Der Dieb eures Lebensodems

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Ich will euch ein Beispiel aus dem Leben Guru Nanaks nennen. Ein Schüler namens Bhai Ajitha fragte einst den Guru: Maharaj, Ihr habt gesagt, dass einige nur einen Hauch von 'Sikhi' – Wahrer Ergebenheit für den Guru – haben und andere unter dem schützenden Dach eines Wahren Schülers leben, es aber weitere gibt, die den Nektar eines solchen Schülers kosten. Bitte lasst mich diese drei Arten von Schülern sehen.

Nun hört aufmerksam diese Geschichte: Am Abend wurde Ajitha von Guru Nanak in ein bestimmtes Haus mitgenommen – zu jener Zeit hatten die Häuser einen Innenhof. Der Eigentümer sagte zu seiner Familie: Draußen sind Heilige Männer, wir müssen ihnen zu essen geben. Aber es waren sehr arme Leute mit recht geringem Einkommen. Sie sammelten von eines jeden Anteil ein Stück Brot und boten es Guru Nanak ehrerbietig an; dann kehrten sie an ihren Platz zurück. Guru Nanak und Ajitha verbrachten die Nacht, indem sie Loblieder zu Gottes Ehre sangen. Am Morgen sandte Guru Nanak Ajitha zum Hausherrn und ließ ihm sagen: Wir gehen jetzt. Dieser erwiderte: Brüder, ihr wollt gehen: So geht. Wer bat euch zu kommen?

Als sie auf dem Weg waren, sagte Guru Nanak zu Ajitha: Dieser Mann hatte einen leichten Anflug von Schülerschaft. Solche Menschen werden zuhören, finanziell und physisch dienen, aber sie werden dort bleiben, wo sie sind. Ihr seht, wenn jemand einen leichten Anflug Wahrer Ergebenheit hat, ist er bereit und willens, alles zu tun; doch wenn dieser Anflug vergeht, sind all seine Bestrebungen vergessen. Ajitha sagte darauf: Maharaj, diesen Menschentyp sehe ich jeden Tag; jetzt zeigt mir bitte einen, der unter des Meisters Schutz lebt.

Sie gingen in ein Dorf und betraten das Haus einer großen Familie, die ihnen zu essen gab und mit großer Liebe und Ergebenheit für sie sorgte. Als die Nacht kam, sagten sie: Maharaj, habt Erbarmen mit uns. Wie können wir unseres Gemüts Herr werden? Wir sind hilflos in dieser Welt gefangen – zeigt uns den Weg zur Erlösung. Die ganze Nacht lauschten sie den Ratschlägen Guru Nanaks, bis mit Tagesanbruch die Sonne aufging. Als der Guru zu erkennen gab, dass sie weiterreisen wollten, kochte die Familie eilends mehr Essen und packte es für ihre Reise ein. Und als der Guru sie verließ, baten alle um Seine Gnade; Er möge nach ihnen sehen und bald wiederkommen. Guru Nanak erklärte Ajitha, dass diese Leute zu der Art Menschen gehören, die unter dem Schutz eines Wahren Meisters leben. Wie viele könnt ihr finden, die die ganze Nacht damit zubringen, über den Herrn zu sprechen? Seid ihr solchen begegnet? Bei ihnen besteht Aussicht auf Erlösung. Sie mögen im Augenblick nichts erreichen, aber für später besteht Hoffnung.

Darauf sagte Ajitha: Aber wie steht es mit jenen, die den Kern der Wahrheit von einem Meister erlangt haben?; und Guru Nanak versprach, ihm ein solches Beispiel zu zeigen. Einige Tage später gingen sie zu einer anderen Familie, wo ein Mann, seine Frau, ihre zwei Söhne und eine Tochter lebten, die von der Liebe zum Meister durchdrungen waren. Sie alle empfingen und bewirteten Guru Nanak mit Hochachtung und Ergebenheit. Einem Wahren Meister Ergebenheit zu bezeigen heißt, Gott selbst ergeben zu sein. Die Frau zog sich sofort in die Küche zurück, um Essen zu bereiten. Ein Sohn eilte ihr zu Hilfe, glitt aber auf dem Boden aus, fiel hin und starb. Natürlich war sie voller Schmerz; aber indem sie an die karmischen Gesetze dachte, führte sie es auf das Geben und Nehmen zurück und besann sich des Heiligen, Der gerade in ihr Heim gekommen war. Sie beschloss, dass der Vorfall diese gute Gelegenheit nicht beeinträchtigen sollte, legte den Körper ihres Sohnes in ein Zimmer unter die Bettdecke und wollte ihrem Mann erst davon berichten, wenn der Heilige sie verlassen hatte.

Inzwischen war der Mann, begleitet von seinem jüngeren Sohn, in den Hof gegangen, um etwas zu holen, als dieser plötzlich stolperte, fiel und starb. Der Vater hatte nun genau denselben Gedanken wie seine Frau und versteckte den Körper des Sohnes in einem anderen Zimmer. Danach half er weiter hingebungsvoll beim Bereiten des Mahles.

Als dieses für Guru Nanak aufgetragen wurde, nahm Er die kleine Tochter, setzte sie auf Seinen Schoß und fragte sie: Wo sind deine Brüder? Sie antwortete: Sie sind im Schoße des Gurus. Im Leben oder im Tod sind wir alle in Seinem Schoß. Guru Nanak nahm etwas von dem Essen, konnte es aber nicht hinunterschlucken. Er sagte: Es will nicht durch meine Kehle; sie haben mich durch ihre Liebe und vollkommene Hingabe an den Guru verpflichtet; und indem Er Sich an den Vater wandte, sagte Er: Ich möchte deine Söhne sehen, rufe sie bitte. Der Mann und die Frau wurden unruhig, denn beide verbargen die Tatsachen und wussten nicht, was sie tun sollten. Aber der Guru bestand darauf; so rief der Mann die Namen der beiden Söhne. Alsbald kamen die Knaben aus den Zimmern, in denen sie gelegen hatten. Sie erzählten von ihrem interessanten Schlaf, als sie beide im Schoße des Gurus ruhten. Wer kann sich die Freude im Herzen der Eltern vorstellen? Guru Nanak wandte sich an Ajitha und bemerkte: Das sind nun Menschen, die wahrlich aus des Gurus Gegenwart das Wesentliche gewonnen haben.

Dieses letzte Beispiel war eines der Wahren Lebensweise, die Art des Lebens, welche wir lernen müssen. Ihr könnt selber erkennen, wo ihr gegenwärtig steht, und der einzige Grund für diese Situation ist die Tatsache, dass ihr den Meister nicht wirklich zu lieben wisst. Warum sollte Er, Der sich über das Gemüt und die Sinne erhebt, versuchen, euch hier darin gefangen zu halten? Wer immer den Wahren Nektar gekostet hat, hegt den glühenden Wunsch, dass jeder diese Glückseligkeit erfährt.

Findet den Meister, meine Brüder, und sichert euch das Wahre Naam; bindet dieses Lebens Schatz an euch, hier und im Jenseits.

Der Schatz der Meister ist in beiden Welten von Wert; wo also hat da die Negative Kraft einen Platz? Die Negative Kraft kommt herein, wenn wir nicht wahrhaft lieben, wenn wir nicht gehorchen oder nur insoweit gehorchen, wie uns der Sinn danach steht. Das ist, was man die Kraft des Negativen nennt. Wir gehen sogar soweit, dass wir zuweilen dem Meister einen Rat geben. Hafiz von Shiraz machte die überraschende Aussage, dass ihr euren Gebetsteppich in Wein tauchen solltet, wenn es euer Guru von euch verlangt. Warum? Würde Er, Der die Trunkenheit von Naam erfahren hat, wollen, dass ihr im Rauschgift der Welt gefangen werdet? Wir sollten uns bemühen, die Lehren des Meisters und was ihnen zugrunde liegt, sorgfältig zu verstehen und nicht die Zeit mit intellektuellen Streitgesprächen und Schlussfolgerungen vergeuden. Wenn ein Offizier den Befehl gibt zu schießen, muss es der Soldat tun, und die Verantwortung der Entscheidung liegt beim Offizier. So ist es unsere Pflicht zu gehorchen und, falls erforderlich, zu sterben! Solange sich unser Gemütszustand nicht zu dieser Art Unterordnung entwickelt, werden wir nicht den vollen Gewinn haben, den Naam zu bieten vermag. Der Guru weiß sehr wohl um die Wege der Spiritualität.

Ihr habt die Verbindung erhalten, so erweitert sie täglich. Und wenn ihr ohne Einschränkung zu gehorchen lernt, wird die Farbe dieser Welt verblassen, und ihr werdet tief in die Farbe von Naam getaucht. Ungehorsam endet darin, dass man nicht nur in diesem Leben, sondern auch danach unablässig im Feuer der Sinne verzehrt wird.

Als jemand zu Lord Vishnu sagte, dass er sehr beschäftigt sein müsse, immer für so viele irrende Seelen die Höllen vorzubereiten, antwortete er:

Nein, ich tue nichts – die Seelen bringen ihr eigenes Feuer mit und werden darin verzehrt.

Wir gehen genau unserem Inneren Gemütszustand entsprechend durch das Leben. Die Meister zeigen einen geraden Weg hinaus, aber die weltlichen Menschen erheben Einwände; sie sind überzeugt, dass Er nichts anderes tut, als die Erfüllung ihrer Wünsche zu vereiteln. Der Meister kommt, um das rechte Verständnis des Lebens zu geben, doch die Menschen treiben Ihn weg und geben vor, dass Er gekommen sei, ihre Wurzeln zu verderben, indem Er sie bewässert. Sie verstehen nicht die tiefe Bedeutung des Satsang oder wollen es nicht, obwohl in allen Religionen dargelegt wird, dass es keine Erlösung ohne Naam oder das Wort gibt.

Es ist schon in euch; ihr müsst euch dessen nur bewusst werden. Ein Mensch, Der bereits allbewusst ist, kann euch erwecken. Wer nicht das strahlende Licht im Innern hat, kann Es auch nicht anderen zeigen. Es ist ein Werk, das unmöglich von Intellektuellen, Schriftgelehrten usw. vollbracht werden kann. Zieht den vollen Nutzen aus der Meditation, und lasst ihn täglich größer werden. Je mehr euch das gelingt, desto näher rückt euer Ziel. Wenn ihr euch weigert, wird der Tag kommen, an dem ihr voller Schmerz seid über die verlorene Gelegenheit. Das alles ist eine ganz einfache Tatsache, und äußere Respektbezeigungen bringen nichts ein. Lernt, unbedingt zu gehorchen – das ist das Geheimnis in wenigen Worten.