Teil I: Kapitel I / III

Prakriti oder Materie

Prakriti ist ein zusammengesetztes Wort, abgeleitet von der Sanskritwurzel 'pra', was erst bedeutet, und 'kar', was tun besagt. Und so heißt Prakriti 'ursprüngliche Materie' (latente Energie), die, wenn die positive Geisteskraft auf sie einwirkt, viele Formen und Muster in der gewaltigen Schöpfung des Großen Urhebers hervorbringt. Dies wird Maya genannt, und alles, was durch einen der Sinne wahrgenommen und empfunden werden kann, fällt in diese Kategorie der Materie oder Prakriti. Materie ist, wie oben gesagt, eine verborgene Energie auf der niedrigsten Stufe, die zur Wirksamkeit gebracht (aktiviert) wird, indem sie viele verschiedene Formen annimmt, die deutlich zutage treten und wahrgenommen werden können. Dieser Prozess von der Passivität zur Aktivität der Energie führt zur Schöpfung oder Offenbarung der bis dahin unoffenbarten Geisteskraft.

Brahman oder die Geisteskraft tritt nur durch eine grobstoffliche Umhüllung (Kaya) ins Sein.

So wie die Gesamtheit der anscheinend individualisierten Seelen die Überseele (Gott) ausmacht, wird der gewaltige Zauber der erschaffenen Wesen und Dinge, mit ihren vielfältigen Formen und Farbtönungen, in ihrer Gesamtheit Prakriti genannt.

Prakriti kann weder aus sich selbst heraus bestehen, noch kann es für sich mit den Sinnen wahrgenommen werden. Es kommt nur zur Offenbarung, wenn die Geisteskraft darauf einwirkt. Genauso wie die Sonnenstrahlen nicht ohne die Sonne existieren können und nur in Erscheinung treten, wenn diese sich am Horizont erhebt, so nimmt Prakriti in Verbindung mit dem Lebensimpuls unzählige Formen und Gestaltungen an, die über den menschlichen Gesichtskreis hinausreichen. Und die eine unsichtbare Seele scheint in viele individualisierte Teile mit unterschiedlichen Benennungen und in mannigfaltige Arten vervielfacht zu werden, die jede Beschreibung und Lösung vereiteln. Aber die Yogis haben die fünf Koshas oder die den Geistesstrom umgebenden Hüllen in Rechnung gezogen, die sich im Verlaufe seines Abstiegs auf ihn legen, und haben Mittel und Wege ersonnen und formuliert, um diese wieder zu entfernen.

*Diese Koshas oder Umhüllungen können kurz beschrieben werden als, –

  1. Vigyan-mai Kosh: Die Hülle des mentalen Apparats oder des Intellekts mit seinen zwei Erscheinungen. Eine, die mit dem Wissen – Gyan – auf der physischen Ebene zu tun hat und die andere, Erleuchtung – Vigyan – auf der Spirituellen Ebene. Dies ist die erste Bedeckung, von welcher der Geist umhüllt wird, wenn er mit der feinstofflichen Materie, genannt Prakriti, in Verbindung kommt. Das Licht der Seele, wie es im intellektuellen Zentrum reflektiert wird, bringt das ans Licht, was gewöhnlich als Intellekt bekannt ist, der aus der Inneren Spirituellen Wahrnehmung und der äußeren Erkenntnis besteht. Die Seele, mit dieser reflektierten intellektuellen Fähigkeit, wird sowohl erkennend als auch wahrnehmend.

  2. Man-o-mai Kosh: Dies ist die zweite Bedeckung oder Hülle, welche die intellektualisierte oder erkennende Seele durch die weitere intensive Verbindung mit Prakriti um sich selbst wickelt, die nunmehr auch den Gemütsstoff zu reflektieren beginnt; und durch die hinzugefügte Fähigkeit strebt sie dem Gemüt zu und wird nach und nach von ihm beherrscht.

  3. Pran-mai Kosh: Die Bedeckung der Pranas – Lebensenergien – bildet die dritte Hülle um die Seele. Indem die denkende – erkennende – und aufmerksame Seele noch mehr in Prakriti – Materie – eindringt, beginnt sie mit den Pranas – die gemäß ihren verschiedenen Funktionen aus zehn Arten bestehen – zu vibrieren. Dies macht die erkennende und aufmerksame Seele zu Pran-mai oder impulsiv mit einem lebendigen Einfluss.

  4. Ana-mai Kosh: Wenn die erkennende, aufmerksame und angetriebene Seele in Prakriti eindringt, formt sie dadurch noch eine andere Art der Bedeckung, die von Ana-mai. Dies ist die letzte der fünf Hüllen und zu deren Erhaltung beginnt sie einen ständigen Bedarf an Ana oder Nährstoff zu empfinden.

    Diese Hülle ist nur ein Futter unterhalb des physischen Körpers – grobe Materie –, der in der Tat nur ihre äußere Erscheinung ist und sie fährt damit fort, die Seele selbst dann noch zu umwickeln, wenn ihre äußere Form, das heißt der Körper, leidet, verfällt und sich zersetzt.

    Die Existenz dieses groben physischen Körpers hängt von dem gesunden Zustand der Ana-mai Kosh auf der Innenseite ab. 

    Manche Seelen, selbst wenn sie ihren äußeren groben Körper abgelegt haben, verlangen immer noch nach Nährstoff, aufgrund der Ana-mai Kosh, und jagen nach den Freuden der Welt und fahren damit fort, in ihrem Umherirren nach Befriedigung ihrer angeborenen Begierden menschliche Behausungen heimzusuchen. Um diese Begierden der physisch entkörperten Seelen zu erfüllen, verrichten die Hindus Pind Dan, Saradhs und bringen für die Manen oder die abgeschiedenen Seelen Sühneopfer dar, sodass sie Ruhe und Frieden finden mögen.

  5. Wie auch immer, es ist Anand-mai Kosh – Glückseligkeit –, welche die allererste dieser Koshas oder Umhüllungen ist. Diese ist beinahe ein integraler Teil der Seele selbst. Sie ist die subtilste Hülle, wie die einer dünnen Abdeckung über einem leuchtenden Kandelaber. Man erfährt dieses ein wenig, wenn man in tiefem und traumlosem Schlummer – Sushupti – während des Erwachens eine trübe Vorstellung entnimmt von Anand oder Glückseligkeit, welche man in diesem komplett ungestörten Zustand der Ruhe erfahren hat.

* (Die Übersetzung dieses Abschnitts ist an die
englischsprachige Erste Edition von 1961 angeglichen;
Anm. d. Redaktion 2011.)

Die sind die fünf Koshas oder Hijabs (Schleier oder umgebende Hüllen), wie sie die Moslems nennen, und, eine um die andere, die Seele bedecken. Ziel und Zweck aller Yoga-Arten ist es, die Seele nach und nach von diesen Hüllen zu befreien, bis sie zuletzt aus allen gelöst ist und ihre ursprüngliche Glorie, in der sie aus sich selbst erstrahlt (Sayam Jyoti), wiedererlangt hat, die nicht geringer ist als die von mehreren Sonnen zusammengenommen. Das ist die Stufe des Aham Brahm Asmi oder Ich bin Brahman, und wenn sie erreicht ist, fühlt man sich nicht nur eins mit Gott, sondern ruft Ihn mit den Worten an: Ayam Athma BrahmaO Gott, ich bin vom selben Wesen wie Du! Die meisten Yoga-Systeme halten dies für das ein und alles sämtlicher Spiritueller Bestrebungen. Es ist in der Tat die höchste und letzte Stufe der Selbstverwirklichung und dennoch nur eine Zwischenstation auf der Spirituellen Reise – eine Stufe von keiner geringen Bedeutung, denn von hier aus beginnt eine vortreffliche Seele dem sehr begehrten Ziel vollkommener Gottverwirklichung entgegenzustreben. Es ist Khud Shanasi (Selbsterkenntnis), die nach und nach zu Khuda Shanasi (Gotterkenntnis) führt.

Selbsterkenntnis und tatsächliche Selbstverwirklichung sind der Höhepunkt im Prozess der Selbstanalyse, ohne die man nicht zu Gott gelangen und das Reich Gottes betreten kann. Bei diesem Prozess der Umkehrung und des Zurückziehens des Geistes im Innern, erhebt man sich über das Körperbewusstsein und befreit den Geist von den Fangarmen des Körpers und des Gemüts. Der einfachste, schnellste und sicherste Weg ist der der Verbindung mit Shabd oder dem Tonstrom (dem Heiligen Wort), und er ist das einzige Mittel, dass zur Gottverwirklichung führt. Es ist der älteste Weg, den die Welt je gekannt hat und der seit dem Aufdämmern der Schöpfung selbst besteht. Es ist gleichaltrig mit dem Menschen seit dem Tag, an dem dieser sich von seinem Himmlischen Vater losgesagt hat. Alle großen Meister der Menschheit gaben dieses Wort ihren Schülern1. Dies ist die Taufe mit dem Heiligen Geist, wie Christus es ausdrückte.

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Fußnote: 1) Für weitere Einzelheiten wird auf das Buch 'Naam oder das Wort' vom selben Autor verwiesen.