Herberge des Wahns

VII

Wo immer die Aufmerksamkeit ist, dahin gehen wir, um dort zu verweilen.

Wenn man über die Sinnesfreuden hinausgelangt und sich über das Körperbewusstsein erhebt, hat das Kommen und Gehen in Geburten und Toden ein Ende.

Im Übrigen,

Sowohl gute wie schlechte Karmas binden, gleich goldenen und eisernen Fesseln.

Das steht in der Bhagavad Gita. Auf dem Pitrian-Weg dauert das Kommen und Gehen an, aber der Pfad des Lichts nimmt seinen Anfang über den Sinnen.  Innen gibt es nur zwei Führer – Licht und Ton –, und sie zeigen sich, wenn man sich über die Sinne erhebt. Die Religion beginnt, wo die Philosophien der Welt enden. Ihr könnt auch sagen, dass dort das ABC der Spiritualität anfängt. Ihr werdet sehr wenige Meister finden, Die darüber wissen. Wenn nur jene, die Bräuche und Rituale lehren, auch die wahre Bedeutung oder Grundlage derselben vermittelten, wäre Liebe und Harmonie unter den Menschen. Wir müssen Gott lieben, und da Gott in jedem Wesen ist, müssen wir alle lieben. Wo gäbe es Streit, wenn alle Menschen diesem Grundsatz aufrichtig folgten? Hätte jeder eine Ersthand-Erfahrung von der Seele und das Wissen, dass die Seele in allen dieselbe ist, würden wir dann nicht einander respektieren?

Tulsi Sahib sagt:

Der Guru, Der Sich vor dem Schüler neigt, wird Sadh genannt.

Der Guru, Dessen Auge offen ist, sieht den Herrn in jedem Menschen. Wessen Auge aber geschlossen ist, kann nicht dafür getadelt werden, wenn er dem Herrn in anderen keine Achtung zollt. Was geschieht heutzutage? Die Gurus stehen stolz und aufrecht da, und die Schüler fahren fort, sich wieder und wieder in vollem Glauben vor ihnen zu verbeugen.

Der Meister möchte uns verständlich machen, dass es jetzt an der Zeit ist. Es ist Nacht, und wir sind in der Herberge; am Morgen müssen wir gehen, und was haben wir bisher zustande gebracht? Der Mensch hat physisch und verstandesmäßig so viel erreicht, aber was hat er spirituell für sich getan? Wir wissen wenig oder nichts über die Wahrheit oder unser eigentliches Selbst. Wie dem auch sei, materieller Erfolg wird durch euch erzielt und erhalten, und ihr müsst eines Tages alles aufgeben. Wenn ihr den Körper verlasst, ohne das Geheimnis des Lebens gelöst zu haben, wird es allein dazu führen, dass ihr die karmischen Schulden der Unwissenheit zahlen müsst.

Die weltlichen Menschen werden euch nur um ihrer eigenen, selbstischen Wünsche willen helfen und achten. Auch wenn einer alle aufrichtigen Sympathien und guten Eigenschaften hätte, was könnte er, wenn ihr gehen müsst, zu eurer Hilfe tun? Er kann nur dastehen und beten:

O Herr, sei dieser Seele gnädig.

Zu der Zeit ist es nur einer Gottverwirklichten Seele möglich, euch zu helfen.

O Nanak, breche den Umgang mit nichtentwickelten Menschen ab und suche die Verwirklichte Seele; erstere werden noch während des Lebens von euch gehen, doch Er wird euch auch nach dem Tode nie verlassen.

Weltliche Gefährten können nicht für immer bei euch sein; warum also sucht ihr nicht Einen, Der beständig bei euch ist?

Und wer ist das? Er ist als Meister, Sant usw. bekannt. Ein Sant ist nicht notwendigerweise jemand, der eine besondere Kleidung trägt, vielmehr Der, welcher die Wahrheit erkannt hat und zu ihrem Sprachrohr geworden ist. Wer immer zu einer solchen Seele geht, bekommt schon am ersten Tag eine Erfahrung von der Wissenschaft, wie man sich über das Körperbewusstsein erhebt, und lernt, sie täglich zu erweitern, damit die Seele den Körper nach Belieben, und sei es hundertmal am Tag, verlassen kann. Alle Furcht vor dem Tod vergeht. Und bedenkt: der wahrhaft Verwirklichte Mensch wird euch nie äußere Übungen lehren, sondern empfehlen, aus allem, was ihr bisher getan habt, den vollen Nutzen zu ziehen, indem ihr fortschreitet.

Erlösung kann nur erlangt werden, wenn man sich erhebt.

Richtet eure Aufmerksamkeit auf den höheren Ort, wo auch Shiva meditiert.

Dieser Ort, an dem, wie es heißt, Lord Shiva seine Meditation ausführt, liegt über den Sinnen. Deshalb wird das Innere oder Dritte Auge manchmal Shiv Netra, das Auge Shivas, genannt. Es liegt im Körper hinter und zwischen den physischen Augen; aber über den Sinnen. Wenn man dort während der Lebenszeit die volle Aufmerksamkeit sammeln kann, wird die Seele vom Rad des Lebens frei. Mit ein wenig rechtem Verstehen sieht man bald, dass dieses Leben nicht lediglich zum Essen, Trinken und Erfüllen aller Wünsche und Passionen gedacht ist. Es hat einen weit edleren Zweck, und jene, die nichts tun, um diesen Zweck zu erfüllen, vergeuden wahrlich ihr Leben.

„Dieses reine, unvergleichliche Körperkleid habt ihr über und über beschmutzt.“

Diese menschliche Gestalt, die Krone aller Gattungen, ist ein äußerst kostbares Geschenk. Als der Mensch erschaffen wurde, steht im Koran, ward den Engeln befohlen, sich vor dieser Gestalt zu verneigen. Sie ist der Tempel des Herrn: haltet ihn sauber und rein.

Dieser Körper ist der Tempel Gottes, in dem das Licht der Wahrheit wohnt.

Wir halten die äußeren Tempel in makellosem Zustand, aber was geschieht mit dem Inneren? Wir mögen Tausende für Toilettenartikel und Schönheitspflege ausgeben, aber Innen ist die menschliche Form voll des Schmutzes sinnlicher Leidenschaften. Selbst ein Hund wischt den Boden mit dem Schwanz ab, bevor er sich setzt, und auch für einen unbedeutenden Besucher bringt man rasch das Heim in Ordnung; wir aber wollen, dass sich der Herrscher allen Seins in unserem Herzen offenbart. Kann Er Sich in einem schmutzigen Herzen kundtun?

„Inwendig sind wir schwarz durch die Taten, äußerlich schön und anziehend; doch wir möchten den Reinen und Keuschen imitieren.“

Die Freuden und Leidenschaften haben unser Herz verdunkelt – wir sind voller Eifersucht, Habgier, Ärger, Lust, Verleumdung und dergleichen mehr. Äußerlich scheinen wir jedoch sauber und rein zu sein und spielen uns auf, indem wir den Gottverwirklichten nachahmen. Wird ein Misthaufen angenehm riechen, wenn man ihn mit Seide bedeckt? Natürlich nicht. Legt ihr eine dicke Decke über einen Eisblock, gibt er trotzdem weiterhin Kälte ab. Wir haben die menschliche Gestalt, in der wir Gott erkennen können, aber Tag für Tag verunreinigen wir unser Leben immer mehr. Dies allein wird schon das Gewebe zerstören. Ein ethisches Leben ist der wichtigste Schrittstein zur Spiritualität. Für diesen Zweck wurden bestimmte Übungen der Hindus, Yama und Niyama genannt, geschaffen, so wie der achtfältige Pfad von Buddha, die vier Fastenzeiten der Jains und die Bergpredigt Christi.

O Nanak, nimm den Namen des Herrn auf, wenn das Herz rein ist; du suchst dir die Lügen der Welt anzueignen.

Ihr solltet Seinen Namen nicht im Munde führen, wenn ihr einen Dolch in der Tasche habt, um jemanden zu töten. Ihr mögt die ganze Welt täuschen, aber könnt ihr den Herrn täuschen? Selbst für die Welt kommt die Katze früher oder später aus dem Sack, denn man kann eine Lüge nicht ewig verbergen; zuletzt wird es die Sonne an den Tag bringen.

„Warum entfacht ihr dieses weltliche Feuer für nur zwei Lebenstage?“

Weshalb die einzigen beiden Lebenstage im Feuer des Genusses vergeuden? Bald müsst ihr all das zurücklassen. Und wozu wurde euch dieses Leben gegeben? Leben ist Pflicht, Leben ist Liebe, Leben ist die Heilige Gabe Gottes.

„Ärger und Neid erhoben sich gleich einer Schlange im Herzen des Menschen.“

Diese hässlichen Dinge nisten im Herzen, aber die Seele ist das Abbild der Liebe; denn Gott ist Liebe, und Er kann nur durch Liebe erkannt werden. Der Zweck aller äußeren Übungen ist, Ergebenheit zu entwickeln, Interesse zu wecken und regelmäßig zu werden. Es gehört zur angeborenen Natur der Seele, sich an etwas zu binden, aber wo immer sie verhaftet ist, endet es unglückseligerweise in einer misslichen Lage. Die Seele ist Bewusstsein, und wenn dieses Frieden und Glück erfahren will, muss es sich an ein höheres Bewusstsein binden. Erfährt es durch das Verhaftetsein an Materiellem eine kurze Freude, so heißt das nicht, dies wäre der Materie zuzuschreiben; es ist nur eine Widerspiegelung des glücklichen Wesens, das der Seele eigen ist, ein Abglanz der Bewusstheit. Während die Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes konzentriert ist, wird sie sich weiter erfreuen; zieht man sie jedoch zurück, vergeht die Freude. Ist es nicht so?

Wenn sich dieses bewusste Wesen, die Seele, wieder mit dem Größeren Bewusstsein, der Überseele, verbände, von Diesem voll aufgeladen würde und zum Ausdruck käme, offenbarte sich in ihrem gesamten Sein alles Glück. Aber wir begeben uns nicht dorthin, wo sich das Glück befindet. Stattdessen bringen wir unser Leben damit zu, in jeder anderen Richtung – Norden, Süden, Osten oder Westen – zu suchen. Unser Hazur sagte gewöhnlich, dass wir wie das Weberschiffchen sind, das immer vor- und zurückläuft.