Ihr habt euch so sehr mit dem Körper und den äußeren Dingen identifiziert, dass ihr euch nicht von ihnen lösen und erkennen könnt, wer ihr wirklich seid. Wenn ihr euch mit eurem höheren Selbst verbindet – mit einem Menschen höchster Bewusstheit – dann entwickelt ihr euch weiter.

Guru Nanak hat gesagt:

Nur der lebt, o Nanak, dessen Seele sich mit Dem vereint, Der das Sprachrohr der Kraft ist, die Wort oder Naam genannt wird, durch die Sich Gott zum Ausdruck bringt.

Wenn ihr für Ihn empfänglich werdet, Der das Fleisch gewordene Wort ist, werdet ihr natürlich mehr Leben erhalten.

Wie ich euch sagte, kann man Spiritualität nicht lernen, sondern nur aufnehmen, wenn man empfänglich wird. Nur durch Liebe könnt ihr empfänglich werden. Ein Liebender bleibt auch unter Tausenden von Menschen ganz allein, weil all seine Aufmerksamkeit auf den Meister gerichtet ist, mit Dem er sich ausschließlich beschäftigt. Nur so könnt ihr Empfänglichkeit entwickeln. Wenn ihr empfänglich werdet, erhaltet ihr mehr Leben. Durch intellektuelle Gespräche werdet ihr nur verstehen, was mit Brot des Lebens gemeint ist und nicht mehr.

Es gibt im Sanskrit das Wort Upasna. Upasna bedeutet ,bei einem Meister sein‘. Nichts steht zwischen euch und dem Meister. Er ist vollkommen bewusst und auch ihr seid bewusste Wesen. Bewusste Wesen sollten nichts zwischen sich haben – außer vielleicht den physischen Körper, die nach außen fließenden Energien oder den Intellekt. Über diese Dinge sollten wir uns erheben und uns mit dem höheren Selbst verbinden. Das können euch nur Jene lehren, Die von diesem Leben erfüllt sind. Wer nicht mit dem höheren Selbst verbunden ist, kann das Leben nicht erhalten. Wenn ihr dieses Leben erhaltet, werdet ihr zur Wohnstatt aller Tugenden. Durch Selbstprüfung werdet ihr alle Unvollkommenheiten ausmerzen. Ihr versucht zwar diese höheren Tugenden zu entwickeln; aber ihr scheitert dann und wann.

Doch wenn ihr dieses Leben in euch erhaltet und dazu die Selbstprüfung beachtet und tagtäglich alle Unvollkommenheiten in euch ausmerzt, wird eure Verbindung stärker. Wenn ihr für einen Gottmenschen empfänglich werdet, braucht ihr kein Tagebuch oder ähnliches. Ihr werdet das Leben unmittelbar erhalten und wenn ihr es bekommt, löst ihr euch von allem anderen. Am Feuer weicht natürlich alle Kälte. Habt ihn nun wirklich verstanden, was ich euch sagen will? Eben das gibt euch die physische Gegenwart des Meisters.

Wer zum Meister kommt und keine Empfänglichkeit entwickelt, glaubt, dass er durch seine eigenen Bemühungen mehr erreichen wird (ein kleiner Anstoß wird ihm natürlich helfen) – doch durch die Empfänglichkeit lernt ihr mehr, als auf jene andere Weise. Was tut ihr, wenn ihr meditiert? Ihr müsst euch bemühen; aber es sollte eine Bemühung ohne Mühe sein, bei der die Frage: Wer handelt? nicht auftaucht. Ihr solltet alle Hoffnung auf den Einen vor euch setzen oder auf die Kraft, die auch in euch wirkt. Die Bücher geben euch Hinweise, aber nicht das, was euch gerade erklärt wird. Kabir sagt, dass es kein Upasna ist, wenn ihr jemandem körperlich nahe seid, aber eure Gedanken in der ganzen Welt umherschweifen. Ihr könnt dann nicht den vollen Nutzen aus der Gegenwart des Meisters schöpfen.

Der Meister ist ja nicht der physische Körper. Er hat einen physischen Körper, um durch ihn zu wirken, aber Er ist das Fleisch gewordene Wort. Der Meister gibt euch eine bewusste Verbindung mit der zum Ausdruck kommenden Gotteskraft – dem Licht und dem Tonstrom. Je mehr ihr euch mit dem Licht und dem Tonprinzip im menschlichen Körper verbindet, wo sie sich offenbaren, um so mehr Leben werdet ihr haben. Leben kommt von Leben, und ihr erhaltet es, wenn ihr empfänglich werdet.

Bei der Initiation werdet ihr mit der Kraft verbunden, durch die Sich Gott zum Ausdruck bringt. Wenn ihr das täglich übt, dann könnt ihr es entwickeln. Gleichzeitig solltet ihr euch selbst prüfen und alle Unvollkommenheiten ausmerzen. Je mehr ihr euch mit dieser Kraft verbindet, desto mehr Liebe, Weisheit und Leben werdet ihr erhalten. Durch Gespräche und Vorträge beginnt ihr, etwas zu begreifen, aber ihr erhaltet es nicht. Verstehen ist eine Sache – doch dieses Sein, dieses Leben zu erlangen, ist eine ganz andere.

Wie ich euch gestern sagte, ist der Satsang eine Schule, in die ihr nicht nur geht, um etwas über die Spiritualität zu lernen, sondern um sie auch zu erhalten. Zuerst begreift ihr, worum es geht. Dann nehmt ihr durch Empfänglichkeit das Leben in euch auf. Das ist ein sehr weites Gebiet. Wenn ihr euch damit befasst, versteht ihr mehr und mehr und mehr. Über Tausende von Kilometern hinweg seid ihr Ihm ganz nah, wenn ihr empfänglich seid.

Daher hat Kabir gesagt:

Der Meister mag jenseits der sieben Meere leben und der Schüler diesseits – wenn er seine Aufmerksamkeit einfach auf den Meister lenkt, ist er genauso gesegnet, als ob er Ihm ganz nah wäre.

Wenn ich beispielsweise Anträge auf Initiation bekomme, schreibe ich zurück:

Gut, gebt ihm die Meditationsanweisungen.

Die Wort-Kraft stellt die Verbindung her. *Unterliegt nie der Täuschung, dass die Person, welche die Anweisungen übermittelt, der Gebende ist. Sie ist nur das Gefäß, durch das die Anweisungen gegeben werden. Ihr könnt die Initiation selbst Tausende von Kilometern entfernt erhalten, ohne zu irgendjemandem zu gehen, wenn ihr empfänglich werdet. Aber gewöhnlich verstehen das die Menschen nicht. Das ist, warum manche Menschen bevollmächtigt sind, die Initiationsanweisungen zu übermitteln. Tatsächlich wird die Initiation genau in dem Augenblick vollzogen, in dem sie genehmigt wird. (* Die Übersetzung dieses Abschnitts ist an die englischsprachige Erstedition von 1970 angeglichen; Anm. d. Redaktion 2011.) Das macht das Wort in euch oder der Menschliche Pol, in Dem sich das Wort vollkommen offenbart.

Versteht ihr jetzt, was ihr beim Satsang lernt – was ihr durch ihn gewinnt? *Zuerst kommt das Lernen durch Theorie auf dem intellektuellen Level und dann das Erhalten des Brot des Lebens. Das wird eurer Seele Stärke geben. Von der Spirituellen Gesundheit hängt das Leben von beidem, Gemüt und Körper ab. Alle Unvollkommenheiten werden euch verlassen, genau wie alle Kälte euch verlässt, wenn ihr an einem Feuer sitzt. Durch das Hören des Tonstromes werdet ihr zur Wohnstätte aller Tugenden. Durch Hören könnt ihr die Richtung erfassen, in welche ihr gehen müsst. Durch Hören wird euer Inneres Auge geöffnet, damit ihr seht, wohin ihr geht. Es ist schade, dass wir diesen Dingen wenig Zeit widmen und unsere Zeit nur mit unbedeutenden Dingen vergeuden, würde ich sagen. Wenn ihr eine Sache verstanden habt, dann haltet sie ein. Solange ihr noch nicht verstanden habt, wird euch der Satsang helfen. Wenn ihr etwas erhalten habt, dann lebt danach und seid nur in der Gemeinschaft von Einem, Der dieses Leben in Sich hat. Das wird euch einen Auftrieb geben.

Diese Dinge sind zu verstehen und dann zu leben. Durch das Reden über Brot kann euer Hunger nicht gemildert werden, sondern ihr müsst Brot essen.

Das ist, warum Christus sagte:

Ich bin das Brot des Lebens. Dieses Brot des Lebens ist vom Himmel gekommen. Wer auch immer davon nimmt, wird Ewiges Leben haben.

Nehmt davon – Er ist natürlich das Brot des Lebens. Er sagt auch:

Esst mich und trinkt mich.

Was essen? Er ist das Fleisch gewordene Wort. Je mehr ihr mit dem Wort, dem Licht und Ton in euch, in Verbindung kommt und davon esst, umso mehr werdet ihr von dem Brot des Lebens essen.

* (Die Übersetzung dieses Abschnitts ist an die
englischsprachige Erstedition von 1967 angeglichen;
Anm. d. Redaktion 2011.)