Teil II: Kapitel I / II – (iii)

Sadhan

Und nun kommen wir zum dritten Eckstein des Spirituellen Gebäudes: dem der Spirituellen Übungen oder der Sadhans. Das eine immer wiederkehrende Thema eines Puran Guru oder vollendeten Lehrers ist, dass ein gutes Leben, obgleich sehr wünschenswert und unerlässlich, nicht das Ziel in sich ist. Das Ziel des Lebens ist etwas anderes, etwas Inneres: das Übersteigen dieser Ebene der Bedingtheit und des physischen Daseins in eine des Absoluten Seins. Einer, der das erkennt, wird sein Leben dementsprechend ausrichten. Erstens darum, weil eine solche Erkenntnis zu einem Gemütszustand führt, der sich, frei von Ego und Verhaftetsein, in einem tugendhaften und schöpferischen Tun ausdrückt, und zweitens, weil man ohne einen solchen Gemütszustand und die sich daraus ergebende Lebensweise nicht die Ausgeglichenheit und Konzentration gewinnen kann, die für die Innere Erhebung unerlässlich ist.

So liegt die Hauptbetonung eines erleuchteten Lehrers immer auf dem transzendenten Ziel. Er lehrt, dass die pranischen und vigyanischen Energien nicht vom Wesen des Atman sind, sondern dass sie aus Ebenen stammen, die unterhalb derer des reinen Geistes liegen. Wer sie als Leiter benutzt, kann durch sie das körperliche Bewusstsein übersteigen und die Ebenen erreichen, von denen sie ausgehen; aber er kann nicht über diese hinausgelangen. Da der Geist in allen der nämliche ist, sollten auch die Mittel zur Spirituellen Erleuchtung allen gleicherweise zugänglich sein. Aber wie wir bereits gesehen haben, stellen Yoga-Arten, die auf Pranas oder Jnana begründet sind, besondere Anforderungen, die nicht alle erfüllen können. Die Prana-Systeme sind für die alten und die ganz jungen Menschen wie auch für solche, die unter Atmungs- und Verdauungsbeschwerden leiden, nicht geeignet. Der Pfad des Jnana setzt mentale und intellektuelle Fähigkeiten voraus, mit denen die Natur nur sehr wenige bedacht hat. Wenn diese Wege der Annäherung an Gott wirklich die natürlichen wären, die uns offen sind, dann würde die logische Schlussfolgerung die sein, dass die Natur in ihren Segnungen sehr parteiisch ist, weil sie zwischen den einzelnen Menschen Unterschiede macht. Wenn die Sonne für alle scheint und der Wind für alle weht, warum sollten dann die Inneren Schätze nur für wenige Auserwählte sein? Sie sind ebenfalls für alle, seien sie gebildet oder ungebildet.

Yogas, die sich in der Auswahl ihrer Anhänger so sehr unterscheiden und so anspruchsvoll sind, können nicht ganz natürlich sein. Die Methode, die von den Meistern des Surat Shabd Yoga gelehrt wird, ist eine andere. Dem Sucher wird die Natur der Schöpfung erklärt wie auch der Weg zurück zu der Quelle, wo das Leben seinen Anfang nahm. Bei der Initiation wird ihm eine Innere Ersthand-Erfahrung gegeben, die er weiter zu entwickeln hat. Der Sitz der Seele liegt hinter und zwischen den Augenbrauen. Dies wird von allen Yogas anerkannt. Es ist dieser Punkt, auf den sich die Mystiker beziehen, wenn sie von Shiv Netra, Divya Chakshu, Tisra Til, Brahmrendra, Triambka, Trilochana, Nukta-i-sweda, Koh-i-toor, Drittes Auge und Einzelauge sprechen, das bildlich der Ruhepunkt, der Berg der Verklärung usw. genannt wird. Auf diesen Punkt muss der Sadhak mit geschlossenen Augen seine Aufmerksamkeit konzentrieren, aber die Bemühung der Konzentration muss ohne Anstrengung geschehen, und es darf keine physische oder mentale Anspannung zu spüren sein.

Um bei dieser Bemühung zu helfen, gibt der Lehrer dem Schüler ein Mantram oder eine geladene Wort-Formel, welche für die Reise, die vor ihm liegt, symbolisch ist. Wenn man diese langsam und liebevoll mit der Zunge der Gedanken wiederholt, hilft sie dem Schüler, die verstreuten Gedanken nach und nach an einem einzigen Punkt zu sammeln. Was dieser Formel ihre Kraft gibt, ist nicht etwas Magisches, das den Worten als solchen anhaftet, sondern die Tatsache, dass sie von einem gegeben worden sind, der sie durch seine eigene Spirituelle Praxis und Meisterschaft mit der Inneren Kraft geladen hat. Wenn nun der Schüler durch Konzentration und die mentale Wiederholung dieser geladenen Worte dahin gekommen ist, seinen Inneren Blick scharf auf diesen festen Brennpunkt einzustellen, wird er merken, dass die Dunkelheit, der er sich zunächst gegenübergesehen hat, allmählich durch sich verändernde Lichtpunkte erhellt wird. Sowie seine Konzentrationsfähigkeit zunimmt, hören die Lichter zu flackern auf und entwickeln sich zu einem einzigen strahlenden Punkt.

Dieser Konzentrationsvorgang oder das Sammeln des Surat zieht die Geistesströme, die normalerweise über den ganzen Körper verteilt sind, automatisch zum Spirituellen Zentrum hinauf.

Dieses Zurückziehen wird durch Simran oder die Wiederholung der geladenen Worte sehr erleichtert, und die Wahrnehmung des Inneren Lichts, was zu Dhyan oder der zielbewussten Konzentration führt, beschleunigt den Vorgang noch mehr. Dhyan wiederum führt, wenn er völlig entwickelt ist, zu Bhajan oder dem Inneren Hören. Das Innere Licht beginnt zu klingen.

In dir ist ein Licht und in ihm der Ton, und dieser wird dich an den Wahren Einen gebunden halten.

Gurbani

Wenn der Übende seine leiblichen Ohren schließt, wird er schnell in diese Musik vertieft sein. Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass das Licht, obgleich es vom Auge aufgefangen wird, von diesem nicht sehr lange festgehalten werden kann und dass ihm keine sehr große Anziehungskraft eigen ist. Ganz anders ist es bei der Musik. Wer sie im Schweigen der tiefen Stille hört, wird von ihr unweigerlich sozusagen in eine andere Welt hineingezogen, in einen anderen Erfahrungsbereich. Und so wird der Vorgang des Zurückziehens, der mit Simran beginnt, durch Dhyan weitergeführt und durch Bhajan sehr rasch ausgedehnt. Die Spirituellen Ströme, die sich bereits langsam bewegen, werden nach oben gebracht und sammeln sich schließlich im Dritten Auge – dem Sitz der Seele. Das Übersteigen des physischen Bewusstseins, oder der Tod im Leben, wird mit so einem Minimum an Mühe und Arbeit erreicht.

Wenn Schüler anderer Yoga-Arten nach langer Zeit und anstrengender Arbeit die verschiedenen niedrigen Chakras gemeistert haben und das Physische vollkommen übersteigen, nehmen sie allgemein an, dass sie am Ziel ihrer Reise angelangt sind. Die Innere Ebene, auf der sie sich befinden, der Bereich von Sahasrar oder Sahasdal Kanwal, der häufig durch das Sonnenrad, den Lotos oder die vierblättrige Rose symbolisiert wird, ist wirklich unvergleichlich schöner als alles, was es auf der Welt gibt, und scheint im Vergleich dazu zeitlos. Aber wenn sich der Schüler des Surat Shabd Yoga über das Körperbewusstsein erhebt, wird er, ohne suchen zu müssen, von der Strahlenden Form seines Meisters empfangen, Der ihn dort erwartet. Es ist in der Tat an dieser Stelle, wo die wirkliche Guru Shishya oder Verbindung zwischen Lehrer und Schüler hergestellt wird. Bis dahin ist der Meister wenig mehr als ein menschlicher Lehrer, aber nun wird Er als Göttlicher Führer oder Gurudev gesehen, Der den Inneren Weg zeigt.

Die Füße meines Meisters haben sich in meiner Stirne offenbart; und alles Wandern und jede Trübsal hat nun ein Ende.

Guru Arjan, Gauri M5

Beim Erscheinen der Strahlenden Form des Meisters im Innern bleibt kein Geheimnis, das im Schoße der Zeit liegt, verborgen.

Auch Christus sagt:

Es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde, und es ist nichts heimlich, das man nicht wissen werde.

Lukas 12:2

Unter Führung dieses himmlischen Wegweisers lernt die Seele den ersten Freudenschock zu überwinden, und sie erkennt, dass ihr Ziel noch weit vorne liegt. Begleitet von der Strahlenden Form des Meisters und durch den hörbaren Lebensstrom vorangebracht, überquert sie eine Region um die andere, eine Ebene um die andere und legt nach nacheinander alle Koshas ab, bis sie zuletzt aller Hüllen, die nicht ihrer Wahren Natur entsprechen, ledig ist und sie, so gereinigt und geläutert, das Reich betreten kann, wo sie sieht, dass sie von derselben Essenz wie das Höchste Wesen ist, dass der Meister in Seiner Strahlenden Form und die Seele nicht getrennt, sondern Eins sind, und es nichts gibt außer dem großen Meer des Bewusstseins, der Liebe und der unaussprechlichen Glückseligkeit.

Wer vermag die Herrlichkeit dieses Reiches zu beschreiben?

Die Glückseligkeit derer, die das Mystische kennen, kann nur von Herz zu Herz besprochen werden; kein Bote kann davon berichten, und kein Sendschreiben kann es enthalten.

Hafiz

Als die Feder ansetzte, dieses Reich zu schildern, brach sie in Stücke und die Seite zerriss.

Persischer Mystiker

Wenn der Sucher am Ende der Reise angelangt ist, geht Er im Wort auf und zählt zu den Befreiten. Er vermag weiterhin wie die anderen Menschen in dieser Welt der menschlichen Wesen leben, aber Sein Geist kennt hinfort keine Grenzen mehr und ist unendlich wie Gott Selbst. Das Rad der Wiederverkörperung kann Ihm nichts mehr anhaben, und Sein Bewusstsein ist ohne jede Beschränkung. So wie Sein Meister vor Ihm, ist Er ein bewusster Mitarbeiter am Göttlichen Plan geworden. Er tut nichts für Sich Selbst, sondern wirkt im Namen Gottes. Wenn es tatsächlich einen Nehkarmi gibt (einer, der frei ist von bindenden Handlungen), so ist Er es, denn es gibt kein mächtigeres Mittel zur Freiheit als die Kraft des Wortes.

Nur der ist nicht gebunden durch die Tat, der sich mit dem Wort verbindet.

Gurbani

Für Ihn bedeutet Freiheit nicht etwas, das nach dem Tode kommt (Videh Mukti), sondern etwas, das während des Lebens erreicht wird. Er ist ein Jivan Mukti (frei im Leben), und gleich wie eine Blume ihren Duft von sich gibt, verbreitet Er die Botschaft der Freiheit, wohin immer Er geht.

[...] Jene, Die Sich mit dem Wort verbunden haben, Deren Mühen werden enden. Und Ihr Antlitz wird voll Glanz erstrahlen. Nicht nur werden Sie erlöst sein, o Nanak, sondern viele andere werden mit Ihnen die Freiheit finden.

Jap Ji, Epilog

In der wirklichen Praxis der Spirituellen Schulung wird auf Simran, Dhyan und Bhajan besonderer Nachdruck gelegt, denn jede dieser Übungen spielt eine ausschlaggebende Rolle bei der Entfaltung des Selbst. Der Meister gibt Simran oder die Wiederholung der geladenen Worte, die das Sammeln der wandernden Verstandeskräfte des Schülers am stillen Punkt der Seele, hinter und zwischen den Augenbrauen, erleichtert, und wohin die Sinnesströme, die den Körper jetzt von Kopf bis zu den Füßen durchdringen, zurückgezogen werden, wodurch man sich desselben nicht mehr bewusst ist. Wird dieser Vorgang erfolgreich zu Ende geführt, leitet er aus sich selbst zu Dhyan oder Konzentration. Dhyan ist von der Sanskritwurzel 'dhi' abgeleitet, was soviel heißt wie binden und festhalten. Mit dem geöffneten Inneren Auge sieht der Aspirant nun schimmernde Streifen himmlischen Lichts in sich, und dies hält seine Aufmerksamkeit verankert. Dieses Licht wird nach und nach stetiger, was ihn in seinem Sadhan sicher werden lässt, denn er wirkt gleich einem Notanker für die Seele. Wenn Dhyan oder die Konzentration vervollkommnet ist, führt dies zu Bhajan, das heißt, man stimmt sich auf die Musik der Seele ab, die vom Mittelpunkt des Heiligen Lichts ausgeht. Diese bezaubernde Melodie hat eine magnetische Anziehungskraft, der man nicht widerstehen kann, und die Seele kann nicht umhin, ihr zu der Spirituellen Quelle zu folgen, von der sie ausgeht. Dieser dreifache Prozess hilft der Seele, den Fesseln des Körpers zu entgleiten, um in der himmlischen Strahlung ihres Selbst (des Atman) verankert zu sein und so in die Heimat des Vaters zu gelangen.

Wiederum wird dieser ganze Vorgang durch Sat Naam, den Satguru und Satsang gewährleistet, Die in der Tat gleichbedeutend mit der wirkenden Meisterkraft sind. Sat Naam ist die Kraft des Absoluten, zum Mitleid bewegt, und wenn sie sich verkörpert, nimmt sie die Gestalt des Meisters an (das Wort wurde Fleisch) und wirkt durch Ihn mittels des Inneren und äußeren Satsang; dies wiederum hilft den Jivas, die für die Wiedergeburt reif sind. Diese Kraft wirkt, entsprechend den Bedürfnissen des Einzelnen, auf allen Ebenen gleichzeitig: mündlich als Meister in menschlicher Gestalt, Der alle Freuden und Sorgen der Menschen teilt; durch die Innere Führung als Gurudev, in Seiner leuchtenden oder Strahlenden Astralform, und schließlich als Satguru, als ein wahrhaftiger Meister der Wahrheit.

Es gibt zwei Innere Wege: Jyoti marg und Sruti marg, den Weg des Lichts und den Weg des Tones. Das Heilige Licht hält die Seele fest und in sich vertieft und führt sie bis zu einem gewissen Grade; aber das Heilige Wort zieht sie nach oben und bringt sie hinüber von einer Ebene zur anderen, trotz der verschiedenen Behinderungen auf dem Weg, wie blendendes und verwirrendes Licht oder dichte, pechschwarze Dunkelheit usw., bis die Seele ihr Ziel erreicht hat.