XXII

Stufenfolge des Gebets

Im Laufe der Zeit fühlt der Höherstrebende mehr und mehr die Notwendigkeit einer spirituellen Erhebung und ist weniger auf physische Bequemlichkeit bedacht.

In der Brihadaranyaka Upanishade finden wir folgendes Gebet:

Vom Unwirklichen führe mich zum Wirklichen, aus Dunkelheit führe mich zum Licht, und vom Tod führe mich zur Unsterblichkeit.

Sobald der Sucher beginnt, eine innere Erfahrung zu machen, verlieren alle weltlichen Freuden ihren Reiz für ihn. Wenn er diese Erfahrung des Unwandelbaren hatte, wie klein sie auch immer gewesen sein mag, findet er keinen Gefallen mehr an den sich verändernden Dingen der Welt, die dem langsam fortschreitenden Verfall, der Auflösung und schließlichen Zerstörung unterworfen sind. Er fragt dann nicht mehr nach physischen Annehmlichkeiten.

Worum soll ich bitten, wenn nichts beständig ist.

Kabir, Dhanasari Kabir

Die ganze Welt ist dem Prinzip Epikurs versklavt: Esst, trinkt und seid fröhlich. Keiner hat Zeit, an Gott und das innere Selbst zu denken. Doch nichts in der Welt übt auf den wahren Sucher eine Anziehungskraft aus. Er macht von allem, was ihm begegnet, den besten Gebrauch und arbeitet nur, um den bloßen Bedürfnissen seines Körpers zu genügen. Den Rest seiner Zeit wendet er für Sadhana (spirituelle Disziplin) auf, um größten Vorteil für seine Seele daraus zu ziehen.

Seit undenkbaren Zeiten habe ich das Leben bis zur Neige gekostet. Ohne Deine rettende Gnade, o Gott, wird Nanak nicht erlöst.

Guru Arjan, Gauri M5

Danach lebt der Strebende nur noch für die Offenbarung der Gottheit in sich und um Seinen Namen zu lobpreisen.

Lass die Lotosfüße des Meisters in deinem Herzen ruhen, lass die Zunge sein heiliges Wort wiederholen, um ein Leben ständigen Gedenkens zu führen, das den lebendigen Tempel des Herrn nährt.

Guru Arjan, Bihagra War M5

Während er auf diesem Pfad ist, erkennt der Pilger seine Unwissenheit und Unfähigkeit und erhebt seine Hände im Gebet zu Gott:

O Gott! Lass mich sicher ans andere Ufer schwimmen; ich kann es nicht, so strecke mir Deine hilfreiche Hand entgegen.

Namdev, Gond Namdev

Wie sich sein Blickwinkel ändert, so auch die Art seines Gebets. Zunächst bittet der Mensch um die Erfüllung seiner physischen Bedürfnisse; aber wenn einer auf dem spirituellen Pfad beginnt, bittet er um die Beseitigung der Hindernisse, die ihm im Weg stehen, wie der Aufruhr der Sinne, mentale Geschwätzigkeit und eingewurzelte karmische Eindrücke.

Diese Periode ist die schwierigste im Leben eines Sadhak (Übenden). Bis zur tatsächlichen Selbstverwirklichung befindet er sich in einem Zustand dauernder Ruhelosigkeit und wird hin- und hergeworfen. Er gehört weder ganz der Welt, noch gehört er zu Gott. Während er in den Augen der weltlichen Menschen als fromm gilt, weiß er jedoch im Innersten seines Herzens, dass er voller Unzulänglichkeiten ist.

Der sündige Farid ist noch in Schwarz gekleidet, obgleich ihn die Menschen einen Darvesh nennen.

Farid Sahib

In diesem unsicheren Zustand versucht der Sadhak manchmal wegzulaufen und dem Kampf zu entgehen, aber nach einiger Zeit kommt das innere Drängen wieder, und er bekommt Mut und wendet sich Gott zu.

Sollte ein Reisender während der Reise fallen, gibt es nichts zu verwundern und daran auszusetzen. O Kabir, einer der sitzt und nicht die Reise beginnt, hat noch eine unermessliche Entfernung zurückzulegen!

Doch solange ein Mensch nicht imstande ist, seine Sinne und die Sinnesorgane zu bezwingen und das Gemüt von seinem Schwanken zu befreien, leuchtet ihm das wohltätige Licht Gottes nicht.

Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Matthäus 5:8

Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib Licht sein.

Matthäus 6:22

Wer seine zehn Organe in der Gewalt hat, dem leuchtet im Innern das Himmlische Licht.

Guru Arjan, Gauri M5

Die Tücken des Gemüts sind sehr subtil und gefährlich. Oftmals, wenn man es am wenigsten erwartet, liegt es auf der Lauer, um seine Übergriffe zu tätigen. Die eingewurzelten üblen Neigungen sind sehr stark, wenngleich man sie nicht sehen kann. Sie kommen immer wieder an die Oberfläche, um noch mehr Schläge auszuführen, die sich häufig als verhängnisvoll erweisen. Das Tau schlägt blitzschnell zu, mit so scharfen und plötzlichen Windungen und Drehungen, dass der Mensch demgegenüber hilflos ist. Hier nun braucht man den langen und starken Arm des Meisters, den ihm Dieser ebenso rasch zu seiner Rettung entgegenstreckt.

Bezwinge das Gemüt mit der Kraft des Meisters.

Soami Shiv Dayal Singh

Das Gemüt kann nicht zur Ruhe kommen, wenn nicht die schützende Hand der Meisterkraft über ihm ist.

Maulana Rumi

Durch das dauernde Denken an den Meister kommt die schlafende Seele zu sich.

Guru Ram Das, Suhi M4