Der Pfad

Der Pfad eines Wahren Suchers ist selten leicht, abgegrenzt wie er ist vom gewöhnlichen Pfad – und so war es auch bei Mira Bai. Als junges Mädchen schaute Mira einmal aus einem Fenster des Palastes und erblickte eine vorbeiziehende Hochzeitsprozession. 

Sie wandte sich an ihre Mutter und fragte: 

O Mutter, wer wird mein Bräutigam sein?

Ihre Mutter war eine große Verehrerin von Lord Krishna, und so sagte sie: 

Girdhara Gopala (Krishna) ist dein Bräutigam.

Auf sehr ernste und einfache Art nahm sich Mira die Worte ihrer Mutter zu Herzen. Während andere Kinder draußen spielten, verbrachte sie gewöhnlich ihre Zeit mit der Verehrung Lord Krishnas zu. Wie eine ideale Ehefrau widmete sie sich dem Idol der Familie, Krishna.

Wie zu erwarten war, beunruhigte das ungewöhnliche Benehmen Miras Familie, und so vereinbarten sie in einem sehr jungen Alter eine Hochzeit für Mira. Ihr Mann war ein Rajput-Prinz von edler, doch weltlicher Art, und man hoffte, dass er Mira zur Vernunft bringen würde. Als jedoch die Zeremonie stattfand, war Mira so in Gedanken an Krishna versunken, dass sie ihren Ehemann kaum bemerkte.

Ihre neue Familie verehrte die Göttin Durga (Shakti). Mira sagte ihnen demütig, dass sie sich nicht vor einem anderen Gott oder einer Göttin beugen könne, da ihr Herz Krishna geweiht sei. Trotz aller Bitten bleib sie unnachgiebig, obwohl sie die Familie in ihrer Demut um Vergebung bat.

Die Quelle von Miras Hingabe war tief. Da ihre Verehrung aus einer wahren Sehnsucht nach dem Herrn kam, erhob sie sich über die bloße Idolverehrung und fand schließlich die wahre Kraft von Krishna – Hari Naam. Auf der Suche nach einem Wahren Heiligen verbrachte sie all ihre freie Zeit in Gemeinschaft von wandernden, Gottesfürchtigen Menschen und Yogis. Sie versorgte ihren Haushalt gewissenhaft und nahm ihre Pflichten als Frau auf ideale Weise wahr, wenn sie aber getan waren, brachte sie die Zeit in Verehrung des Herrn zu.

Es begannen sich Gerüchte zu verbreiten, dass sie in Gemeinschaft schlechter Menschen verweile. Das brachte ihrer Familie Schande und Mira ständige Reiberei.

In der Gemeinschaft von Sadhus opferte ich meine Welt und mein Ansehen. Ich beeilte mich, einem Gottesfürchtigen Menschen zu begegnen, wenn sich einer zeigte, und weinte, wenn weltlich Gesinnte meinen Weg kreuzten … Die Dienerin Mira hat sich dem Herrn übergeben – was kümmert sie sich um das Gerede um sie herum?

Mit jedem Tag ihrer Suche nahm ihr Eifer zu, und schließlich kam sie zu ihrem Wahren Meister Ravi Das. Ungleich anderen Heiligen Menschen lebte Er als Familienvater und gehörte einer niedrigen Kaste an. Die Leute verlachten Ihn, da er mit den Häuten toter Tiere arbeitete, um Schuhe zu machen. Er war aber das personifizierte Wort, ein Wahrer Heiliger.

Als Mira Bai zu ihm kam, bemerkte Er die große Flamme in ihrem Herzen, und so gewährte Er ihr den seltenen Segen der Naam-Initiation.

In meiner Suche fand ich den Befreier – den Heiligen und das Heilige Naam. Seitdem haben Naam Innen und der Heilige über mir meinen Pfad erhellt. Ich begegnete meinem Satguru, Sant Ravidas, Der mir ein Andenken in Form des Namens Gottes gab.

Zur Zeit der Initiation gewährt ein Wahrer Meister dem Schüler eine Ersthand-Erfahrung von Gott:

Sofort initiierte mich der Guru, indem Er mir das Maha-Mantra gab. Ich sah Lord Girdhar, Der vor mir stand. Die Suche, den Pfad zu erkennen, die ich so lange fortsetzte, wurde belohnt: ich fand meinen Satguru. Und sofort gab ich meine würdevolle Art auf, die mir zu eigen war.

Wenn ihre Arbeit getan war, verbrachte Mira nun ihre Zeit beim Satsang von Ravi Das oder zog sich in die Einsamkeit zurück und übte ihre Meditation aus. Ihre standhafte und ergebene Haltung blieb nicht unbelohnt, und Mira machte schnelle Fortschritte auf dem Inneren Pfad. Ihr außergewöhnliches Verlangen nach Gott entwickelte sich zu äußerstem Bhakti.

Manchmal litt sie, wie alle Ergebenen, an der Trennung oder geistigen Dürre. In diesen Zeiten schrieb sie Hymnen, die so bewegend sind, dass Tränen der Sehnsucht aufsteigen, wenn sie gesungen werden:

Das Leben ist in der Qual der Trennung hingegangen, die Sicht ging mir durch die Tränen verloren. Hätte ich gewusst, dass zu lieben den Schmerz herbeizieht, zum Schlag der Trommel würde ich in der Stadt ausgerufen haben: Niemand möge lieben. Ich stehe wartend, beobachte Deinen Weg, reinige Deinen Pfad – Herr, der Mira, wann willst Du ihr begegnen? Wenn sie Dich findet, wird sie Frieden haben. Oh, der Schmerz meines Herzens – nur mein Geliebter kennt ihn! O mein Geliebter, Du hast mein Herz mit dem Pfeil Deiner Liebe durchbohrt. Mein Herz brennt und verlangt, Dein Antlitz zu schauen. O, der Schmerz meines Herzens! O gewähre mit diese Bitte, mein Geliebter! Nimm hinweg Deinen Schleier und lasse meine Augen tief von Deiner Schönheit trinken – stille so meinen Durst und lindere meinen Schmerz! O, der Schmerz meines Herzens!

Guru Ravi Das war in jeder Hinsicht ein vollkommenes Vorbild für die Prinzessin Mira. Einmal brachte Mira, die dem Meister ihre Dankbarkeit zu zeigen wünschte, Ihm einen großen Rubin. Ravi Das sagte ihr freundlich, dass er für einen solchen Besitz keine Verwendung habe, aber Mira bestand darauf. 

Nun gut, 

sagte Er, 

lege ihn in das Loch in der Wand.

Es begab sich, dass Mira Bai den Meister für lange Zeit nicht besuchen konnte, doch als sie schließlich zurück kam, lebte Er noch immer in Seiner kleinen Hütte. 

Habt Ihr den Rubin nicht gebraucht, den ich Euch gab?,

fragte Mira. 

O – er ist dort, wo du ihn hingelegt hast.

Indem sie von ihrem Meister lernte, wurde Mira eine Gurumukh-Schülerin, da sie des Gurus Heiliges Wesen widerspiegelte. Weit davon entfernt, ihr ernsthaftes Leben zu bewundern, glaubte die Familie, dass ihre unweltliche Art zu Irrsinn und Schande führe. Nicht nur pflegte sie die Gemeinschaft mit Gottesfürchtigen Menschen – nun hatte sie sogar einen Flickschuster aus niedriger Kaste als ihren Guru angenommen! Auf die eine oder andere Weise versuchten sie Mira zu überreden, vom Spirituellen Pfad abzulassen, aber ohne Erfolg.

Mutter! Halt mich nicht davon ab, unter Heiligen zu verweilen, denn in Ihren Herzen steht der Name des Herrn geschrieben. Mutter! Warum tadelst du mich, indem du sagst: ‘O meine Tochter! Warum diese Anmaßung deinerseits? Du bleibst im Satsang in der Nacht – zu einer Zeit, wo die Leute sich angenehmen Schlafs erfreuen. Warum dieser Wahnsinn?’ Meine Antwort ist deutlich: ‘Die Welt ist töricht, die nicht den Herrn Rama liebt. Weißt du nicht, dass der, der den Herrn Hari liebt, den Schlaf nicht kennt?

Als ihre Schwägerin sie bat, Meister Ravi Das fernzubleiben, sagte ihr Mira: 

Der Schmutz von hunderttausend Lebensläufen weicht durch die Verbindung mit einem Heiligen. Der Makel liegt bei dem, der Ihre Gemeinschaft nicht liebt. Mein Leben hängt von der Gemeinschaft eines Heiligen ab. Für jeden, der diese Gemeinschaft nicht liebt, würde deine Beschwerde richtig sein.

Als diese Mittel keine Erfolg hatten, begann Miras Familie rücksichtslosere Methoden anzuwenden. Da sie dachten, ihr Verhalten sei die Folge eines unausgeglichenen Gemüts, überredeten sie Mira, in einem Haus zu leben, in dem es spukte. Sie hofften, sie vielleicht durch Einschüchterungen zum Gehorsam zu treiben. Mira, in Simran vertieft, stand die Prüfung ruhig und glücklich durch. Sie betrachtete das Haus als eine weitere Wohnung des Herrn.

Des Schwiegervaters Verzweiflung über Miras Haltung wurde schließlich unerträglich und er dachte, sie ein für allemal beiseitezuschaffen. In ein süßes Getränk, das er ihr sandte, schüttete er etwas Gift hinein. Als Mira einen kleinen Schluck nahm, bemerkte sie sofort das Gift. Ihre einzige Furcht war, dass es dazu führen könnte, die Menschen zu entmutigen, ihr Leben Gott zu widmen, wenn sie davon sterben würde. Sie ließ es jedoch in den Händen des Meisters, trank freudig den Becher und erwartete ihren Tod. Unbegreiflicherweise geschah nichts; tatsächlich erschien Mira gesünder und strahlender als je zuvor.

Nicht lange darauf plante auch Miras Schwester, sie zu töten und schickte ihr in einem Blumenkorb eine Kobra. Als die Kobra Mira sah, war sie glücklich und beugte ihren Kopf vor ihr, als sie die Liebe zu Gott, die von ihr ausströmte, bemerkte. Selbst Miras Bruder wollte sie töten und ließ einen hungernden Löwen auf sie los, als sie zum Tempel ging, wo sie ihre Andacht hielt. Als er Mira in einer ekstatischen Stimmung sah, war auch der Löwe vor Freude überwältigt und legte seinen Kopf als Zeichen der Verehrung auf ihre Füße.

Auch andere Qualen wurden an Mira Bai versucht, aber versunken wie sie in der Erinnerung an Gott war, blieb sie immer geschützt.

Miras Mann, obwohl dem Wesen nach weltlich, war doch tief beeindruckt von diesen Erfahrungen Miras uns ließ vor allem für ihre Andachten einen Tempel erbauen.

Die Kunde von Miras Heldentaten und ihrem Gottberauschten Wesen ereichte den mohammedanischen Kaiser Akbar. Er war schon immer daran interessiert gewesen, einem wahrhaft Spirituellen Menschen zu begegnen, und so entschloss er sich, sie zu besuchen. Da jedoch die Moslems und die Rajput-Hindus von Miras Königreich einander sehr verfeindet waren, ging er als Einsiedler verkleidet. Als er Mira sah und ihrer Rede zuhörte, war der Kaiser tief bewegt. Er verbeugte sich immer wieder vor ihr. Als er ging, wurde seine wahre Identität entdeckt. Als Miras Mann herausfand, dass der Mogul-Kaiser seine Frau besucht hatte, war er maßlos wütend, denn er barg in seinem Herzen einen grimmigen Hass gegen die Mogule. 

Konnte es ein Moslem wagen, sich einer Dame der Rajputs zu nähern, sogar ein Opfer darzubringen und den Boden von Rajputana sicher wieder zu verlassen? Schande über jene Rajputs, welche die Nachricht hörten und nicht Rache nahmen!

Erregt von solchen fanatischen Gedanken, hielt er seine Frau für verdorben. Grob befahl er ihr, seinen Palast für immer zu verlassen und sich in einem Fluss zu ertränken. Mira Bai versprach zu gehorchen, ging zum nächsten Fluss und sprang hinein. Wieder einmal kam jedoch die Meisterkraft zu ihrer Rettung und stieß sie ans Ufer zurück. Die Göttliche Stimme kam zu ihr und sagte:

Dein Leben mit einem sterblichen Gatten ist vorüber. Nun hast du eine höhere Pflicht auszuführen. Es ist an dir, der Welt ein großes Beispiel zu geben und den Menschen zu zeigen, wie man die Absichten des Schöpfers erfüllt und in Ihm aufgeht.

Mira erhob sich und ging zuerst auf die sagenumwobenen Gassen von Brindaban zu, wo sich einst Lord Krishna mit den Gopi-Mädchen unterhielt. Als sie ankam, besuchte sie Jiv Gosain, einen berühmten Priester von dort. Er wollt sie aber nicht sehen, da sie eine Frau war. Mira Bai sagte, dass sie gedacht habe, nur Lord Krishna (Gott) sei männlich und alle anderen (Seelen) weiblich. Als er das hörte, kam Jiv Gosain barfuß heraus, um ihr Ehre zu erweisen.

Mira Bai verglich den Herrn oft mit Lord Krishna, wenn sie von dem schönen Ton sprach, der von seiner Flöte kommt, von der Trommel, die seine Gegenwart verkündet; von den Glocken, die seine Taille zieren, und von dem lieblich tönenden Kuckuck, der um ihn herumflog. Sein Antlitz sei wie der Vollmond mit strahlender Krone; an Seinen Füßen seien leuchtende Reifen und Er tanze auf einem wunderbaren Lotos. Auf diese und andere Weise beschrieb sie die Inneren Lichter und Töne der Spirituellen Welten und die übernatürliche Schönheit des Wahren Meisters.

Wenn Mira umherging, wurden die Menschen magisch von ihr angezogen, und besonders die kleinen Kinder versammelten sich um sie. Auf ihre einfache Art erklärte sie den Inneren Pfad so, dass sie ihn verstehen konnten. Sie erzählte ihnen Geschichten von Gott und Seinen Heiligen.