Anhang I / (ii)

Vihar oder ethische Lebensweise

Eine weitere Aufgabe eines Heiligen ist, Menschen zu Menschen zu machen. Seine erste und vornehmste Mission ist es, den Menschen für die Höchste Erkenntnis der Seele und der Allseele zu öffnen. Der Heilige verlangt von dem Wahrheitssucher vollständige Reinigung von Körper, Gemüt und Intellekt; denn dies macht ihn erst zu einem vollkommenen und Wahren Menschen. Erst dann ist es möglich, den gordischen Knoten zwischen Körper und Geist zu lösen. Ein verstümmelter und abgestumpfter Mensch kann weder sich selbst noch Gott erkennen. Welcher Handlungsweise sollte also der Sucher folgen? Dies ist die lebenswichtigste Frage, die doch am meisten übersehen und übergangen wird und der man kaum einen Gedanken widmet! Die kärgliche Information, die dem Durchschnittsmenschen zur Verfügung steht, verdankt er entweder vereinzelten Äußerungen von religiösen Menschen oder dem Studium der Heiligen Schriften.

Aber der Mensch hat im Allgemeinen nicht einmal auf der Verstandesebene versucht, eine befriedigende ethische Lebensweise zu finden. Er hat sich keine Zeit genommen, dieser Frage Beachtung zu schenken. Vielleicht erlaubt religiöse Bigotterie oder Angst der Geistlichkeit nicht, die Aufmerksamkeit der Massen auf dieses Problem zu lenken. Sie mag es wegen des starken Materialismus, der überall vorherrscht, als ein hoffnungsloses Unterfangen betrachten, Ernährungsregeln aufzustellen. Doch es gibt immerhin einige, die aufgeschlossen sind und die östliche Literatur vorurteilslos studieren. Sie haben aber viele Schwierigkeiten wegen der besonderen Terminologie, die ihnen fremd ist. Die Worte sind in sich nicht deutlich genug und vermitteln die Meinung der Autoren nicht genau.

Die alten Weisen, die Rishis und Munis der früheren Zeit, haben die Frage des menschlichen Lebens gründlich erforscht. Sie haben seine verschiedenen Bedingungen eingehend untersucht, um schließlich einen brauchbaren kulturellen Wegweiser für den Menschen bei seiner Suche nach Vollkommenheit herauszufinden. Auf diese Weise entwickelte man eine allen annehmbare Richtschnur einer alles umfassenden Zivilisation oder Reform, welche die Erkenntnis des Selbst oder der Seele in sich schloss sowie das Erreichen der Höchsten und Letzten Wirklichkeit – der Großen Wahrheit. Sie begannen mit der methodischen Erforschung der Gunas (Prinzipien), des Rückgrats und der ursprünglichen Quelle aller karmischen Wirksamkeit, um deren Kernpunkt sich der menschliche Geist bewegt.

Als nächstes zergliederten sie die Gunas und teilten sie in drei besondere Gruppen ein, die voneinander ganz verschieden sind:

  1. Satogun – die höchste Handlungsweise. Ein reines Leben in geistiger Ausgeglichenheit.

  2. Rajogun – heißt Mittelweg; ein Handeln des Gebens und Nehmens nach Art der Geschäftsleute.

  3. Tamogun – ist die niedrigste Handlungsweise, bei der einer nur auf selbstische Ziele bedacht ist, ohne den geringsten Gedanken an andere.

Dieses Thema kann mit ein paar Beispielen leicht verständlich gemacht werden:

(a) Man betrachte die Frage des Dienens und Helfens

(i) X hat es sich im Leben zum Grundsatz gemacht, anderen zu dienen, erwartet aber dafür keinerlei Dienst oder Hilfe von anderen für das, was er getan hat. Tu Gutes und erwarte keinen Dank, ist seine Lebensregel.

(ii) Y dient und hilft und erwartet das gleiche als Gegenleistung. Dies kann mit einem Austausch von Diensten verglichen werden, wie es bei geschäftlichen Absprachen nach dem Prinzip des Gebens und Nehmens, des Tauschhandels, besteht. Tu anderen so, wie du willst, dass sie dir tun.

(iii) Z dient nicht und hilft auch keinem, aber er glaubt, ein Anrecht auf Hilfe und Dienst von anderen zu haben, wofür er sich jedoch zu keiner Gegenleistung verpflichtet sieht.

(b) Nun bedenke man die Frage der Nächstenliebe:

(i) X gibt und vergisst und will nichts dafür haben. Sein Grundsatz ist, den Hilflosen und Bedürftigen selbstlos zu dienen;

(ii) Y gibt und erwartet für den guten Dienst, den er anderen geleistet hat, auf irgendeine Weise eine Gegenleistung;

(iii) Z nimmt nur Hilfe und Dienste an, wenn immer er sie braucht, aber vergilt sie nie, selbst wenn ein anderer direkt vor seinen Augen in ärgster Not ist.

Man kann daraus ersehen, dass

  1. das Verhalten von X das beste und Satogun ist. Seine guten Taten bringen ihm vor jedermanns Augen den Lohn dieser Welt und den der Welt seines Schöpfers.

  2. Y verdient keinen Lohn für seine guten Taten, weil er sie mehr oder weniger durch geschäftsmäßiges Geben und Nehmen ausgeglichen hat, ohne dass noch etwas zu seinen Gunsten anstünde.

  3. Z dagegen belastet sich selbst mit Schuld oder Verpflichtung, für die er sich dem karmischen Prozess unterziehen muss, der sich möglicherweise endlos von einer Generation zur anderen hinzieht.

Die Meister empfehlen darum den Menschen, den ersten Weg einzuschlagen und in keinem Falle tiefer hinabzugehen als bis zum zweiten Weg. Ähnlich kann sich jeder selbst ein Programm für sein Leben aufstellen und seine Handlungsweise bestimmen. Soviel also zum Tun des Menschen als Mitglied der sozialen Ordnung, der er angehört. Dies ist jedoch kein Ziel für sich, sondern nur ein Mittel zum Zweck, nämlich Neh Karma zu erlangen, das heißt, Karmas (Handlungen) nicht nur ohne irgendeine Bindung und ohne Wunsch nach den Früchten, sondern sie als Swadharm, ein Tun im Nichtstun, auszuführen, um dann weiterzugehen und sich innerlich zu entfalten und den Ursprung aller Liebe, allen Lebens und allen Lichts zu erfahren, in dem wir wahrlich leben und unser ganzes Sein haben, genau wie der Fisch im Wasser, der gar nicht weiß, was Wasser ist.