Herberge des Wahns

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Ich suche die Tatsachen sehr klar und so wie sie sind, darzulegen. Um dem Magen Nahrung zu verschaffen, wurden im Namen der Religion so viele Missverständnisse verursacht. Wenn vier Trunkenbolde zusammensitzen und sich ihrer Gesellschaft erfreuen können, warum dann nicht auch vier Anhänger verschiedener Religionen, um der Liebe und des Verständnisses willen? Man kann hier sagen, dass die Ersteren auf eine Art berauscht sind, die Letzteren jedoch nicht.

Kabir Sahib erläutert es folgendermaßen:

Ein Hansni saß einmal in einem Kodrai-Feld (Kodrai ist ein ziemlich minderwertiges Getreide). Der Bauer sah den Hansni und begann ihn mit einem Stock zu verjagen.

Deswegen machte Kabir die Bemerkung:

Dieser arme, unerfahrene Bauer weiß nicht, dass der Hansni gar kein Korn frisst, sondern von Perlen lebt.

So kommen die Meister nie, um von weltlichen Menschen etwas zu nehmen.

Hört nun die Hymne Kabirs mit Bedacht:

„Der Jiva-Reisende hält sich in der Herberge des Körpers auf; doch warum ist er so berauscht in diesem Wahn?“

Der Körper ist gleich einer Herberge, und wir bereisen die Welt nur ein paar Tage lang. Die Sinne oder die nach außen gehenden Kräfte, durch die die weltlichen Eindrücke aufgenommen werden, sind mit dieser Herberge oder diesem Haus eng verbunden. Allein die Augen nehmen 83 % aller Wahrnehmungen auf, die Ohren 14 %, und die verbleibenden 3 % verteilen sich auf die anderen Sinne. Wenn wir schlafen, träumen wir von dem, was wir in unserem täglichen Wachzustand hereingelassen haben. Wie man sehen kann, ist unser Leben recht oberflächlich; wir sind nie in unser Wirkliches Selbst eingetaucht.

Was ist alsdann Sinn und Zweck dieses Körpers, der einer Herberge gleicht? Er soll es uns ermöglichen, unser Wahres Selbst zu erkennen und Gott zu verwirklichen. Was ist, wenn die Seele dies nicht zuwege bringt?

Wenn das Leben vergeht, ohne es genutzt zu haben, ist diese Geburt vertan.

Lord Buddha sagte ebenfalls, dass die Wahrheit im menschlichen Leben erkannt werden kann.

Wer weiß, wann man wieder den Segen einer solchen Geburt erhält? Sie wurde für einen bestimmten Zweck gegeben – warum also von den Sinnesfreuden berauscht sein? Was wird dadurch gewonnen? Ihr fahrt fort, das Spiel der Welt zu betrachten, doch das Verlangen nach immer mehr davon wird niemals gestillt. Die Ohren hören beständig auf die Melodie der Welt, sind aber nie damit zufrieden. Man glaubt diese Sinnesfreuden zu genießen, in Wirklichkeit ist es jedoch nicht so. Die Sinnesfreuden genießen euch.

In den Puranas (alten Hinduschriften) wird berichtet, der Gott der Speise habe sich bei Lord Vishnu beklagt, er sei der Menschen überdrüssig, weil sie ihn erbarmungslos verzehrten.

Lord Vishnu riet ihm:

Nun, die Menschen, welche mehr essen, als sie nötig haben, magst du aufessen.

Übermäßiger Genuss von Speisen führt zur Verschlechterung der physischen Organe. Gebt den Sinnen nur soweit nach, als es notwendig ist; macht die Esslust nicht zur Gewohnheit. Wenn man von allem auf kontrollierte Weise Gebrauch macht, wird es helfen statt schaden. So gibt es ein bestimmtes Gift, das in ganz kleinen Dosen gleich einem Tonikum genommen, physische Kraft erzeugt. Nimmt man es jedoch in großen Mengen, tötet es. Alle Sinnesfreuden wurden dem Menschen gegeben, um durch sie – in vollkommener Kontrolle – zu wirken. Dieses Haus oder diese Herberge ist nur für ein paar Tage gedacht, damit es zum größtmöglichen Vorteil genutzt wird, aber wir zerstören es rasch.

Es gibt fünf Sinne des Erkennens und fünf des Handelns (Karmas). Was geschieht, wenn auch nur ein Sinn die Herrschaft erlangt? Die Motte wird zum Beispiel so sehr vom Gesichtssinn beeinflusst, dass sie sich in der Hitze einer Flamme oder eines hellen Lichts tödlich verbrennt. Fische wiederum sind vom Geschmackssinn geleitet, und obgleich sie munter im Wasser umherschwimmen, schnappen sie doch nach dem Köder des Anglers – nur um am Haken gefangen zu werden und, auf der Erde zappelnd, unter Qualen zu sterben. Die große schwarze Hummel hat einen ganz starken Geruchssinn und verliert daher leicht ihr Leben durch eine tropische Blume, die über jedem Insekt, das sich auf ihr niederlässt, die Blütenblätter schließen kann.

Der Hirsch wird vom Gehörsinn überwältigt. Ich weiß nicht, ob ihr einmal eine Zeit lang in den Wäldern gewesen seid; ich sah einen Hirsch einen Sprung von etwa 18 Metern tun. Nicht einmal das schnellste Pferd kann dieses leichtfüßige Tier einholen, und doch ist es einfach zu fangen. So spielen Wildjäger auf einer besondern Trommel eine gewisse Melodie, durch welche der Hirsch, hingerissen von dem Klang, wehrlos angezogen wird, bis er seinen Kopf still auf die Trommel legt und natürlich seine Freiheit verliert. Er verbringt sein restliches Leben in Gefangenschaft.

Der männliche Elefant hat einen sehr ausgeprägten Tastsinn, obwohl er die Kraft besitzt, mit seinem Rüssel große Bäume zu entwurzeln.Ich lebte einmal vier oder fünf Monate lang im Dschungel und sah, wie das Fangen eines Elefanten vorbereitet wurde, indem man eine große Grube aushob, sie mit Blättern bedeckte und dann einen weiblichen Elefanten in die Nähe brachte. Wenn der Bulle die Elefantenkuh wittert, vergisst er jede Vorsicht, stürzt auf sie zu und fällt in die Grube, welche auf seinem Weg liegt. Man lässt ihn dann viele Tage hungern, bis es den Männern möglich ist, mit ihm fertigzuwerden und ihn wegzubringen. Von da an lebt er in Gefangenschaft. Ihr seht also: auch wenn nur einer der fünf Sinne die Übermacht hat, kann es zu Tod oder Knechtschaft führen. In welcher Lage befindet sich dann ein Wesen, das Sklave aller fünf Sinne ist?

Euer ganzes Leben wird vergeudet, und schließlich werdet ihr aus der Welt genommen – ihr müsst diesen Körper verlassen –, auch wenn ihr nicht wisst, wann der Zeitpunkt dafür kommen wird. Die großen Herrscher, die gelehrten Intellektuellen, berühmte Philosophen und selbst Gottverwirklichte – wo sind nun die Körper all dieser Menschen? Sie alle haben den Schauplatz ihres Wirkens verlassen, und auch wir müssen einmal gehen; es gibt keine Ausnahme von dieser Regel.

Wenn nur der Gedanke in uns vorherrschend bliebe:

Wer bin ich, wohin gehe ich?

Das könnte unsere ganze Lebensweise ändern. Überlegt einen Augenblick: wenn ihr eine Nachricht erhieltet, dass ihr morgen die Stadt verlassen müsst, wie würdet ihr dann den heutigen Tag verbringen? Würdet ihr euch nicht auf die Abreise vorbereiten? Die Stunde, da ihr den Körper zu verlassen habt, mag bereits feststehen, aber sie ist euch nicht bekannt. Es kann jederzeit soweit sein.

Kabir Sahib sagt:

Werdet tugendhaft, wiederholt Naam; denn das Morgen wird vielleicht nie kommen.

Warum von morgen sprechen, wir haben keine Garantie für die nächste Minute! Der Atem kehrt weiter in den Körper zurück, und der Mensch bleibt darin – was aber, wenn er nicht mehr zurückkommt? Sucht zu erkennen, was ihn erhält, denn für sich genommen ist er nur ein Klumpen Materie, den wir überallhin mitnehmen.

Der Freund (Körper) wird belebt, solange der Begleiter (die Seele) bei ihm ist; wenn diese geht, ist er wertloser Stoff.

Wenn die Seele den Körper verlässt, heben vier Brüder die leblose Form auf und bringen sie schnellstens zum Verbrennungsplatz. Niemand will sie lange behalten. Aber wer genau versteht, wird die Dinge richtig sehen. Es ist keine neue Philosophie. Jene, die den besten Gebrauch von der menschlichen Geburt machten und die Seele aus der Herrschaft des Gemüts und der Sinne befreiten, haben Selbsterkenntnis erlangt und auch den Herrn erfahren; für sie gibt es keine Rückkehr in diese Welt des Handelns. Aber das Kommen und Gehen ist nicht für jene zu Ende, die einzig und allein auf der Sinnesebene leben, ganz gleich, ob ihre Handlungen gut oder schlecht sind.