Teil I: Kapitel II / II – (i)-(ii)

Yamas und Niyamas

1. Yama: Der Begriff Yama bedeutet dem Wortsinn nach so viel wie ausschließen, ausschalten oder ausmerzen. Er besagt, dass man sich des Lasters enthalten und nicht irgendwelche üblen Gedanken aufrechterhalten und negative Eindrücke aufnehmen soll, da dies dazu führt, das Gemüt und den Willen zu schwächen.

2. Niyama: Dies besagt hingegen Annahme, Pflege, Beachtung und Entfaltung bestimmter Tugenden und das Unterhalten guter Gefühle sowie die Aufnahme dieser Tugenden in das eigene System.

Somit bezeichnen diese beiden Worte zusammengenommen die Ablehnung des Übels einerseits und die eifrige Pflege und Annahme des Guten andererseits.

Patanjali zählt diese Enthaltungen und Beachtungen wie folgt auf:

  • Ahimsa (nicht verletzen, schädigen),

  • Satya (nicht lügen),

  • Asteya (nicht stehlen),

  • Brahmacharya (sexuelle Enthaltsamkeit) und

  • Aprigreha (keine Begehrlichkeit oder Besitzgier).

Nachfolgend werden einige Yamas und Niyamas gegenübergestellt:

Yamas
Enthaltung von:
 
Niyamas
Annahme und Beachtung von:

1. der Verneinung Gottes

 

Glaube an Gott und die Göttliche Kraft

2. Nachgiebigkeit gegen sich selbst

 

Selbstbeherrschung und Keuschheit (Brahmacharya oder Reinheit in Gedanken, Worten und Taten)

3. unehrenhaftem und betrügerischem Lebensunterhalt

 

den Unterhalt durch ehrenhafte und ehrliche Mittel verdienen

4. unhygienischen und unreinen Lebensbedingungen, sowohl innerlich wie äußerlich

 

Innere Reinlichkeit durch Wasserspülungen und Sauerstoffbehandlung usw. und äußere durch regelmäßige Hautbäder, Sitzbäder, Luft- und Sonnenbäder usw. und hygienische Lebensbedingungen in gesunder Umgebung

5. der Schädigung anderer durch Gedanken, Worte und Taten (himsa)

 

Nichtschädigen in Gedanken, Worten und Taten (ahimsa)

6. Falschheit, Täuschung und Gier

 

Entfaltung der Wahrheit, Aufrichtigkeit und Mildtätigkeit

7. Unduldsamkeit, Geiz und Selbstsucht

 

Geduld, Zufriedenheit und selbstloser Dienst

8. Selbstbehauptung (Anmaßung) und Egozentrik

 

Demut und Selbsthingabe

 

Im Hinblick auf die Enthaltungen ist gesagt:

  1. Einer, der in Ahimsa verwurzelt ist, hat keine Feinde.

  2. Einer, der in Satya verankert ist, dessen Worte können nur wahr sein und Frucht tragen.

  3. Einer, der in Asteya gefestigt ist, ist ein wahrer Freund der Natur, und die Natur gibt ihm all ihren Reichtum.

  4. Einer, der Brahmacharya beachtet, erlangt die absolute Kraft.

  5. Einer, der Aprigreha übt, löst das Rätsel des Lebens, und für ihn sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein offenes Buch.

Was man beachten sollte, ist: Shaucha (Reinheit des Körpers und des Gemütes), Santosh (Zufriedenheit), Tapas (Härten, Buße), Swadhyaya (Studium der Schriften einschließlich Japa usw.), und Prasadhna oder Ishvara Pranidhana (Gedanken, die auf Gott abgestellt sind, und absolute Abhängigkeit von Gott).

  1. Shaucha trägt Reinheit und Abneigung für Sparsha (Verbindung mit einem anderen Körper) ein.

  2. Santosh macht zufrieden und somit geistig reich.

  3. Tapas befreit von allen Unreinheiten und verleiht übernatürliche Kräfte (zum Beispiel: sich selbst aufzulösen; alles Gewicht verlieren; jede Geschwindigkeit annehmen können; sofortigen Zugang zu allen Orten zu erlangen; alle Wünsche erfüllt zu bekommen; alles durchdringend zu werden; Göttliche Kräfte zu erwerben; alle Wesen und die Elemente der Natur usw. zu beherrschen). All das kommt von selbst, wenn man sich auf das Gegenteil von dem, was man tatsächlich wünscht, konzentriert und darüber meditiert.

  4. Svadhyaya personifiziert die verehrte Gottheit.

  5. Ishvara Pranidhana bringt Sättigung und Wunschlosigkeit ein.

In den Upanishaden jedoch besteht jede dieser Listen aus je zehn Vorschriften für Enthaltung und Beachtung. So ist Aprigreha in der ersten Kategorie durch Güte, Redlichkeit, Vergebung, Geduld, Enthaltsamkeit und Reinheit ersetzt. Auf ähnliche Weise wurde Shaucha in der zweiten Liste an die Stelle von Glauben, Mildtätigkeit, Bescheidenheit, Intelligenz, Japa und Fasten gesetzt. Doch ist das Ziel in jedem Falle das gleiche: Sadachar oder rechtschaffene Lebensweise, was den Weg zur Inneren Spirituellen Entfaltung bereitet. Die Listen der Tugenden, die eingeschärft werden, und der Laster, die aufzugeben sind, können sich von einem Lehrer zum anderen unterscheiden, aber der Zweck ist immer derselbe. So erklärt der Manu die Grundlagen von Sadachar oder Dharma in Begriffen seiner eigenen Kategorien.

Die Praxis der Yamas und Niyamas Beschränkungen und Beachtungen, stellen Sadachar oder rechte Führung dar, was die Grundlage aller Religionen der Welt bildet. Der Manu erklärt uns das Wesen des Dharma als:

Ahimsa, Sataya, Steyam, Shaucham, Indriya Nigreha. – Nichtverletzen, Wahrhaftigkeit, Reinheit, rechte Lebensweise und Beherrschung der Sinne.

Nach Sandalya Rishi umfasst die Liste:

  1. Shaucha (äußere körperliche Reinheit einschließlich der des Ortes und der Gegend und Innere Reinheit der Gedanken, Gefühle und Empfindungen);

  2. Daya (Barmherzigkeit und Erbarmen für alle lebenden Geschöpfe, ganz gleich unter welchen Umständen);

  3. Arjava (ausgeglichenes und stetiges Gemüt bei allem Tun und in jeder Lage);

  4. Dhriti (Innere Stärke und Ausdauer in allen Situationen);

  5. Mit-Ahara (diszipliniertes Leben allgemeiner Mäßigkeit, insbesondere hinsichtlich der Speisen und Getränke).

Auch Lord Krishna legt in der Bhagavad Gita großes Gewicht auf die Praxis der Yamas und Niyamas.

Der mitleidsvolle Buddha schreibt seinen Anhängern ebenfalls den erhabenen Pfad der Rechtschaffenheit vor, der rechtes Glauben (Wissen), rechtes Denken, rechtes Handeln (Verhalten), rechtes Leben, rechtes Streben (Ziele), rechtes Gedenken (Einsicht) und rechtes Sichversenken (Hingabe) umfasst. Vor allem legte er großen Wert auf den rechten Umgang oder die rechte Gesellschaft mit solchen, welche die Wahrheit erlangt haben und den Glauben erwecken; die durch einen Prozess der Osmose (Durchdringung) den Aspiranten Glauben und Hingabe einflößen.

Bikkhu Buddharakkita beschreibt der Majjhima Patipada, den Mittelweg oder die Goldene Mitte zwischen den beiden Extremen der Nachsicht gegen sich selbst und der Selbstkasteiung und zeigt uns damit den buddhistischen Weg der Entfaltung und Schulung durch Bhavna, nämlich

  1. Shila Bhavna: ethische Reinheit

  2. Chita Bhavna: mentale Reinheit

  3. Ptagna Bhavna: intuitive Einsicht

Der gleiche Autor betont die Notwendigkeit, Shila oder die moralische Reinigung als Grundlage für alles zu entwickeln, sei es im weltlichen Leben oder für den Spirituellen Fortschritt. Buddha erklärte, dass dem wirklichen Tugendhaften fünf Vorteile erwachsen: ein gutes Schicksal durch Fleiß, allerorts ein guter Name, Achtung bei allen Gemeinschaften, ein reines Gewissen bis zum Ende und eine Wiedergeburt mit einem günstigen Schicksal.

Das Mindeste, was der buddhistische Laie zu beachten hat, sind die fünf Vorschriften oder Panch Shila die zu rechtem Handeln (Verhalten) führen, welches, wie oben beschrieben wurde, eine der wichtigsten Stufen auf dem achtfältigen Pfad ist. Diese Vorschriften sind: Nicht töten, nicht stehlen, keine sexuellen Fehltritte, nicht lügen, keine berauschenden Getränke zu sich nehmen; damit verbunden ist das Beachten positiver Tugenden: Maitri (Freundlichkeit gegenüber allen), Dan (Mildtätigkeit), Brahmacharya (Keuschheit), Festhalten an der Wahrheit und Mäßigkeit. In der Panch Shila von Buddha finden wir eine genaue Parallele zu den Yamas und Niyamas, wie sie die Alten vorgeschrieben hatten.

Shila oder der Prozess der Reinigung ruht auf zwei Fundamenten: Hiri (Gewissen) und Ottappa (Schamgefühl), denn man lässt vom Übel ab aus Selbstachtung und Bedenken einerseits und Achtung voreinander sowie Furcht vor Tadel oder einem Verweis andererseits, mit der Folge, dass man Bescheidenheit zusammen mit Redlichkeit und Anständigkeit entwickelt. Was für den Buddhismus gilt, trifft auch auf die Denkweise der Jains zu, die fünf große Gelübde verlangen, wie: keine Gewaltanwendung, nicht stehlen, Enthaltsamkeit von allem Begehren, Wahrhaftigkeit und Keuschheit.

Die zweifache Betonung der Yamas und Niyamas ist nicht nur eine Vorliebe der alten indischen Denkweise. Sie müssen von allen Menschen beachtet werden, die wirklich eine religiöse Erfahrung anstreben. Wenn wir die Entwicklung der jüdischen und christlichen Denkweise untersuchen, begegnen wir derselben Erscheinung. So legte Moses die Zehn Gebote nieder, welche die Schwächen aufzeigen, denen es entgegenzutreten gilt, nämlich: die Verehrung von anderen Göttern, die Anfertigung von Götzenbildern, leere Wiederholung der Namen Gottes, Entweihung des Sabbath, Missachtung gegenüber den Eltern, des Begehen von abstoßenden Verbrechen wie Töten, Ehebruch, Stehlen, und schließlich soziale Übel wie falsches Zeugnis geben und des Nächsten Weib und Habe begehren (Exodus 20:4-17).

Es blieb Jesus vorbehalten, das Bild zu vollenden, als er in den zehn Seligpreisungen die Eigenschaften betonte, die es zu entwickeln gilt: Einfachheit im Geiste, Leid tragen, Sanftmut, Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Reinheit des Herzens, Friedfertigkeit, Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen und gelassenes Hinnehmen aller Schmähung und Verleumdung (Matthäus 5:1-11).

Er sagte mit Recht:

Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.

Die Lehren des Islam legen Nachdruck auf Shariat (Einhaltung moralischer Gebote), Tauba (Buße), Faqr (Entsagung), Tazkiya-i-nafs (Unterwerfung der Sinne), Tawakal (Glauben an Gott), Zikr (Spirituelle Disziplin) und Tawhid (Einigkeit); und die Sikh-Gurus (die die Entfaltung wichtiger Tugenden vorschreiben wie Keuschheit, Geduld, Verstehen, Erkenntnis, Gottesfurcht, Härten, Liebe und Mitgefühl), obwohl sie viel später kommen, verkünden eine ähnliche Lehre.

Guru Nanak setzte kurz die Wahre Lebensweise über alles:

Die Wahrheit ist höher als alles andere, aber noch höher ist die Wahre Lebensweise.

Guru Nanak, Sri Rag M1

Warum dies gelten soll, ist nicht schwer herauszufinden. Um spirituell fortschreiten zu können, sind Friede und Gemütsruhe unbedingt notwendig. Solange einer Sklave der verschiedenen Wünsche ist, gibt es keine Harmonie. Darum muss man alle Wünsche ausmerzen, die das Selbst von dieser Harmonie wegführen. Aber die Natur liebt die Leere nicht, und was für die physischen Erscheinungen gilt, trifft auch auf die psychologischen zu. Der einzige Weg, um das Gemüt von seinen negativen und zersetzenden Impulsen zu reinigen, ist, sie durch positive und redliche zu ersetzen. Aber der Wahrheitssucher muss daran denken, dass Sadachar nur ein Mittel ist und nicht das Ende, und indem er das erkennt, muss er darüber hinaus zu seinem Spirituellen Ziel gelangen.

Swami Vivekananda, der diesen Vorgang in 'Das Geheimnis der Arbeit' mit großer Klarheit analysiert hat, legt es folgendermaßen dar:

Du musst dessen eingedenk sein, dass die Freiheit der Seele das Ziel aller Yogas ist […] Eine goldene Kette ist genauso eine Kette wie eine aus Eisen. Wenn in meinem Finger ein Dorn ist, brauche ich einen weiteren, um den ersten herauszubekommen, und wenn mir das gelungen ist, dann werfe ich beide weg […] so soll man den üblen Neigungen durch gute entgegenarbeiten, und die schlechten Eindrücke im Gemüt sollten durch die frischen Wellen von guten entfernt werden, bis alles Üble schwindet oder bezwungen ist. Auf diese Weise wird das 'Gebundene' 'ungebunden.'