IV

Der Weg der Heiligen

In den Schriften gibt es eine treffende Geschichte von Raja Prikshat, der erfahren hatte, dass einer, der das Bhagwat von einem Pandit rezitiert höre, ein Jivan Mukta – ein Mensch, der von aller Gebundenheit frei ist – würde. Eines Tages rief er nach seinem Hofpriester und bat ihn, ihm den erhebenden Text des Bhagwat vorzutragen, damit er von der Gebundenheit durch Gemüt und Materie frei werde, und befahl, dass der Priester an den Galgen kommen sollte, falls sein Vortrag die Richtigkeit der heiligen Lehren nicht bestätigen würde. Der Priester war jedoch nicht besser als irgendein anderer von uns. So erschrak er, denn er sah sich bereits in den Fängen des Todes, da er sehr wohl wusste, dass er dem König beim Erlangen der Erlösung von keiner Hilfe sein konnte. Niedergeschlagen und in größter Sorge über das ihm drohende Schicksal, kam er nach Hause zurück. Und am Vorabend des Tages, der für die Rezitation des Bhagwat festgelegt wurde, war der Priester halb tot vor Angst.

Zu seinem Glück hatte er eine sehr kluge Tochter. Auf ihr dringliches Bitten ließ er sie den Grund seiner erbärmlichen Lage wissen. Die Tochter tröstete ihn und versicherte ihm, dass sie ihn vor dem Galgen bewahren würde, wenn er ihr erlaube, ihn am folgenden Tag zum König zu begleiten.

So begaben sie sich tags darauf zum königlichen Hof. Die Tochter erkundigte sich, ob der König Befreiung von der Gebundenheit an die Welt wünsche, was dieser bejahte. Alsdann sagte sie dem König, dass sie ihm bei der Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches helfen könnte, wenn er ihrem Rat folgte und ihr erlaubte, zu tun, was sie wollte. Sie ging also mit dem König und ihrem Vater in den Dschungel, wo sie jeden von ihnen mit einem starken Seil an einen anderen Baum festband. Dann forderte sie den König auf, seinen Priester loszubinden und zu befreien. Der König erklärte sich dazu außerstande, da er doch selbst festgebunden sei. Daraufhin machte ihm das Mädchen klar, dass einer, der selbst in den Banden von Maya – der Täuschung – sei, einem anderen nicht aus der gleichen Gebundenheit heraushelfen könne. Das Aufsagen des Bhagwat könne sicherlich den magischen Bann der Täuschung brechen, wenn es durch einen befreiten Menschen geschähe, der selbst die Täuschung durchbrochen habe, und darum solle der König die Befreiung nicht von seinem königlichen Priester erwarten, der genauso gefesselt sei wie der König selbst. Einzig Neh Karma oder einer, der nicht im Netzwerk der Karmas verstrickt ist, hat die Fähigkeit, andere gleich sich aus dem tödlichen karmischen Kreislauf zu befreien.

Dies veranschaulicht auch auf eine Weise, dass das bloße Studium der Schriften nicht viel dazu beitragen kann, Moksha oder Erlösung zu erlangen, was eine rein praktische Sache ist und nur durch die Praxis unter der kundigen Führung eines Adepten auf diesem Gebiet genau erfahren und zur Vollendung gebracht werden kann. Der Murshid-i-Kamil oder Vollendete Meister muss vor allem die zerbrochene Tafel des Gemüts wieder zusammensetzen, welche durch die unzähligen Wünsche und Sehnsüchte in Stücke ging, und sie zu einem vollständigen Ganzen machen, ehe sie durch und durch so rein poliert wird, dass das Licht und die Herrlichkeit Gottes widergestrahlt werden können, was keine noch so große Menge an Buchgelehrsamkeit zustande bringt.

Den wahren Sinn der Schriften kann man natürlich nicht kennen und verstehen, wenn er nicht durch einen Meister erklärt wird, Der das, was die Schriften sagen, im Laboratorium Seines eigenen Geistes erfahren hat. Somit kann Er den Schüler in den hoch-esoterischen Lehren, die in prägnante Sinnsprüche gefasst sind, welche über den in seiner Reichweite und in seinem Fassungsvermögen begrenzten Verstand hinausgehen, aus eigener, persönlicher Erfahrung unterweisen und ihn führen.

Darum heißt es:

Gott ist leicht erreichbar in der Gesellschaft eines Sadh (einer geschulten Seele).

Nur eine befreite Seele kann einen anderen befreien, niemand sonst. In diesem Zusammenhang wird gesagt:

Das Studium der Veden, Puranas und der Etymologie führt zu nichts. Ohne die Praxis des Heiligen Wortes bleibt man immer in tiefster Finsternis.

Ein Mensch der praktischen Verwirklichung stellt das ganze Schrifttum Selbst dar und noch viel mehr als die Schriften, welche bestenfalls die theoretische Seite in subtiler Sprache enthalten, aber weder die Theorie mündlich erklären noch eine tatsächliche Erfahrung derselben vermitteln können, wie es der Meister tut.

Heutzutage versucht jeder, die Schuld und Verantwortung für seine Leiden auf 'die Zeiten' zu schieben, und diese Klage ist die größte aller Zeiten. Die gegenwärtige und auch die zukünftige Zeit gehört uns genauso wenig wie die Vergangenheit. Diese Welt ist ein gewaltiges magnetisches Feld, und je mehr wir danach trachten, aus ihr herauszukommen, desto mehr sind wir gefangen und in ihr Netzwerk verstrickt. Der Mensch tanzt darin umher und glaubt, dass ihn keiner sieht. Die Klugen empfinden das Netz wohl, wissen aber nicht, wo sie sich unbehindert niederlassen können. So dreht sich das gewaltige Schwungrad der karmischen Mühle, dieses gigantische Rad des Lebens, still und unablässig und zermalmt langsam, doch unfehlbar alle in gleicher Weise. Die Mühle der Natur mahlt langsam, aber sicher.

Manche empfinden es und sagen:

Es scheint, dass die Natur den Menschen schuf und dann die Form zerbrach.

Keiner jedoch versucht, das Warum und Wofür der Dinge, Begebenheiten und Ereignisse zu durchschauen; wir nehmen alles lässig hin, wie es der Lauf der Zeit mit sich bringt. Wir versuchen nicht, tief in sie einzudringen, um die einzelnen Glieder der Kette aufzuspüren, die zu dem führen, was wir sehen und erleben. Jeder vergisst in seinem Umgang mit anderen, dass er auf dieser Welt einfach für alles bezahlen muss. Selbst die Gaben der Natur, wie Raum, Licht, Luft usw., stehen nicht in beliebigem Ausmaß jedem gleich frei zur Verfügung. Aber jeder hält sich selbst für den einzigen Hüter von Gottes freien Gaben. Er versucht, so liberal wie möglich zu sein, stößt auf mehrere schlecht gefasste Edelsteine – Menschen – und kommt in den Einflussbereich des Gesetzes von Geben und Nehmen.

Erst nach harten Schlägen lernen wir, dass die Waagschalen keinen Unterschied machen zwischen Gold und Blei, sondern nur mit dem eigentlichen Gewicht zu tun haben. Jedermann weiß, dass der Nebel nicht mit einem Fächer vertrieben werden kann, und dennoch versucht er es und macht dadurch die Verwirrung nur noch schlimmer. Ein Mensch, der mit Händen und Füßen an die endlose Kette von Ursache und Wirkung gebunden ist, kann andere nicht befreien. Wenn jeder auf der Welt in tiefem Schlaf liegt, wer soll dann wen aufwecken? Nur ein befreiter Mensch kann andere befreien, wenn Er es will, denn sowohl begangene Sünden als auch Unterlassungssünden sind von derselben Beschaffenheit wie das Gesetz der Natur und suchen den Täter früher oder später in der einen oder anderen Form heim.

*Indem man Vögel im Käfig einsperrt und Haustiere mit Halsband angekettet und gefangen hält, nimmt man zu Unrecht für selbstverständlich an, dass diese armen, stummen Geschöpfe keinen Gerichtshof haben, bei dem sie ihre Klagen einreichen können. (* Die Übersetzung dieses Abschnitts ist an die englischsprachige Erstedition von 1965 angeglichen; Anm. d. Redaktion 2011.) Der Mensch glaubt ein Recht zu haben, mit ihnen so zu verfahren, wie es ihm gefällt.

Er schreckt weder davor zurück, sie zu töten, noch beachtet er die allgemeine Tatsache:

Wie du säst, so wirst du ernten.

Unkenntnis des Gesetzes ist aber keine Entschuldigung. Jede Übeltat rächt sich. Wer tötet, wird getötet. Wer durch das Schwert lebt, wird durch das Schwert umkommen. Man muss Auge um Auge und Zahn um Zahn bezahlen, und dies ist heute genauso wahr wie zu Moses Zeiten. Fröhlich feiert man die Feste, bis die furchtbare Abrechnung kommt. Wir mögen zwar unsere Augen gegenüber den Gesetzen der Natur verschließen, wir mögen unser Vertrauen in die Wirksamkeit der Priesterhilfe setzen, aber es wird zwecklos sein. Töten, Blutsaugen und dergleichen fordern einen hohen Tribut.

Jene, die vom Blut anderer leben und gedeihen, können kein reines Herz haben und noch viel weniger Zugang zum Himmelreich:

Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.

Die Heiligen sagen, dass der Mensch den höchsten Platz in Gottes Schöpfung einnimmt und mit einem großartigen Verstand ausgestattet ist und er daher seine begrenzte Zeitspanne nicht blindlings vorübergehen lassen darf, gleich anderen Geschöpfen. Die goldene Gelegenheit, die ihm geboten wird, in Gottes Arme und in seine eigentliche Heimat zurückzukehren, sollte nicht verloren gehen. Eine solche erhabene Gelegenheit ist nur gegeben, wenn man diese Schaustellung der Welt völlig erkannt und seine Rolle in dem großen Drama des Lebens erfolgreich zu Ende gespielt hat.

Für gewöhnlich hat sich der Mensch an die Attraktionen hier unten verloren, und dabei versäumt er die einzige Gelegenheit, die ihm unter dem überwältigenden Einfluss der karmischen Rückwirkung nach Myriaden von Verkörperungen gegeben ist, um in die immer währende Region des reinen Geistes zurückzukehren. In einer endlosen Folge erhielt er einen Körper nach dem anderen. Er beginnt, das Gewicht von Gesetzen aller Art, seien es soziale, physische oder Naturgesetze, zu empfinden, die seinen Weg auf Schritt und Tritt wie schwere Blöcke behindern. Und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis er wieder eine menschliche Geburt erhält, und wer weiß, wann das sein wird.

*Die Heiligen geben eine sehr einfache Definition von der Sünde als das Vergessen seines Ursprungs – oder der Gottheit. (* Die Übersetzung dieses Satzes ist an die englischsprachige Erstedition von 1965 angeglichen; Anm. d. Redaktion 2011.) Jeder Gedanke, jedes Wort oder jede Tat, die den Menschen von Gott fernhalten, ist wahrhaftig Sünde; und was ihn andererseits Gott näher bringt ist Gottgefällig.

Ein persischer Theologe erklärte sich die Natur der Welt mit den Worten:

Die Welt kommt nur in Gang, wenn man den Herrn vergisst. Durch beständiges Denken an Gott ist man, während man in der Welt unter Freunden und Verwandten lebt, doch nicht von der Welt.

Die meisten Sünden, grober oder feiner Art, sind eine reine Erfindung des Menschen unter dem Einfluss des Gemüts. Die feineren werden von den Heiligen, den Lebenden, auf Erden wandelnden Ebenbildern von Gottes Gesetz der Liebe und Barmherzigkeit, als verzeihliche Schwächen betrachtet. Solange ein Mensch als Geschöpf mit eigenem Willen handelt, unterwirft er sich selbst allen Gesetzen und ihren Unannehmlichkeiten. Aber wenn er seinen eigenen Willen dem eines Gottmenschen übergibt, kommt er unter den Einfluss von Gottes Barmherzigkeit und Liebe. Dies ist die rechte Betrachtungsweise der Sünde im täglichen Leben1.

Karmas sind die ansteckendste Art unsichtbarer Krankheiten, denen der Mensch immer ausgesetzt ist. Sie sind sogar schneller, verheerender und zerstörerischer als die tödlichsten und giftigsten Keime, die in die innersten Zellen des menschlichen Systems gelangen und sich ganz verstohlen in das Blutsystem einschleichen. In der Gesellschaft wirken sich Karmas zunächst sehr stark in Gestalt einer Änderung der Ansichten und Denkweisen jener aus, die sozusagen die öffentliche Meinung bilden. Danach beeinflussen sie die Gemütsart und Stimmung und wurzeln sich schließlich tief in Form von Gewohnheiten ein, die dem Menschen zur zweiten Natur werden. Die Alten und Vorfahren waren daher immer auf der Hut und gaben den Rat, schlechte Gesellschaft zu meiden.

Gute Gesellschaft bringt Gutes hervor, während die schlechte Schlechtes zeitigt.

Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist.

Um all diesen Schwierigkeiten die Krone aufzusetzen, muss man unwissentlich sogar an den karmischen Rückwirkungen in der eigenen Familie teilhaben, in der man geboren und aufgewachsen ist. Somit spielen Tugend und Laster eine wesentliche Rolle in der ganzen Entwicklung. Auf diese Weise häufen wir täglich und stündlich Karmas aus unserer Umgebung an.

Der einzige Weg, dem karmischen Einfluss zu entgehen, ist, am Pfad Gottes durch die Hilfe Gottesfürchtiger Heiliger festzuhalten, Die im Höchsten verankert sind, weit über dem Wirkungsbereich der Karmas stehen und Die in der Tat Neh Karma und Jivan Mukta sind. Es heißt, dass einer im Reich eines Wahren Darvesh – Gottmenschen – keine Rechenschaft über seine Karmas abzulegen braucht. Der Mensch wendet sich dem Besseren zu, wenn er sich in die Gesellschaft eines Sadh begibt; aber er neigt von Natur aus dazu, das Üble eher anzunehmen als die grenzenlose Güte der Heiligen. Die Gemeinschaft mit einem Heiligen hat die wunderbare Wirksamkeit, alle Spuren des Übels zu beseitigen. Die atmosphärische Reichweite eines Meister-Heiligen ist von einer gewaltigen Ausdehnung, die sich der Mensch schwerlich vorstellen kann. Die Heiligen kommen nicht allein für das Wohl der Menschen, sondern zum Nutzen und Vorteil der ganzen aktiven und inaktiven Schöpfung auf allen Ebenen der Welt, der sichtbaren wie der unsichtbaren.

Dieses arme Geschöpf, Mensch genannt, hat keinen wahren Freund. Selbst das Gemüt mit den drei Gunas – den Eigenschaften Satva oder Reinheit, Rajas oder Aktivität und Tamas oder Trägheit –, das immer an allem, was der Mensch tut, teilhat, schaut auf ihn wie eine Katze, die ihren ruhelosen Blick auf eine Ratte wirft. Diejenigen, welche den Eingebungen des Gemüts folgen, sind beständig durch seine Tücken gefangen und unsäglicher Trübsal und qualvollen Ängsten unterworfen. Das Gemüt fürchtet jedoch solche, denen Gott durch Seinen Mittler, den Satguru – Gottmenschen –, wohlgesinnt ist. Es wagt nicht, in die Rechte und Freiheiten einzugreifen, die Seinen Geliebten gewährt sind, und hilft ihnen wie ein gehorsamer Diener nach den Weisungen seines Vorgesetzten.

Wie das Feuer ist es ein guter Diener, aber ein schlechter Herr:

In der Gemeinschaft eines Sadh hat man nichts zu bereuen; in Seiner Gemeinschaft erkennt man den Herrn und folgt Ihm getreulich; in Seiner Gemeinschaft erlangt man der Gottheit höchste Gabe.

Aus dem Grunde hat Guru Nanak nachdrücklich erklärt:

O Nanak! Brich all deine vergänglichen Bindungen der Welt entzwei, und begib dich auf die Suche nach dem Wahren. Während dich alle schon zu Lebzeiten verlassen, wird der Wahre Eine dich selbst ins Jenseits begleiten.

Wieder heißt es:

Sei versichert, o Seele, ein Gottmensch steht dir vor dem Richterstuhl bei.

Baba Farid, ein Moslem-Heiliger, sagt in fast derselben Weise:

O Farid! Eile in der Suche nach einem Befreiten, denn ein Solcher befreit dich (aus der Knechtschaft der Welt).

An anderer Stelle heißt es:

Das immer rastlose Gemüt kann nicht Ruhe finden, bis es in einem Gottmenschen ruht.

Im Gurbani lesen wir:

Die wandernden Gedanken finden Halt in der Gemeinschaft eines Sadh; allein der beruhigte Geist kann das Licht des Herrn widerstrahlen.

Jeder Mensch ist physisch und geistig in den unsichtbaren Banden des Karmas gebunden. Solange einer unter dem Einfluss von Gemüt und Materie steht und nicht den Schutz eines Heiligen gesucht hat, wird er durch die Gesetze der verschiedenen Ebenen beherrscht; es wird ihm die reine und einfache Gerechtigkeit zugemessen, ungemildert durch Barmherzigkeit. Er unterliegt der Bestrafung für all seine Sünden – die unbeachteten, ungenannten und feinen. Ein Freund am Gerichtshof kann vielleicht den langen und quälenden Rechtsprozess abkürzen; aber vor dem Richterstuhl des Höchsten ist allein ein Meister-Heiliger der Wahre Freund bei der Verhandlung.

Im 'Jap Ji' erklärt Guru Nanak:

Der Heilige ist angesehen in Seinem Reich und der Haupterwählte darin. Der Heilige ziert Gottes Schwelle und wird selbst von Königen geehrt.

Jap Ji, Strophe 26

Und wieder heißt es:

Der Satguru verlieh mir die Gabe des Erkennens, und ich sehe alle Zweifel schwinden. Der Todesengel kann mir nichts mehr anhaben, wenn der Bericht über meine Taten ausgelöscht wird.

Der Pfad der Heiligen führt in eine ganz andere Richtung. Für die Initiierten gibt es keinen Gerichtshof. Der Heilige ist immer gegenwärtig, und Sein Einfluss erstreckt sich auf Bereiche, die man sich nicht erträumen kann. Er verlässt und versäumt Seine Schüler nie, bis an der Welt Ende.

Seine feierliche Versicherung ist:

Jedermann, ich will mit dir gehen und dein Führer sein, in der größten Not will ich dir zur Seite stehen.

Aus 'Jedermann' (Hofmannsthal)

Gleich einem gütigen und gnädigen Vater mag Er dem irrenden Kind gegenüber Selber Einwendungen erheben, aber Er würde es niemals zur Bestrafung der Polizei übergeben.

Keiner ist mehr gebunden als der, der sich irrigerweise für frei hält. Die Falle für den hochgeborenen Geist ist der Ehrgeiz. Die Wohlhabenden im weltlichen Sinne des Wortes scheinen bequem zu leben. Sie mögen in der Vergangenheit eine gute Saat ausgesät haben und bringen in der Gegenwart offensichtlich reiche Ernte ein; oder aber sie handeln nur nach dem Grundsatz raffen, an sich reißen, horten und bauen sich dadurch für die Zukunft ein Hornissennest. All diese Menschen vergessen unglückseligerweise in ihrem Reichtum, dass sie in jedem Falle die unsichtbaren goldenen Fesseln tragen und unwissentlich Kummer und Sorgen entgegengehen.

Für gewöhnlich pflegt man zu sagen,

dass die Mauern und Wohnstätten der Mächtigen mit dem Schweiß und den Tränen der Armen gebaut werden.

Wenn einer nicht in der Vergangenheit Gutes gesät hat, kann er in der lebendigen Gegenwart keine reiche Ernte haben. Mag sein, er trägt unmerklich auch die Last irgendeiner Schuld mit sich herum. Sät er jetzt nicht gute Saaten, wie kann er dann erwarten, sich guter Früchte in der Zukunft zu erfreuen, und für wie lange?

Davon abgesehen, können gute Taten einen Menschen nicht von der Rückwirkung übler Taten entbinden; genauso wenig, wie schmutziges Wasser etwas reinwaschen kann.

Bei all unserer Rechtschaffenheit sind wir nichts als unreine Wichte,

sagt ein christlicher Heiliger.

Keiner ist rein, nein, auch nicht einer. Der Mensch ist immer dem Gesetz des Gebens und Nehmens unterworfen oder der gegenseitigen Abrechnung und Vergeltung. Den Weg der guten Werke zu verfolgen ist ganz entschieden etwas Wünschenswertes und besser als der Weg übler Taten, aber es ist nicht alles.

Ein hohes ethisches Leben kann dem Menschen das Paradies für einen langen Aufenthalt sichern, wo er sich der himmlischen Glückseligkeit erfreut, aber er ist darin noch im astralen und kausalen Körper gefangen und hat sich nicht vom Kreislauf der Geburten und Tode befreit. Solange einer sich selbst als Handelnden empfindet, kann er dem Rad der Geburten nicht entkommen und hat die Frucht seiner Aussaat zu ernten.

Allein die Verbindung mit dem Heiligen Geist, dem Heiligen Naam oder dem Wort, hilft dem Menschen bei seinem Aufstieg in die höheren Spirituellen Regionen, die weit entfernt sind von dem Schattenreich der wiederholten Geburten und Tode, das sich in dem endlosen Zyklus unaufhörlich aufwärts und abwärts bewegt, ohne dass es eine Gelegenheit gäbe, ihm zu entkommen.

Himmel und Hölle sind die Bereiche, in denen die nicht verkörperten Seelen für eine relativ lange Zeitspanne, gemäß ihren guten oder schlechten Taten, wie der Fall gerade liegt, zu verbleiben haben. Der Aufenthalt dort, wie lange er auch immer währen mag, ist nicht für immer und führt sie auch nicht aus dem unerbittlichen Kreislauf der Geburten und Tode heraus. Das Paradies – Himmel oder Garten Eden – ist das Dorado gewisser Glaubensgemeinschaften. Viele nennen es auch die Erlösung. Aber Tatsache ist, dass man, nachdem man sich der paradiesischen Wohltaten für die Zeit, welche durch die guten Taten bestimmt war, erfreut hat, wieder einen menschlichen Körper bekommt, denn er allein bietet die günstige Gelegenheit, Verdienste zu erlangen, die schließlich zur Befreiung führen. Selbst die Gott dienenden Engel ersehnen die menschliche Geburt, wenn sie glauben, dass sie ihre Arbeit getan haben.

*Wenn man somit den nahezu allgemein anerkannten, weithin angenommenen und gemeinhin akzeptierten Weg der guten Taten verfolgt, findet man sich abermals gefangen im Netz der unersättlichen Wünsche und Begierden und mit diesem glitzernden und nie zu fassenden Glühwürmchen vor sich, bleibt er weiter ein unwissender Gefangener im eisernen Griff der Karmas. Um sein Ziel zu erreichen, verrichtet er Tapas – verschiedene Arten asketischer Entbehrungen –, die ihm ein besseres Leben einbringen mögen. Selbst wenn er die Herrschaft über ein Königreich erlangt, spielt sein Gemüt verrückt, er lässt sich selbst freien Lauf, vollbringt gewaltige Taten der Tapferkeit und des Heldenmuts, von denen die meisten schlimm genug sind, ihn in die Hölle zu bringen. Abermals, nachdem er eine bittere Lektion der Höllenfeuer, in die er hineingestürzt ist, erfahren hat, versucht er, in den Tapas Trost zu finden. So ist er immer gefangen und bewegt sich, in den Teufelskreis der Versuchungen und Verlockungen verwickelt, von der Hölle zur Reue, von der Reue zur Herrschaft und von der Herrschaft wieder zur Hölle – nacheinander – in einer endlosen zyklischen Folge, hinauf und hinunter am Rad des Lebens. Auf diese Weise schafft sich jeder selbst seinen Himmel und seine Hölle und bleibt durch seine eigenen, gewollten Taten in dem hauchdünnen Netz des Lebens verwickelt, das von ihm selbst angefertigt wurde.

* (Die Übersetzung dieses Abschnitts ist an die
englischsprachige Erstedition von 1965 angeglichen;
Anm. d. Redaktion 2011.)

Diese Regionen des Paradieses und der Hölle begegnen nicht dem, der dem Weg der Heiligen folgt, dem mittleren Weg, der genau zwischen den beiden Augenbrauen beginnt, denn er meidet den Weg eines Karma-Yogi. Selbst wenn eine Seele, die unter dem Schutz eines Meister-Heiligen steht, eine Weile irregeht, kann sie sicher sein, errettet zu werden.

Obgleich die Heiligen ein lebendiges Beispiel der Demut sind und nicht über Ihre große Autorität sprechen, weisen Sie doch zeitweilig auf die Erlöserkraft der Heiligen hin, Die vor Ihnen da waren.

Die Schriften offenbaren uns, dass Sant Satguru Nanak einen Seiner Schüler errettet hat, der sich irgendwie auf einem Irrweg befand, der zur Hölle führte. Der Heilige musste Sich wegen eines verlorenen Schafes dort hinbegeben und Seinen Daumen in die Höllenfeuer tauchen, wodurch der ganze Schmelzofen der Hölle abgekühlt wurde und nicht nur einem Erleichterung brachte, sondern vielen weiteren sündigen Seelen, die in ihrer großen Not mitleiderregend wehklagten. Ähnliche Begebenheiten gab es zur Zeit von Raja Janaka und anderen. Einmal hatte auch mein Meister, Hazur, einem Seiner Schüler herauszuhelfen, der nach unten hin abgeirrt war.

Wie kann es dann für den gewöhnlichen Menschen eine Erlösung von der Hölle geben?

Jene, Die Sich mit dem Wort verbunden haben, Deren Mühen werden enden, und Ihr Antlitz wird voll Glanz erstrahlen. Nicht nur werden Sie erlöst sein, o Nanak, sondern viele andere werden mit Ihnen die Freiheit finden.

Es gibt noch eine andere Region, welche die Moslem-Heiligen Eraf – Fegefeuer – nennen und in der es sowohl Freuden als auch Schrecken in variierendem Ausmaß gibt. Meister verschiedenen Grades beschrieben Erfahrungen von Ängsten und Höllenqualen unterschiedlicher Art. Diese Dinge sind keine Phantasiegebilde, sondern einer ernsten Überlegung wert. Man mag es glauben oder nicht, aber der Schüler eines Heiligen wird nicht davon betroffen. Und solange einer seinem Meister-Heiligen – Sant Satguru – treu ist, kann ihm keine Macht der Welt auch nur ein einziges Haar krümmen.

Ein Wahrer Schüler eines Sant Satguru sagt:

Ich habe nur mit den Heiligen zu tun, und mein ganzes Interesse gilt Ihnen. Durch das Kapital, das Sie mir gegeben, bin ich von allen Sinnestäuschungen befreit. Der Todesengel kann nun nicht ein einzig Haar auf meinem Kopfe krümmen, da der gesamte Bericht über meine Taten den Flammen übergeben ward.

Wieder heißt es:

Unbesiegbar, fürwahr, ist der Todesengel, und keiner kann ihn bezwingen; doch er ist machtlos in Gegenwart des Tonstroms des Meisters. Der bloße Klang Seines Wortes jagt ihm Schrecken ein, und er ergreift davor eiligst die Flucht, denn er fürchtet, der Herr der Heerscharen könnte ihn tödlich treffen.

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Anmerkung: 1) Für Einzelheiten, siehe Anhang II, am Ende des Buches.