Teil II: Kapitel I / I

Der Tonstrom

Es ist im Zusammenhang mit diesem Problem, dass der Surat Shabd Yoga, welcher der Yoga des Himmlischen Tonstromes ist, seine einmalige Bedeutung erhält. Diejenigen, welche diesen Yoga gemeistert haben, lehren, dass das Absolute, obschon in Seinem ursprünglichen Zustand frei von allen Attributen, Sich Selbst in die Form projiziert und zwei erste Attribute annimmt: Licht und Ton. Es ist kein bloßer Zufall, dass in den Offenbarungsschriften aller bedeutenden Religionen häufig Hinweise auf das Wort zu finden sind, welches eine Hauptstellung in ihren Lehren innehat.

So lesen wir im Evangelium:

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Johannes 1:1

In den alten indischen Schriften lesen wir wiederholt von Aum, das Heilige Wort, welches die drei Bereiche Bhur, Bhuva und Swah – das Physische, das Astrale und das Kausale – durchdringt.

Guru Nanak sagte:

Die Erde und der Himmel bestehen aus nichts als aus Shabd (dem Wort). Von Shabd alleinig war das Licht geboren, von Shabd alleinig kam die Schöpfung; Shabd ist des Wesens Kern in allem.

Janam Sakhi

Shabd ist die anweisende – wirkende Kraft Gottes, die Ursache der ganzen Schöpfung.

Prabhati

Die Moslem Sufis erklärten:

Die Schöpfung kam durch ‚Saut‘ (Ton oder Wort) ins Dasein, und aus ‚Saut‘ ging alles Licht hervor.

Shamas -i-Tabrez

Der Große Name ist das Wesen und das Leben aller Namen und Formen; Seine offenbarte Form erhält die Schöpfung. Er ist das Große Meer, von dem wir allein die Wellen sind. Nur der kann dies fassen, der unsere Wissenschaft gemeistert hat.

Abdul Razaq Kashi

Moses hörte die Gebote Gottes inmitten von Donner und Flamme.

Im Gedankengut von Zoroaster und im Tao gibt es ebenfalls Hinweise auf das Schöpferische Wort, das Göttliche Licht und auf das Wortlose Wort: das verschwiegene Wort.

Einige gelehrte Schüler und Theologen der späteren Zeit haben zufolge ihrer eigenen begrenzten Erfahrung diese Schilderung als biblische Hinweise auf intuitive oder intellektuelle Erleuchtung hingestellt. Aber bei näherer Prüfung erweist sich eine solche Darstellung als unhaltbar.

Den Begriffen Wort und Logos‚ wie sie die Griechen, Hebräer und Europäer angewandt haben, mag die Bedeutung ‚Ursache‘ oder ‚Ordnung‘ aufgezwungen worden sein, und Licht mag auf diese Weise nichts anderes besagen als mentale Erleuchtung, aber ihre Entsprechung in der religiösen Literatur – Nad, Udgit, Akash Bani, Shabd, Naam, Saut, Bang-i-Illahi, Nida-i-Asmani, Sraosha, Tao, und Jyoti, Prakash, Tajalli, Nur-i-Yazdani usw. – weigert sich ein solches Zerrbild für ihre ursprüngliche mystische Bedeutung zu dulden.

Überdies haben einige Seher ihre wirkliche Bedeutung auf eine Weise dargelegt, dass es keinen Spielraum für eine Zweideutigkeit oder auch für einen Zweifel geben kann, nämlich, dass das, was sie in sich schließt, keine bildliche Schilderung von einer gewöhnlichen mentalen Erfahrung ist, vielmehr eine transzendente Innere Wahrnehmung und Erkenntnis.

So finden wir in der Offenbarung:

Seine Augen waren wie eine Feuerflamme […] Seine Stimme wie großes Wasserrauschen […] Sein Angesicht leuchtete wie die helle Sonne […]

Kapitel 1

Und ich hörte eine Stimme vom Himmel als eines großen Wassers und wie eine Stimme eines großen Donners; und die Stimme, die ich hörte, war als der Harfenspieler, die auf ihren Harfen spielen.

Kapitel 14

Und aus den Upanishaden wissen wir:

Zuerst gleichen die brausenden Töne jenen der Meereswogen, dem Fallen des Regens, dem Rauschen des Baches, und dann wird Bheri gehört, untermischt mit den Tönen der Glocke und der Muschel.

Nad Bind Upanishade

Der Prophet Mohammed hörte eine Himmlische Musik, die allmählich die Gestalt von Gabriel annahm und sich in Worte formte; wohingegen Baha Ullah erklärte:

Myriaden von mystischen Zungen finden Ausdruck in einer Sprache, und Myriaden Seiner verborgenen Mysterien werden in einer einzigen Melodie enthüllt: aber leider gibt es kein Ohr, das ihr lauscht, kein Herz, das Sie versteht.

Blind sind deine Augen, dass du mögest schauen Meine Schönheit; verstopfe deine Ohren, damit du die süße Melodie Meiner Stimme hören kannst.

Diese Hinweise auf Licht und Ton sind nach den Meistern des Surat Shabd Yoga nicht bildlich, sondern buchstäblich zu nehmen; und sie beziehen sich nicht auf die äußere Beleuchtung oder die Töne dieser Welt, vielmehr auf die Inneren transzendenten. Dieser transzendente Ton und dieses transzendente Licht, lehren Sie, sind die ersten Offenbarungen Gottes, wenn Er Sich in die Schöpfung hineinprojiziert. In Seinem namenlosen Zustand ist Er weder Licht noch Dunkelheit, weder Ton noch Stille, aber wenn Er Form und Gestalt annimmt, erheben sich Licht und Ton als Seine ersten Attribute.

Diese Geisteskraft – Wort, Naam, Kalma – oder der waltende Gott ist für alles, was ist, verantwortlich. Doch die physischen Universen, die wir kennen, sind nicht die einzigen, die Sie hervorgebracht hat.

Sie hat Myriaden Regionen und Myriaden Schöpfungen ins Leben gerufen. In der Tat ist das Ganze eine großartige, unergründliche, grenzenlose Gestaltung, in welchem der positive Pol – Sach Khand oder Sat Lok – durch eine Ebene aus reinem unvermischten Geist gebildet ist, während der negative, Pind, aus grober, physischer Materie besteht, mit der wir in dieser Welt vertraut sind. Dazwischen liegen unzählige Regionen, welche diejenigen, welche von einem Ende zum anderen gelangt sind, oftmals in drei unterschiedliche Ebenen aufteilen, welche ihrem eigenen besonderen Ausgleich von positiv-spirituellen und negativ-materiellen Kräften entspricht.

Die Meister lehren, dass das eine dauerhafte Prinzip, welches alle diese Ebenen aus reinem Geist bis zur groben Materie verbindet, das Prinzip des flammenden Tones oder der tönenden Flamme ist.

Das Wort oder Shabd mag während Seines Abstiegs eine unterschiedliche Dichtigkeit von spirituell-materiellen Kräften annehmen – die Mystiker sprechen von purpurnem Licht, von Mittagslicht oder von dem der untergehenden Sonne und sie beziehen sich auf den Ton von Flöten, Harfen, Violinen, Muschelhörnern, Donner, Glocken, fließendem Wasser etc., aber obgleich Er sich auf den verschiedenen Ebenen unterschiedlich offenbart, bleibt Er dennoch in sich selbst unverändert.

Ein Strom, der auf den schneeigen Gipfeln gewaltiger Berge entspringt, erfährt während seines Laufes zum Meer viele Veränderungen, die der Richtung, der Form, der Bewegung und Erscheinung, aber sein Wasser bleibt das gleiche.

Könnte man diesen hörbaren Lebensstrom1 in sich selbst entdecken, könnte man Seine untersten Enden finden, so könnte man Ihn als einen Pfad benutzen, der unweigerlich zu seiner Quelle führt. Die Ströme mögen an bestimmten Stellen in Schluchten und Stromschnellen hineinkommen, aber sie sind nichtsdestoweniger der sicherste Weg für die Aufwärtsreise. Mag eine Bergkette auch noch so unwegsam sein, so schneiden die Wasser doch einen Pfad und bahnen einen Durchgang, und einer, der sich ihre Führung zunutze macht, findet immer den Weg. Und seit dieses Naam oder der Wort-Strom aus Anaami oder dem Wortlosen hervorgegangen ist, wird der, welcher sich daran festhält, in jedem Fall zum Ausgangspunkt gelangen, wenn Er eine Ebene variierender Bedingtheit nach der anderen durchmisst, bis Er am Ursprung von Name und Form ankommt und sich mit dem verschmelzt, das weder Name noch Form hat.

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Fußnote: 1) Für Einzelheiten wird auf das Buch 'Naam oder das Wort' vom selben Autor verwiesen.