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Das Gebet definiert

Das Gebet ist der Hauptschlüssel, der das Himmelreich erschließt.

Ein Gebet kann definiert werden als ein schmerzvoller Schrei der Seele in Not und Hilflosigkeit an eine Macht, die vollkommener und größer ist als sie selbst, um Beistand und Hilfe. Es ist im allgemein und gewöhnlich verstandenen Sinn eine Anrufung Gottes oder des Gottmenschen (eines Lebenden Meisters), Der voll kompetent ist, einem durch die Lebensprobleme und die Umwelt gequälten Herzen Frieden und Trost zu geben.

Das Gebet ist der Seele aufrichtiger Wunsch, der ausgesprochen wird oder unausgesprochen bleibt; die Bewegung eines verborgenen Feuers, das im Herzen vibriert.

Viscount Montgomery

Der Weltkluge in diesem wissenschaftlichen Zeitalter betrachtet das menschliche Leben wie irgendeine andere mechanische Einrichtung, die ziellos, allein nach dem Prinzip von „Ursache und Wirkung“, in Bewegung ist und wirkt, ohne eine lenkende Hand dahinter. Entgegen dieser mechanistischen Vorstellung vom Menschen und vom Universum gibt es auch ein organisches Bild. Ohne das Prinzip von „Ursache und Wirkung“, das sichtlich die menschlichen Angelegenheiten bestimmt, zu leugnen, sehen die Vertreter der organischen Theorie die Hand Gottes oder das Gesetz Gottes hinter allem, in dem und durch welches dieses Prinzip arbeitet. Das Gesetz Gottes ist somit die antreibende Kraft oder die ursächliche Kraft, aus der alles Erdenkliche hervorgebracht wird – sei es wissenschaftlicher oder ethischer Natur –, das den göttlichen Willen seiner Absicht entsprechend vollendet. Bedauerlicherweise sehen wir nur den äußeren Ablauf der Dinge und können nicht in die darunter liegenden Tiefen eindringen.

Die allgemeine Erfahrung zeigt, dass der weltkluge Mensch sich trotz aller materiellen Hilfsquellen, die ihm zur Verfügung stehen, tatsächlich in einem Zustand großer Hilflosigkeit befindet. Immer unzufrieden mit dem, was er hat, verlangt er nach mehr und arbeitet unbesonnen und mit allen Mitteln, ob recht oder unrecht, auf dieses Ziel hin, das seinen Wünschen entspricht. Aber all seine Reichtümer, all sein Besitz, Geld und Macht, Name und Ruhm können ihm dies in keinem Maße einbringen. Hilfloser als je zuvor fährt er in der gleichen Weise fort angesichts von Krankheit, Verfall und Tod. Sein Gemüt wird ständig durch unzählige Ängste und eingebildete schreckliche Dinge geplagt. Ohne Verankerungen treibt er steuerlos auf dem Meer des Lebens, eine Zufallsbeute für Wind und Wasser. In dieser erbärmlichen Lage ist er oft dem Selbstmord nahe, und wenn er dem entgeht, schleppt er sich, des Daseins überdrüssig, dahin, bis ihm der Tod Befreiung bringt. Aber selbst im Tod findet er keinen Trost. Er sehnt sich einfach danach, weil er sich nicht anders zu helfen weiß. Dies ist die traurige Geschichte des gewöhnlichen Menschen in dieser Welt.

Auf der anderen Seite versucht auch ein wirklich kluger Mensch, Mittel für ein angenehmes Dasein zu erlangen, aber im Gegensatz zu dem Vorgenannten ist er von ihnen nicht besessen. Er sieht hinter all seinen Bemühungen die Hand Gottes und wird niemals durch Erfolg oder Misserfolg in seinem Streben beeinflusst. Er überlässt das Resultat dem „göttlichen Willen“, denn Er allein weiß, was ihm zu besitzen gut ist. Wenn die Dinge so zu ihm kommen, wie er es wünscht, ist er nicht stolz darauf, sondern nimmt sie mit aufrichtigem Dank im Herzen an. Und wenn sich die Dinge anders wenden, ist er nicht mutlos, sondern beugt lächelnd sein Haupt vor dem höchsten Richter, der anders entschieden hatte, und betet bei jedem Schritt zu Gott, denn er weiß, dass er ohne Seine wirksame Hilfe aus sich heraus nichts tun kann.

Genau genommen ist das Gebet ein anderer Name für das Sammeln der nach außen strebenden und wandernden Kräfte des Gemüts. Wie die Sonnenstrahlen verbreiten sie sich in der Welt und können so auch wieder in ihrer Quelle gesammelt und zusammengezogen werden. Ein Mensch, der durch irgendetwas verblendet ist, das er nicht bekommen kann, oder der eines Unglücks wegen, dem er nicht zu entgehen vermag, in Verwirrung und Bedrängnis ist, wendet sich Gott zu, um Erfolg in seinen Bemühungen oder Trost in seinem leiderfüllten Zustand zu erlangen, wie der Fall auch liegen mag. Diese Konzentration während der Bitte um Hilfe wird Gebet genannt.

Der menschliche Geist ist der Thron Gottes, und aus diesem Grund wird er zuweilen als Kaaba bezeichnet.

Von allen Pilgerfahrten ist die zum menschlichen Geist die heiligste; es ist weit besser, hier ein Verdienst zu erwerben, als durch unzählige Reisen nach Mekka.

Maulana Rumi

Sobald sich ein Mensch sammelt und seine Aufmerksamkeit am Sitz der Seele konzentriert, rührt er an die Barmherzigkeit Gottes, die ihn dann mit Kraft und Stärke erfüllt, wie er es nie zuvor erfahren hat. Dies befähigt ihn, aus jeder Schwierigkeit, welche es auch immer sei, einen Weg herauszufinden. Ein konzentrierter Wille wirkt Wunder.

Wo ein Wille ist, da ist ein Weg,

ist eine allgemeine Redeweise.

Das Gebet ist nichts anderes als konzentrierter Wille, der zu seinem Ursprung, der großen Kraftquelle, zurückgreift, in welcher alle Möglichkeiten liegen – physisch, mental und spirituell –, und man kann sich irgendeiner von ihnen bedienen, die man gerade braucht. Der Mensch ist wahrhaft groß. Er lebt in einem von Gott geschaffenen Tempel mit Gott selbst zusammen. Sein Geist ist fürwahr ein Tropfen aus dem Meer göttlichen Lebens. Zwischen Gott und Geist gibt es kein anderes Hindernis als den Schleier des Gemüts. Wenn dieser Schleier aufhören würde, im Wind der Wünsche zu flattern, wie es gegenwärtig der Fall ist, könnte der Geist wahrlich die kosmische Energie direkt aus seiner Quelle schöpfen.

Wie du denkst, so wirst du,

ist ein allgemeines Sprichwort.

Wenn ein Teil an das Ganze denkt, macht er sich allmählich die Eigenschaften des Ganzen zu eigen. Genauso ist es mit dem menschlichen Geist. Er kann sich nach und nach von der eingepferchten, beengten, verkrampften und unterwürfigen Stellung, die er in seinem gegenwärtigen Zustand einnimmt, aufrichten und ausdehnen, bis er allumfassend wird. Sobald er aus seinen physischen, mentalen und kausalen Verwicklungen befreit ist, triumphiert er: Ich bin die Seele oder: Ich bin, wie du bist oder auch: Ich und der Vater sind Eins, (wie Christus es ausdrückte).

Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt. Erstens diejenigen, welche sich zurückziehen, nach innen kehren und Inspiration direkt von der großen Kraft im Innern erhalten. Zweitens jene, die von äußeren Hilfen abhängig sind, wie Kirchen und Tempeln zur Verehrung, und die vor Altären, Götterbildern und Statuen ihre Gebete darbringen. Manche suchen Inspiration von den großen Naturkräften zu erlangen, von der Sonne, dem Mond, den schneebedeckten Bergspitzen, von dem Wasser der heiligen Flüsse als den verschiedenen Offenbarungen der einen Kraft, die hinter dem ganzen Universum steht. Jeder erhält entsprechend seinem Glauben und dem Grad seiner Konzentration Gewinn durch seine Art der Verehrung: denn nichts in der Natur geht verloren, und keine Bemühung ist umsonst.

Manche Menschen glauben nicht an die Existenz Gottes und haben deshalb kein Vertrauen zum Gebet, denn sie verstehen nicht, dass Gott keine objektive Erscheinungsform hat und nicht mit den Augen des Fleisches gesehen werden kann.

O Nanak, die Augen, die den Herrn schauen, sind ganz anders als jene, mit denen wir die Welt sehen.

Guru Arjan, Maru War M5

Und die Wahrheit ist tatsächlich, dass Gott Geist ist und nur im Geist angebetet werden kann. Wir können Ihn nicht mit den menschlichen Händen anbeten und noch weniger in den mit Händen geschaffenen Tempeln und Synagogen. Er wohnt in den innersten Tiefen der menschlichen Seele und ist wahrlich die Seele unserer Seele. Er wohnt jeder Form inne und ist von keiner getrennt. Alle Farben und alle Muster haben ihre Färbung und Gestaltung allein von Ihm. Ob wir an Ihn glauben oder nicht, wir leben wirklich in Ihm und haben unser bloßes Sein in Ihm.

Ein aufrichtiges Gebet ist alsdann das Mittel, die wandernden Sinne an ihrem Zentrum – dem Zentrum der Seele – zu konzentrieren, um die Geistesströme an dem stillen Punkt im Körper zwischen und hinter den Augen zu sammeln. Darin liegt alle Verehrung, jedes Gebet, alle Entsagung und alles Wissen von hier und dem Jenseits. Der Pfad zur Erlösung liegt eher in der direkten Verbindung mit der inneren Kraft, als dass man sich mit dieser oder jener Sache abgeben sollte.

Die Wahrheit ist Eine, obwohl sie die Weisen auf verschiedene Art beschrieben haben,

lautet ein wohlbekannter Ausspruch in den Upanishaden.

Warum suchen wir dann nicht diese Ewige Wahrheit, von der Guru Nanak sagt:

Die Wahrheit war zu Beginn der Schöpfung, die Wahrheit war der Beginn eines jeden Zeitalters, und die Wahrheit wird immer bestehen bleiben, wenn alle Zeitalter und Schöpfungen vergehen.

Jap Ji