Teil I: Kapitel IV / VII

Die Natur von Brahman

Die bloße Idee einer 'Begrenztheit' zeigt die Existenz eines Unbegrenzten an, so wie das Wort unwirklich etwas Wirkliches einschließt – die Grundlage aller Intelligenz und Vorstellungskraft. Auch haben wir das überragende Zeugnis der Schriften, die von der religiösen Erfahrung der Seher aller Zeiten und Länder sprechen.

Das Wesen von Brahman kann nicht in Worte gefasst werden. Es ist die Grundlage von allem, was existiert. Es breitet sich überall aus und ist dennoch nirgends an etwas Bestimmtes gebunden. Es ist eine paradoxe Erscheinung von Sein und Nichtsein zugleich.

Man kann dieses Problem auf zweierlei Weise betrachten: auf eine positive und eine negative. Zum einen ist Gott der unbegreifliche Absolute, zum anderen der Erschaffende und Wirkende, die erste Ursache alles Seienden: der Logos oder der Heilige Geist, Kalma oder Bang-i-Qadim, Nad oder Udgit, Naam oder Shabd.

Die letztgenannten Begriffe weisen auf das Lebensprinzip hin, auf das Wort oder die Gotteskraft, die allem innewohnt und in allem vibriert, vom Höchsten bis zum Untersten im Universum. Es ist die wesentliche wie auch die wirkende Ursache der Welt. Es ist das Prinzip der Wahrheit und des Gottesgeistes (der waltende Gott – Ekankar).

Von dieser Gotteskraft sagt uns das Evangelium:

Das Licht erscheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen.

Diese Kraft Brahmans (Ishvar) oder der Gottheit ist der Mittler zwischen Brahman und dem Universum und hat an der Natur beider Anteil. Ihre Einheit wird jedoch durch den Selbstausdruck in der Vielheit (Eko aham bahusiam) nicht berührt. Beide existieren als Wirklichkeit und Erscheinung, und der Unterschied entsteht nur durch die begrenzte Einsicht des Menschen.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Höchste Wirklichkeit ist die Grundlage der Welt, wie wir sie kennen, von ihr sprechen und sie sehen. Die Vielheit oder Mannigfaltigkeit in der Einheit ist eine Folge irriger Beurteilung. Die Welt ist zwar unwirklich, aber keine subjektive Täuschung.

Das Absolute ist in der Welt, aber die Welt ist nicht im Absoluten; denn ein Schatten kann nicht den Platz der Wirklichkeit einnehmen. Etwas, das auf dem Wirklichen fußt, kann nicht selbst das Wirkliche sein. Die Welt ist nur die äußere Erscheinung der Wahrheit, aber nicht die wesentliche Wahrheit der einen Wirklichkeit oder der zentripetalen Kraft im Kern ihres Wesens.

Das individuelle Selbst ist eine Verflechtung von Neigungen und Abneigungen, Bevorzugungen und Vorurteilen, Absichten und Plänen, Erinnerungen und Assoziationen. Die bedingte individuelle Seele (Jiva) ist im Wesentlichen der unbedingte Atman. Dieses empirische Selbst oder das individuelle Verstehen ist durch Unkenntnis über seine wirkliche Natur der aktiv Handelnde, der sich Erfreuende und der Leidende im reinen Licht des Atman, von dem er weder Wissen noch irgendeine Erfahrung hat. Eingehüllt im physischen Körper, bestehend aus den fünf Elementen (Äther, Luft, Feuer, Wasser, Erde), ist der feinstoffliche Körper, bestehend aus siebzehn Elementen (fünf Wahrnehmungsorgane: Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut; fünf Tätigkeitsorgane: Sehen, Hören, Geruch, Geschmack und Tasten; fünf vitalen Winde, sowie Manas und Buddhi) und auch der Kausal- oder Ursachenkörper. Das begrenzte Selbst folgt dem unerbittlichen Gesetz des Karma, indem es von einem Körper zum anderen wandert auf dem riesigen Rad des Lebens.

Dieses begrenzende Beiwerk – das physische, mentale und kausale – reduziert den Atman auf die Ebene der Jiva (individuelles Bewusstsein) und bestimmt ihr Schicksal, indem er in den endlosen Kreislauf hineingezogen wird. Im Innersten der Jiva ist das bezeugende Selbst, das lediglich auf den gesamten Schauplatz niederblickt und sein Licht darüber verbreitet, welches das Ego, das Gemüt, die Sinne und die Sinnesgegenstände beleuchtet und dennoch weiterhin in seinem eigenen Licht erstrahlt, auch wenn der Schauplatz wieder geräumt ist. Letzterer ist einem silbernen Bildschirm vergleichbar, auf dem allein sich diese ganze Schau abspielt.

Diese Stufe zu erlangen, auf der der Atman weiß, was seine Bestimmung ist, und erkennt, dass er und Brahman eins sind, ist das Ziel des Advaitismus. Dieser Zustand besteht in der direkten Erfahrung, und wie Shankara deutlich klargemacht hat, kann er nicht durch bloßen Vernunftschluss, Lesen von Schriften oder durch Vollziehen von Ritualen erreicht werden. Er kann nur zustande kommen, wenn man Yoga übt. Es ist wesentlich, sich zu vergegenwärtigen, dass der Advaitismus an sich kein Yoga ist, sondern streng genommen die Philosophie des Yoga in ihrem Feinsten und Tiefsten darstellt.

Wie Shankara selbst erklärte, sprach er von nichts Neuem. Er befasste sich lediglich mit der Aufgabe, das, was in den Upanishaden und der Gita bereits zum Ausdruck gebracht war, neu zu formulieren.

Mit einem außergewöhnlichen Verstand und einem verblüffenden Sinn für Logik begabt, ging er daran, die in den Shrutis enthaltenen Einsichten (Erkenntnisse) in zusammenhängender und systematischer Form von neuem zu erklären, die Einsichten, die in der Folgezeit durcheinandergebracht wurden und zu viel unnötigem Wortstreit geführt haben. Er hat ein für allemal nachgewiesen, dass jeder Versuch einer Beschreibung von Brahman, der es versäumt, von einer nicht vielfältigen und nicht-dualistischen Wirklichkeit auszugehen, seiner Natur nach unlogisch sei und dass der Advaitismus in der Tat das logische Ergebnis des Yogagedankens ist. Darin einbezogen war die Ansicht, dass von allen Samadhi-Zuständen derjenige, in dem der individuelle Atman seine Identität in Brahman verliert – Nirvikalpa – der höchste sei. Der Zustand sollte hier und jetzt erreicht werden, damit man in diesem Leben die Befreiung (jivan mukti) erlangt. Wer einmal durch die Welt, wie sie sich uns zeigt, zum Absoluten vorgedrungen ist, wird sich nie mehr von den Erscheinungsformen gefangen nehmen lassen. Er ist ein befreiter Geist, der im Lichte Wahren Wissens lebt. Die frühere Antriebskraft mag ihn weiter zum physischen Dasein bringen, aber wenn sie sich einmal erschöpft hat, geht er gänzlich in Brahman, der reinen Erkenntnis, auf.

Shankara war wirklich ein bemerkenswerter Mensch, dem Gelehrsamkeit und Einsicht eigen waren, und sein Beitrag zum indischen Denken ist ein dauerhafter. Indem er dieses zu seinem logischen Schluss führte, gab er ihm den Glanz beständiger Klarheit.

Aber genau wie Ritual und Schriften eine unmittelbare Innere Erfahrung nicht ersetzen können, so vermag auch das bloße Wissen, dass das Selbst und Brahman eins sind, nicht die Stelle tatsächlicher Erfahrung von dieser Einheit auszufüllen. Die Philosophie des Yoga ist nicht das Gleiche wie der Yoga selbst. Sie kann bestenfalls unser Denken aus der gegenwärtigen Verwirrung befreien, aber das Übrige muss eine Sache praktischer persönlicher Verwirklichung durch Yoga bleiben.