Tracy Leddy

Nathan

Nathan hatte keine Ahnung, welche Kraft oder Macht ihn zu diesem abgelegenen Ort gezogen hatte; aber hier war er nun und wanderte langsam eine namenlose, unbefestigte Straße in einem entlegenen Gebiet des Landes entlang, wobei er tiefe Wälder bewunderte, die auf beiden Seiten im Oktoberlaub glühten, und er fühlte sich wundervoll erregt wie noch nie in seinem Leben. Bei der Wegbiegung ging er ziemlich schüchtern an der Menschenmenge nahe dem alten Bauernhaus vorbei und lenkte seine Schritte zu dem Weg auf der einen Seite des Hauses, der einen schmalen Abhang hinunterlief und zu einem offenen Platz mit einer kleinen Quelle führte. Seine unerklärliche Aufregung wurde noch größer, als er das Holzhaus am Ufer des Gewässers sah; es sah so einfach und wohnlich aus wie eine für einen König gebaute Hütte. Er ließ sich bei einigen anderen Leuten nieder, die still auf dem grasbewachsenen Boden saßen, und sein Gefühl gespannter Erwartung wuchs. Er hatte mit niemandem gesprochen, hatte niemanden erkannt, und doch fühlte er sich an diesem friedvollen Ort ganz zu Hause.

Schließlich öffnete sich die Tür des Hauses und ein Mann kam heraus, um die Leute zu begrüßen, die auf ihn warteten. Nathan studierte ihn, wie er es mit den meisten Menschen tat, denen er begegnete, und entschied schnell, dass er bei seinem vielen Umherwandern noch nie so ein warmes und mitleidvolles Gesicht gesehen hatte. Der Mann war so natürlich und zugleich so würdevoll. Nathan bemerkte, dass er mit den anderen die Hände faltete und sich verbeugte, um den Gruß des Mannes zu erwidern. Als der Mann zu sprechen begann, wurde er gewahr, wie ruhig seine Umgebung geworden war. Kein Wind bewegte die trockenen Blätter in der kalten, klaren Luft; die Wolken schienen gänzlich still zu stehen. Es war, als sei der Himmel selbst der Erde näher gekommen, um den sanften Worten des Mannes zu lauschen.

Er sagte:

Einmal lebten wir alle im Schoße Gottes, und jetzt sind wir unfähig, unseren Weg zurück zu unserer Wahren Heimat zu finden. Was wir brauchen ist einer, Der Sich Selbst von diesem irdischen Gefängnis befreit hat, einer, Der auch uns befreien und zurück in den Schoß Gottes führen kann, Der alle Seligkeit, alles Licht und alle Freude ist.

Bei dem ersten Satz des Mannes erfüllte ein reißender Schmerz Nathans Herz und blieb darin. Unverwandt hörte er zu, wagte kaum, sich zu bewegen, aus Furcht, es könne ihm auch nur eine einzige kostbare Silbe der Worte entgehen, um derentwillen es ihn so unwiderstehlich hierher gezogen hatte. Und sein Herz wurde wund. Wenn die Augen des Mannes, die ständig über die zu Ihm erhobenen Gesichter wanderten, sich auf Nathan richteten, schien es ihm, als käme ein Regenbogen aus ihnen hervor, der sich an seine Augen heftete und dabei unmittelbar ein stärkeres Band herstellte als die Schnur, die ihn einst an seine Mutter gebunden hatte. Und in diesem Augenblick war Nathan für immer an diese Kraft verloren, die in dem Mann offenbart war.

Ich gehöre zu Dir, tu mit mir, was Du willst,

sagte er in seinem Herzen zu dem Mann.

Was auch immer Du von mir verlangst, wie schwierig es auch sein mag, ich werde gehorchen. Es gibt für mich jetzt keine andere Möglichkeit mehr zu leben.

Der Mann schaute lange in Nathans Augen und fuhr dann fort:

Gott sagt: ‚Ich bin der verborgene Schatz in dir. Warum kommst du nicht, um mich zu finden?’

Und wieder sagte Nathan in seinem Herzen:

Was auch immer Du sagst, das soll meine Aufgabe sein.

Während er dasaß und unentwegt zu dem Mann hinaufschaute, schien es Nathan, als säße der Mann vor einer offenen Tür, einer riesigen Tür, die sich zu der allein wirklichen Welt hinter Ihm öffnete. Tief in seinem Innern hörte er die alten, alten Worte:

Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Das Gesicht tränennass, senkte Nathan seinen Kopf bis zum Boden.

Am nächsten Morgen zeigte der Mann Nathan einen Schimmer jenes Schatzes, von dem Er gesprochen hatte, damit Nathan dessen, was er suchte, sicher sei. Und es war, als ob ein großer Stein von der Mitte eines Berges weggerollt worden wäre, und der Glanz vieler Sonnen war zu sehen. Nathans Atem stand völlig still. Als die Vision vorüber war, zog sich sein Herz in seinem Innern wieder zusammen, und er gelobte:

Ich werde dieses Licht suchen, wenn es sein muss, mein ganzes Leben lang, aber ich werde Es ausgraben.

Nachdem er Ihm für Sein Geschenk gedankt hatte, nahm er Abschied von dem Mann und ging in die Welt zurück, um mit seiner Arbeit zu beginnen.

Nathans Leben änderte sich dramatisch. Nicht, dass er jemals stark an die Freuden dieser Welt gebunden gewesen wäre, jetzt aber aß er nur noch einfachste Nahrung; er las nur die Lebensberichte anderer Schatzsucher. Es war ihm gleichgültig, welche Arbeit er in der Welt verrichtete, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen; er blieb soviel wie möglich allein und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das wunderbare Licht in seinem Innern und auf den Mann, der ihn befähigt hatte, es zu sehen. Wenn er unter Menschen sein musste, tat er sein Bestes, um freundlich, hilfsbereit und liebevoll zu sein, so wie der Mann, der ihm geholfen hatte.

Aber es war ein langer, mühsamer Prozess. Meistens war kein Licht da, nur die Erinnerung daran; der Dunkelheit in ihm schien eine steinerne Dichte und Schwere eigen zu sein. Er fühlte sich wie ein Bergmann, der – mit einem Eispickel und seinen bloßen Händen ausgerüstet … vor einem riesigen Berg steht, einem Berg von Wünschen und scheinbar endlosem Selbstbetrug, vor seinem eigenen Berg. Das Graben war eine entmutigende Arbeit. Zeitweise schien der Berg undurchdringlich, und dann rief er verzweifelt nach dem Mann um Hilfe. Jedes Mal, wenn er das tat, kamen einige Worte klingend in sein Herz, um ihn zu beruhigen:

Hab Geduld, Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Du weißt, dass am Ende des Tunnels Licht ist. Verzweifle nicht! Schöpfe neuen Mut und grabe tiefer! Suche, so wirst du finden.

Und dann war ein schwacher Strahl da, ein Lichtschimmer durch den ganzen schweren Felsen und Stein hindurch; dann erinnerte er sich an das prachtvolle Licht, das er gesehen hatte, und grub mit größerem Eifer als vorher weiter. An einer Stelle entdeckte Nathan, dass ihm noch ein anderes Werkzeug zur Verfügung stand: seine Aufmerksamkeit. Er fand heraus: Je genauer er seine Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegende Arbeit richtete, desto tiefer drang er in den Berg ein. Die Wirkung war wie die eines Laserstrahles.

Jahrelang grub Nathan immer weiter. Sein Tunnel in den Berg seiner selbst begann sich auszudehnen. Er fand nun die Kraft, im Wege liegende Felsblöcke nach und nach immer leichter aufzuheben. Er entdeckte auch, dass seine Aufgabe umso leichter wurde, je mehr Hilfe er von dem Mann erbat. Aber selbst während er arbeitete, selbst als der Weg sich langsam vor ihm öffnete, fühlte sich Nathan dem Licht nicht näher. Irgendwo war etwas nicht in Ordnung. Irgendein unverrückbares Hindernis schien seinen Weg zu blockieren; und das Bewusstsein dieser Situation quälte ihn sehr und ließ ihn keinen anhaltenden Frieden finden.

Einmal geschah es, dass er an einem Ort Leute besuchte, die er einige Jahre zuvor unter unglücklichen Bedingungen verlassen hatte. Er sah, dass er auf die Situation so reagierte, wie er es vor der Begegnung mit dem Mann getan hätte. Er erkannte, dass er von Selbstsucht, Ärger, Groll und Schmerz erfüllt war. Ein alter Freund sagte zu ihm:

Du siehst, Nathan, dein gegenwärtiges Leben mag sich geändert haben, aber diese Dinge sitzen sehr tief. Du musst sie untersuchen, ihre Ursachen herausfinden und dann von ganzem Herzen jedem vergeben, der dich in der Vergangenheit angegriffen hat.

Nathan weinte und sagte zu seinem Begleiter:

Diese Dinge sitzen so tief, dass ich sie nicht verstehe. Sie müssen nahe dem unmittelbaren Kern des Berges verwurzelt sein. Wie kann ich jemals hoffen, sie auszumerzen?

In seinem Unglück gingen seine Gedanken zu dem Mann und zu einigen Worten, die er noch in Erinnerung hatte:

Ihr müsst zu euch selbst wahr sein, zu Gott in euch, Der alles sieht und alles weiß. Wie lange wollt ihr diesen Kummer in eurem Innern mit euch herumtragen und dabei denken, dass ihn niemand sieht?

Und auch andere Worte kamen ihm in diesem Augenblick in den Sinn:

Gott wohnt in jedem Herzen. Wenn ihr das wisst, im Innersten eures Herzens wirklich wisst, könnt ihr dann die Gefühle irgendeines Menschen verletzen?

Etwas später in dieser Nacht als Nathan sehr niedergeschlagen nach Hause zurückkehrte, hatte er einen seltsamen Traum. Er träumte, er wäre ein kleines Kind, das mit seinem Vater vor dem glänzenden Tor eines großen, goldenen Palastes stand. Das Kind weinte untröstlich. Der Vater war liebevoll, aber bestimmt.

Aber ich möchte nicht gehen,

flehte das Kind jämmerlich.

Ich liebe hier alles und ich sehe dich oft.

– Es bleibt dir keine andere Wahl, mein Sohn,

antwortete der Vater.

Selbst dieser Ort ist nicht deine Wahre Heimat. Ich möchte, dass du den ganzen Weg zurückkommst, um für immer bei mir zu bleiben, und das ist allein auf diese Weise möglich.

– Wie lange muss ich fort sein?

schluchzte das Kind.

Ich fürchte, ich werde nicht fähig sein, woanders als hier und bei dir zu leben.

– Ich will dir zwei Erleichterungen gewähren, mein Kind. Die Täuschung wird für dich dort unten schnell vergehen, und ein strebsames Herz wird die Reise beschleunigen.

Widerstrebend, aber gehorsam, hielt es die Hände seines Vaters fest und blickte zum letzten Mal auf den strahlenden Glanz, den es so lange sein Zuhause genannt hatte.

Geh,

sagte er, während er sanft seine Hände losließ.

Die Sterne sind bestimmt, die Familie ausgewählt, der Weg vorgezeichnet. Am Ende des Weges wirst du deine Rückkehr beginnen. Zaudere nicht, mein Sohn, ich werde auf dich warten.

Und als das Kind zu ihm aufschaute, strömte das Gesicht seines Vaters allen Glanz um sie her aus. Er nahm einen letzten Atemzug von dieser duftenden, klingenden Luft, riss seinen Blick von seines Vaters Gesicht los, stürzte sich in den dunklen Brunnen, der zu ihren Füßen lag, und wurde in die physische Welt geboren.

Nathan erwachte in einem Anfall von Schmerz. Laute Wutschreie zerrissen die Luft.

Ich wollte nicht geboren werden! O Gott, ich wollte wirklich nicht geboren werden!

Außer sich vor dieser nie befreiten Leidenschaft, warf Nathan einige Kleider über, stürzte aus dem Haus und lief in die umliegenden Wälder. Er rannte durch die Büsche, ohne darauf zu achten, ob seine Ärmel zerrissen oder seine Stiefel schmutzig wurden. In seinem Kopf raste es; so viel Erkenntnis kam ihm auf einmal. Oft hielt er an und schrie aus Leibeskräften. Schmerz und Ärger schienen von den Zehen herauf hochzusteigen. Er sah zum allerersten Mal die vergrabenen Gefühle des Hasses und Grolls gegen Gott und die Menschen, die er in seinem Herzen herumgetragen und die er so lange vor sich selbst, vor Gott und vor anderen zu verbergen gesucht hatte. Er fühlte sich elend, er gestand sich ein, wie er von ihnen Gebrauch gemacht hatte, um sich von der Welt und seinen Mitmenschen auf höchst unnatürliche Weise zurückzuziehen. Und er erkannte mit wachsendem Entsetzen, dass alle diese Gefühle gegen Gott, nicht gegen die Menschen gerichtet waren, und er zitterte, die Tiefen seiner eigenen Absonderung zu sehen.

Mit einem weiteren lauten Schrei warf sich Nathan zu Boden; da lag er und weinte sein Herz aus. Er begriff, dass er jetzt die ganze Schöpfung umarmen musste – um Gottes willen –, so wie er sie in der Vergangenheit – um seiner selbst willen – abgelehnt hatte. Das Gesicht am Boden bat er den Mann, für ihn Fürsprache einzulegen, ihm seine Torheit zu vergeben und um die Gabe, anderen vergeben zu können. Und bald war sein ganzes Wesen in die Wasser allumfassender Vergebung und Liebe getaucht, ja, man könnte sogar sagen, mit ihnen getauft.

Und in dem Berg seiner selbst wurde mit einem Geräusch wie Donner der letzte große Stein für immer fortgerollt, und Nathan erblickte wieder das Licht von vielen Sonnen. Die Mauern, die es verborgen hatten, schienen sich in nichts aufzulösen, und alles um ihn her war Licht. Mit großer Erleichterung und Freude trat Nathan in das Licht ein und umfasste es und wurde danach Eins mit Ihm.

_______________

Quelle: Sat Sandesh / September–Oktober 1973.