III / II

Leben in Fülle

Zuerst ziehen sich die Sinnesströme von den Gliedmaßen – beginnend bei den Finger- und Zehenspitzen – zurück, steigen hoch und durchqueren nach und nach die verschiedenen Körperzentren (Chakren), von denen jedes der Bereich eines der fünf Elemente ist, aus denen sich der Körper zusammensetzt. Nachdem sie über das Herzzentrum hinausgelangt sind, kommen sie zum Kehlzentrum, dem Sitz von Shakti, der Mutter des Universums (der allesdurchdringenden Energie), wobei das ganze Körpersystem unterhalb der Augen empfindungslos wird; und schließlich erheben sie sich direkt zum Zentrum hinter den Augen (Aggya Chakra). An dieser Stelle werden die Sinnesströme gesammelt, finden Zugang zu dem inneren Schützenloch (Brahmarendra oder der Höhlung von Brahma) und bekommen Einblick in Brahmand, das kosmische Universum. Dies ist die zehnte Öffnung im Körper, der einzige Einlass über den neun Ausgängen.

Dort muss man anklopfen, um in die oberen Reiche aufgenommen zu werden, die größer und herrlicher sind, aus sich selbst leuchten und in wunderbaren Melodien der himmlischen Musik erklingen, die in der zurückgelassenen physischen Welt nirgends gehört wurden. Diese ist nunmehr nichts weiter als ein großes Elendsviertel voller Not und Leid. Sie verblasst, wie Platon sagt, zu einem schwachen Abbild der Ideenwelt.

Auf dieser Stufe ist der Mensch fürwahr gesegnet, da er zu der ätherischen Region, der Welt der Geistwesen, Zugang hat. Er befindet sich nun an der Schwelle der Astralwelt, in Gemeinschaft mit der strahlenden Form des Meisters (Guru Dev), und sein Gurbhakti (Hingabe an den Guru) ist in jeder Hinsicht vollkommen. Wenn ein Schüler die strahlende Form des Meisters erreicht, ist die Zeit der eigenen Anstrengung vorbei. Hier nimmt der Guru Dev die Seele in Seine Obhut und schult sie im wahren Sinne des Wortes in Shabd-bhakti, der Hingabe an den Tonstrom, der Seine wirkliche Form (Shabd-Swaroop) ist.

Von da an leitet Er die Seele auf der spirituellen Reise, die durch unzählige Regionen von variierender spiritueller Erhabenheit führt: durch die kausale oder instrumentale Ebene, die Saat-Welt, die ewig fruchtbare Mutter mit zahllosen großen Schöpfungen in ihrem Schoß; dann in das überkosmische Jenseits (Par Brahmand), die Ebenen der Stille (Sunn) und der Großen Stille (Maha-Sunn), und schließlich zu Sach Khand, wo der Formlose Eine weilt. Er ist von unbeschreiblichem Strahlenglanz (das Meer des Bewusstseins) und wird Sat Purush genannt, die erste Offenbarung des Höchsten Wesens.

Dieser heilige Entwicklungsprozess ist einfach, natürlich und erfordert keine beschwerlichen Härten. Er schließt keine drastischen Kontrollen der pranas ein.

Die Meister haben diese seltene Methode entwickelt und Wissenschaft der Seele genannt. Man kann sie am besten unter der kompetenten und sicheren Führung eines Meister-Heiligen erlernen, Der mit der Theorie und Praxis des Lebensstroms völlig vertraut ist, welcher allen erschaffenen Dingen innewohnt, alles hervorbringt und alles erhält.

Alle Schriften der Welt bezeugen diese grundlegende Wahrheit:

Am Anfang war Prajapati (das höchste Wesen); bei Ihm war Vak (das heilige Wort), und das Wort war wahrhaftig das höchste Brahma (Par Brahma).

Veden

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen.

Johannes 1:1-5

Kalam oder Kalma ist das universale Schöpfungsprinzip. Gott sprach: Kun-fia-kun, (es werde), und von diesem „Es werde“ kam die ganze Schöpfung ins Sein.

Koran

Shabd ist der Schöpfer der Erde, Shabd ist der Schöpfer des Firmaments, Shabd ist die Quelle des Lichts, und Shabd wohnt in den Herzen aller.

Nanak

Von diesem grundlegenden Prinzip in allem Seienden (dem Licht und Ton Gottes) gibt der Meister all denen, die auf der Suche nach der Wahrheit zu Ihm kommen, eine praktische Erfahrung. Die seltene Gabe der heiligen Initiation – Erklärung der Theorie und ihre praktische Anwendung (Shiksha und Diksha) – in das esoterischen Wissen und die Erfahrung von der rettenden Lebensschnur im Innern ist kein Ziel in sich selbst, sondern nur ein Anfang, ein erster Schritt auf der langen Reise der Seele in die wahre Heimat des Vaters.

Wer sich für diesen Lebensweg entschieden hat, ist in der Tat begünstigt und macht die seltene Erfahrung des Todes im Leben; er wird ein Jivan-mukta oder befreites Wesen. Während er noch im Körper ist, führt er auf jeder beliebigen Ebene ein Leben in Fülle, bleibt aber immer im Einklang mit dem Willen Gottes. Ein solcher glücklicher Mensch ist ganz in der Gottheit verwurzelt und hat Verstand, Gemüt und Sinne vollständig unter Kontrolle. Er ist Herr des Hauses und nicht Knecht seines Gemüts und Intellekts. Wie ein guter Lenker, der im Körperwagen sitzt, gibt er dem Intellekt die rechte Richtung an, der wiederum das Gemüt entsprechend leitet. Wird dieses dann auf dem Pfad der Rechtschaffenheit geschult, weigert es sich, von den Sinnen beherrscht zu werden, die allmählich ihren Einfluss verlieren und aufhören, vom Blendwerk der Sinnesgegenstände angezogen zu werden.

Dadurch wird der ursprüngliche Ausdehnungsprozess umgekehrt, und man kommt zu innerer Ruhe, so dass die reglosen Wasser des Gemüts das Licht Gottes widerzuspiegeln beginnen. Darin erfüllt sich die uralte Weisheit:

Solange die Sinne nicht bezwungen, das Gemüt beruhigt und der Verstand ausgeglichen sind, kann man die Herrlichkeit Gottes nicht sehen.

Die Psalmen 46:10

Diese reiche Erfahrung eines Lebens in Fülle wird zweite Geburt oder Geburt des Geistes genannt. Im Gegensatz zur Geburt des Fleisches. Geführt durch den Geist, lebt und wandelt man im Geist, gibt alle sinnlichen Begierden auf und durchbricht das unerbittliche Gesetz von Ursache und Wirkung oder Karma, das alle anderen in ständiger Knechtschaft hält.

Wenn man auf dem Pfad täglich fortschreitet, öffnen sich neue Ausblicke unbeschreiblicher Freude und Glückseligkeit. Ein anderer Gesichtskreis tut sich auf, der die Ganzheit alles Seienden umfasst und zu immer größerer Bewusstheit führt, erst persönlicher, dann supramentaler, darauf kosmischer und schließlich superkosmischer Art.

Losgelöst von allen Fesseln des Gemüts und der Materie, erfreuen sich die befreiten Seelen im Leben des Geistes immerwährender Glückseligkeit und betrachten das Leben nun von einer ganz anderen Warte aus. Die gewaltige Schöpfung wird zur Offenbarung des einen Lebensprinzips, das überall in ihnen, um sie herum und in allem, was beseelt oder unbeseelt ist, pulsiert. Die Welt, die man jetzt wahrnimmt, ist völlig verschieden von der, die wir bisher kannten. Sie erscheint nun als die wahrhaftige Wohnstatt Gottes, und man sieht Gott in ihr, in jedem ihrer Teile, denn alle geschaffenen Dinge sind wie Blasen im unendlichen Meer des Lebens.

Von da an lebt und stirbt man für den Herrn. Wie Paulus wird man in Christo gekreuzigt (Fana-fi-sheikh), und Christus lebt in einem. Durch die wiederholte Erfahrung des Todesvorgangs ist der Tod verschlungen in den Sieg – der Vater und der Sohn werden Eins. Während der äußere Mensch aus Fleisch und Blut bestehen bleibt und weiterlebt, um das Netzwerk des Lebens zu Ende zu knüpfen, wird der innere Mensch (der Geist im Menschen) erneuert und nimmt mit der Zeit an Kraft und Erhabenheit zu.

Darum sagt Thomas a Kempis:

Entsage dem Fleisch um des Geistes willen. Lerne zu sterben, damit du zu leben beginnen kannst.

In diesem Zusammenhang haben wir die Worte Kabirs:

Der Tod, vor dem die ganze Welt zurückschreckt, ist mir willkommmen als ein Vorbote vollkommenen Friedens und Glücks. Stirb und sei tot für die Welt; einen solchen Tod erfahre ich viele Male am Tag.

In allen vier Evangelien findet sich ein Reihe ähnlicher Hinweise:

Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und des Evangeliums willen, der wird’s behalten.

Matthäus 10:38-39 und 16:24-25

Denn wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.

Lukas 9:24 und 17:33

Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.

Johannes 12:25

Dadu, ein bekannter Heiliger sagt:

O Dadu, lerne zu sterben, ehe dich der Tod übermannt. Welchen Nutzen hat es, wenn du sterben musst?

Dasselbe sagt Guru Nanak:

O Nanak, praktiziere einen solchen Yoga, der dich lehrt, im Leben zu sterben.

Auch der Prophet Mohammed ermahnte Seinen unmat oder die Gläubigen, die Kunst des Sterbens vor dem Tod zu üben:

Stirb vor dem Tod. – Mautoo-qibalantu-mautoo.

Die Moslem-Mystiker wie Khawaja Hafiz, Shamas-i-Tabrez und Maulana Rumi haben mit großem Nachruck die Bedeutung einer so einzigartigen Erfahrung betont:

Solange du dich nicht über die Ebene der Sinne erhebst, weißt du nichts vom inneren Leben. Du hast noch andere Kleider neben dem äußeren Gewand, warum hast du Angst, den Körper zu verlassen?

Man könnte den Aussprüchen zu diesem Thema beliebig viele andere hinzufügen.

Nehmen wir zum Schluss noch eine Stelle von Earl R. Wassermann:

Viele sind nur unvollkommene Teile des Einen; und der Tod eröffnet das ungeteilte und daher unbegrenzte spirituelle Leben. Das Leben nach dem Tod ist daher eine spirituelle Existenz, denn der Tod, der den Dom aus vielfarbigem Glas zerstört, erlaubt der Seele, „sich über die Schatten der Nacht zu erheben“, anstatt im Innern zu wirken und das organische Sein auszulöschen. Was dann als physische Zerstörung erscheint, erweist sich als Unsterblichkeit des Geistes […] Was wir Leben nennen, ist Zerfall. Deshalb wird das strahlende Licht der Ewigkeit durch die irdische Begrenzung, die vergängliche Atmosphäre, verfärbt. Die auferstandene, mit dem Einen wiedervereinte Seele, nicht dagegen der Schatten des Todes oder die physische Materie, ist im wahren Sinne des Wortes enthüllt und dehnt sich in der ganzen Natur aus, denn die letzte Wirklichkeit ist überall Geist […] Wäre die Atmosphäre der Sterblichkeit entfernt, würde der Mensch erkennen, dass das Eine bleibt und „das Licht des Himmels ewig erstrahlt“; dass Tag und Nacht, Leben und Tod, der Abend- und der Morgenstern eins sind […] und die letzte Wirklichkeit des irdischen Lebens und der Ewigkeit nach dem Tod der Eine Geist ist […] Diese Erkenntnis, dass das vergängliche und das unvergängliche Leben geistig übereinstimmen, hebt die Gegensätze wie Leben und Tod schließlich auf […] Denn der Eine erstrahlt „durch den Wandel der Zeiten hindurch unvergänglich im selben Licht.“

Er sagt dann:

Lerne, unerschrocken in den Abgrund des Todes zu gehen, denn wo das vergängliche Dasein endet, beginnt das spirituelle Leben. Beim Tod erhebt sich die auferstandene Seele über die Schatten der Nacht und vereinigt sich wieder mit dem Unwandelbaren.

In gleicher Weise spricht der Prophet Mohammed vom Tod im Leben:

Ein solcher Tod wird dich nicht ins Grab bringen, sondern aus der Finsternis zum Licht führen. So lerne, täglich zu sterben, indem du dich über den Körper erhebst.

Wenn ein Mensch lernt, über das Menschliche in sich hinauszugelangen, kommt der Meister in Seiner strahlenden Form, um der Seele auf dem Weg in ihre wahre Heimat zu helfen, indem Er sie auf den höheren Ebenen führt, sowohl während des Lebens als auch danach, wenn die sterbliche Hülle abgelegt ist.

In diesem Zusammenhang sagt Guru Nanak:

O Nanak, löse alle Bindungen vergänglicher Natur und suche die wahre Freundschaft eines Heiligen; denn alle anderen verlassen dich schon bei Lebzeiten, während Er bis zuletzt und noch darüber hinaus unerschütterlich zu dir steht. Ergreife die Wahrheit, indem du den Weisungen eines Satgurus folgst. Sei wahr zu Ihm, und Er wird dir bis zuletzt beistehen.

Ähnliches sagt ein Moslem-Heiliger:

Ergreife den Saum Seines Kleides, o mutige Seele, denn Er steht fürwahr über allen Welten, hier und im Jenseits.

Auch in den Evangelien finden wir:

Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Ich will dich nicht verlassen noch versäumen.

Auf diese Weise ist die höchste Mission des menschlichen Lebens vollendet und die Fülle des Lebens erfahren. Es ist die Verbindung des „Ich“ mit dem „Selbst“, das sich mit der rechten Hilfe und Führung einer Meister-Seele von den Disteln und Dornen des weltlichen Lebens löst, Die diese Erfahrung allen gleicherweise gewährt, ungeachtet des Geschlechts, Alters, Berufs, der Religionszugehörigkeit und der gesellschaftlichen Stellung aufgrund von Abstammung, Stand, Hautfarbe und Glaubensbekenntnis. Der Geist muss den falschen Schein der selbstgeschaffenen und selbstprojizierten Persönlichkeit ablegen, mit dem er sich unwissentlich umgibt. Erst wenn man ein reiner, von der Liebe zu allen geschaffenen Dingen freier Geist geworden ist, kann man sich am Leben des Schöpfers, einem Leben der Fülle und Glückseligkeit, erfreuen.