Kirpal Singh

Surat Shabd Yoga

(1. Fortsetzung)

Die religiösen Lehrer der ganzen Welt legten größten Nachdruck auf die höheren moralischen Werte und diese bildeten wahrlich die Grundlage ihrer Lehren. Ein Wahrer Meister besteht immer darauf, dass man seine Fehltritte in Gedanken, Worten und Taten im Hinblick auf die fünf Haupttugenden aufzeichnet: Nicht-Schädigen, Wahrhaftigkeit, Keuschheit, Universale Liebe und selbstloses Dienen allen gegenüber, da diese den Weg zur Spiritualität bahnen. Nur wenn wir unsere Fehler erkennen, können wir sie ausmerzen und nach der rechten Richtung streben.

Durch diesen ganzen Vervollkommnungsprozess hindurch wird er durch das Beispiel seines Meisters und der Inneren Erfahrung, die Er gibt, inspiriert. Seines Meisters Leben wird für ihn ein lebendiges Vermächtnis sein, das ihn zu den Idealen des ‚Sadachar’ aufruft und die Erfahrung, die er vom Inneren Wort hat, wird ihm ein Beweis der Wahrheit dessen sein, was sein Meister ihn lehrt. ‚Sadachar’ ist keine trockene Disziplin, die dadurch erlangt wird, dass man gewissen festgelegten Formeln folgt. Es ist eine Lebensweise und in solchen Dingen kann nur Herz zum Herzen sprechen. Das ist es auch, was den Satsang oder die Gemeinschaft mit einem Wahren Meister so wesentlich macht. Er dient nicht nur dazu, dass er beständig an das Ziel, das vor dem Sucher liegt, erinnert, sondern durch die magische Berührung des persönlichen Kontaktes wandelt er allmählich die ganze Art und Weise seines Denkens und Empfindens um. Da sein Herz und sein Gemüt unter diesem heilsamen und gütigen Einfluss nach und nach immer reiner wird, zentralisiert sich sein Leben mehr und mehr im Göttlichen. Kurz, indem er in zunehmendem Maße das Ideal von ‚Sadachar’ in der Praxis verwirklicht, werden seine verstreuten und wandernden Gedanken Gleichgewicht und Vollkommenheit erlangen, bis sie so ganz verfeinert am Brennpunkt zusammenkommen, dass dadurch die Schleier der Inneren Dunkelheit zunichte werden und die Innere Glorie enthüllt ist.

Sadhan:

Und nun kommen wir zum dritten Eckstein des Spirituellen Gebäudes: dem der Spirituellen Übungen oder der Sadhans. Das eine immer wiederkehrende Thema eines ‚Puran Gurus’ oder Vollendeten Lehrers ist, dass ein gutes Leben, obwohl sehr wünschenswert und unerlässlich, nicht das Ziel in sich ist. Das Ziel des Lebens ist etwas anderes, etwas Inneres: Das Übersteigen dieser Ebene der Bedingtheit und des physischen Daseins ist eine des absoluten Seins. Einer, der das erkennt, wird sein Leben dementsprechend ausrichten. Erstens darum, weil eine solche Erkenntnis zu einem Gemütszustand führt, der frei von Ego und Verhaftetsein sich in einem tugendhaften und schöpferischen Tun ausdrückt, und zweitens, weil man ohne einen solchen Gemütszustand und die sich daraus ergebende Lebensweise, nicht die Ausgewogenheit und Konzentration gewinnen kann, die für die Innere Erhebung unerlässlich ist.

So liegt die Hauptbetonung eines erleuchteten Lehrers immer auf dem transzendenten Ziel. Er lehrt, dass die pranischen und vigyanischen Energien nicht vom Wesen des Atman sind, vielmehr, dass sie aus Ebenen stammen, die unterhalb denen des reinen Geistes liegen. Wer sie als Leiter benutzt, kann durch sie das körperliche Bewusstsein übersteigen und die Ebenen erreichen, von denen sie ausgehen, aber er kann nicht über diese hinausgelangen. Da der Geist in allen der nämliche ist, sollten auch die Mittel zur Spirituellen Erleuchtung allen gleicherweise zugänglich sein. Aber wie wir bereits gesehen haben, stellen Yoga-Arten, die auf Pranas oder Gyan begründet sind, besondere Anforderungen, die nicht alle erfüllen können. Die Prana-Systeme sind für die Alten oder Menschen zarten Alters, wie auch für solche, die unter Atmungs- und Verdauungsbeschwerden leiden, nicht geeignet. Der Pfad des Gyan setzt mentale und intellektuelle Fähigkeiten voraus, mit denen die Natur nur sehr wenige bedacht hat. Wenn diese Wege der Annäherung an Gott wirklich die natürlichen sein würden, die uns offen sind, dann würde die logische Schlussfolgerung sein, dass die Natur in ihren Segnungen sehr parteiisch ist, weil sie zwischen den einzelnen Menschen Unterschiede macht. Wenn die Sonne für alle scheint und der Wind für alle weht, warum sollten dann die Inneren Schätze nur für wenige Auserwählte sein? Sie sind ebenfalls für alle, seien sie gebildet oder ungebildet.

Yogas, die in der Auswahl ihrer Anhänger so sehr unterscheiden und so anspruchsvoll sind, können nicht ganz natürlich sein. Die Methode, die von den Meistern des Surat Shabd Yoga gelehrt wird, ist anders. Dem Sucher wird die Natur der Schöpfung erklärt, wie auch der Weg zurück zu der Quelle, wo das Leben seinen Anfang nahm. Bei der Initiation wird ihm eine Innere Ersthand-Erfahrung gegeben, die er weiter zu entwickeln hat. Der Sitz der Seele liegt hinter und zwischen den Augenbrauen. Dies wird von allen Yogas anerkannt. Es ist dieser Punkt, auf den sich die Mystiker beziehen, wenn sie von  ‚Shiv Netra, Divya Chakshu, Tisra Til, Brahm Rendra, Triambaka, Trilochana, Nukta-i-Sweda, Koh-i-Toor, Drittes Auge und Einzelauge’ sprechen, der bildlich ‚der Ruhepunkt’, der ‚Berg der Verklärung’ etc. genannt wird. Auf diesen Punkt muss der ‚Sadhak’ mit geschlossenen Augen seine Aufmerksamkeit konzentrieren, aber die Konzentrationsbemühung muss ohne Anstrengung geschehen und es darf keine physische oder mentale Anspannung zu spüren sein. Um bei dieser Bemühung behilflich zu sein, gibt der Lehrer dem Schüler eine geladene Wortformel, welche für die Reise, die vor ihm liegt, symbolisch ist. Wenn man diese langsam und liebevoll mit der ‚Zunge der Gedanken’ wiederholt, hilft sie dem Schüler, die verstreuten Gedanken nach und nach an einem einzigen Punkt zu sammeln. Das, was dieser Formel seine Kraft gibt, ist nicht etwas Magisches, das den Worten als solchen anhaftet, vielmehr die Tatsache, dass sie von Einem gegeben worden sind, Der sie durch seine eigene Spirituelle Praxis und die Meisterschaft mit der Inneren Kraft geladen hat. Wenn nun der Schüler durch Konzentration und die mentale Wiederholung dieser geladenen Worte dahin gekommen ist, seinen Inneren Blick scharf auf diesen festen Brennpunkt einzustellen, wird er merken, dass die Dunkelheit, der er sich zunächst gegenüber gesehen hat, allmählich durch sich verändernde Lichtpunkte erhellt wird. Sowie seine Konzentrationsfähigkeit zunimmt, hören die Lichter zu flackern auf und entwickeln sich zu einem einzigen strahlenden Punkt.

Dieser Konzentrationsvorgang oder das Sammeln des ‚Surat’ zieht die Geistesströme, die normalerweise über den ganzen menschlichen Körper verteilt sind, automatisch zum Spirituellen Zentrum. Dieses Zurückziehen wird durch ‚Simran’ oder die Wiederholung der geladenen Worte sehr erleichtert, und die Wahrnehmung des Inneren Lichtes, was zu ‚Dhyan’ oder zielbewusster  Konzentration führt, beschleunigt den Vorgang noch mehr. ‚Dhyan’ führt, wenn es völlig entwickelt ist, zu ‚Bhajan’ oder dem Inneren Hören. Das Innere Licht beginnt zu klingen.

In dir ist ein Licht und in Ihm der Ton, und dieser wird dich an den Wahren Einen gebunden halten.

Gurbani

Wenn der Übende seine leiblichen Ohren schließt, wird er schnell in diese Musik vertieft sein. Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass das Licht, obgleich es vom Auge aufgefangen wird, von diesem nicht sehr lange festgehalten werden kann und dass Ihm keine sehr große Anziehungskraft eigen ist. Ganz anders ist es bei der Musik. Wer Sie im Schweigen der tiefen Stille hört, wird von Ihr unweigerlich, sozusagen in eine andere Welt hineingezogen, in einen anderen Erfahrungsbereich. Und so wird der Vorgang des Zurückziehens, der mit Simran beginnt, durch Dhyan weitergeführt und durch Bhajan sehr rasch ausgedehnt. Die Spirituellen Ströme, die sich bereits langsam bewegen, werden nach oben gebracht und sammeln sich schließlich im Dritten Auge – dem Sitz der Seele. Das Übersteigen des physischen Bewusstseins durch den Geist oder der Tod im Leben ist so mit einem Minimum an Mühe und Arbeit erreicht.

Wenn Schüler anderer Yoga-Arten nach langer Zeit und anstrengender Arbeit die verschiedenen niedrigen ‚Chakras’ gemeistert haben und das Physische vollkommen übersteigen, nehmen sie allgemein an, dass sie am Ziel ihrer Reise angelangt sind. Die Innere Ebene, auf der sie sich befinden, der Bereich von ‚Sahasrar’ oder ‚Sahasdal Kanwal’, der häufig durch das Sonnenrad, den Lotos oder die vierblättrige Rose symbolisiert wird, ist wirklich unvergleichlich schöner als alles auf der Welt und scheint im Vergleich dazu zeitlos. Aber wenn sich der Schüler des Surat Shabd Yoga über das Körperbewusstsein erhebt, wird er ohne suchen zu müssen von der Strahlenden Form seines Meisters empfangen, Der ihn dort erwartet. Es ist in der Tat an dieser Stelle, wo die wirkliche ‚Guru Hishya’ oder Verbindung zwischen Lehrer und Schüler hergestellt wird. Bis dahin ist der Meister wenig mehr als ein menschlicher Lehrer, aber nun wird Er als Göttlicher Führer oder ‚Guru Dev’ gesehen, Der den Inneren Weg zeigt.

Die Füße meines Meisters haben sich in meiner Stirne offenbart; und alles Wandern und jede Trübsal hat nun ein Ende.

Gauri M5

Beim Erscheinen der Strahlenden Form des Meisters im Innern bleibt kein Geheimnis, das im Schoße der Zeit liegt, verborgen.

Christus sagt:

Es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde, und es ist nichts heimlich, das man nicht wissen werde.

Matthäus 10:26

Unter Führung dieses Himmlischen Wegweisers lernt die Seele den ersten Freudenschock zu überwinden, und sie erkennt, dass ihr Ziel noch weit vorne liegt. Begleitet von der Strahlenden Form des Meisters und durch den Hörbaren Lebensstrom vorangebracht, überquert sie eine Region um die andere, eine Ebene nach der anderen und legt nacheinander alle ‚Koshas’ ab, bis sie zuletzt aller Hüllen, die nicht ihrer Wahren Natur entsprechen, ledig ist und so gereinigt und geläutert das Reich betreten kann, in dem sie sieht, dass sie vom selben Geist wie das Höchste Wesen ist und dass Es, der Meister in Seiner Strahlenden Form und sie selbst nicht getrennt, sondern Eins sind, und dass es nichts gibt außer dem großen Meer des Bewusstseins, der Liebe und der unaussprechlichen Glückseligkeit. Wer vermag die Herrlichkeit dieses Reiches zu beschreiben?

Die Seligkeit der Wonne des, der das Mystische kennt, kann nur von Herz zu Herz besprochen werden; kein Bote kann davon berichten und kein Sendschreiben kann es enthalten.

Hafiz

Als die Feder ansetzte, dieses Reich zu schildern, brach sie in Stücke und die Seite zerriss.

Persischer Mystiker

Wenn der Sucher am Ende der Reise angelangt ist, geht Er im Wort auf und zählt zu den Befreiten. Er mag weiterhin wie die anderen Menschen in dieser Welt der menschlichen Wesen leben, aber Sein Geist kennt hinfort keine Grenzen mehr und ist unendlich wie Gott Selbst. Das Rad der Wiederverkörperung kann Ihm nichts mehr anhaben und Sein Bewusstsein ist ohne jede Beschränkung. So wie sein Meister vor Ihm, ist Er ein Bewusster Mitarbeiter des Göttlichen Plans geworden. Er tut nichts für Sich selbst, sondern wirkt im Namen Gottes. Wenn es tatsächlich einen ‚Neh Karma’ gibt (Einen, Der frei ist von bindenden Handlungen), so ist Er es, denn es gibt kein mächtigeres Mittel zur Freiheit als die Kraft des Wortes.

Er allein ist nicht gebunden durch die Tat, Der sich mit dem Wort verbindet.

Gurbani

Für Ihn bedeutet Freiheit nicht etwas, das nach dem Tode kommt (Videh Mukti), sondern etwas, das während des Lebens erreicht wurde. Er ist ein ‚Jivan Mukti’ (frei im Leben), und gleich wie eine Blume ihren Duft von sich gibt, verbreitet Er die Botschaft der Freiheit wohin immer Er geht.

Jene, Die sich mit dem Wort verbunden haben, Deren Mühen werden enden und Ihr Antlitz wird voll Glanz erstrahlen. Nicht nur werden Sie erlöst sein, o Nanak, sondern viele andere werden mit Ihnen die Freiheit finden.

Jap Ji – Schluss

In der wirklichen Praxis der Spirituellen Schulung wird auf ‚Simran, Dhyan und Bhajan’ besondere Betonung gelegt, denn jede dieser Übungen spielt eine ausschlaggebende Rolle bei der Erhaltung des Selbst. Der Meister gibt Simran oder die Wiederholung der geladenen Worte, welche das Sammeln der wandernden Verstandeskräfte des Schülers am stillen Punkt der Seele hinter und zwischen den Augenbrauen erleichtert, und wohin die Sinnesströme, die den Körper jetzt von Kopf bis zu den Füßen durchdringen, zurückgezogen werden, wodurch man das Wissen um diesen verliert. Wird dieser Vorgang erfolgreich zu Ende geführt, leitet er aus sich selbst zu ‚Dhyan’ oder Konzentration. ‚Dhyan’ ist von der Sanskritwurzel ‚Dhi’ abgeleitet, was soviel heißt wie ‚binden’ und ‘festhalten’. Mit dem geöffneten Inneren Auge sieht der Aspirant nun schimmernde Streifen Himmlischen Lichtes in sich und dies hält seine Aufmerksamkeit sozusagen verankert. Dieses Licht wird nach und nach stetiger, was ihn in seinem Sadhan sicher werden lässt, denn er wirkt gleich einem Notanker für die Seele. Wenn Dhyan oder die Konzentration vervollkommnet ist, führt dies zu Bhajan, das heißt, man stimmt sich auf die Musik der Seele ab, die vom Mittelpunkt des Heiligen Lichtes ausgeht. Diese bezaubernde Melodie hat eine magnetische Anziehungskraft, der man nicht widerstehen kann und die Seele kann nicht umhin, Ihr zu der Spirituellen Quelle zu folgen, von der Sie ausgeht. Dieser dreifache Prozess hilft der Seele, den Fesseln des Körpers zu entgleiten, um in der Himmlischen Strahlung ihres Selbst (des Atman) verankert zu sein, und so in die Himmlische Heimat des Vaters zu gelangen.

Wiederum wird dieser ganze Vorgang durch Sat Naam, den Satguru und Satsang gewährleistet, die in der Tat gleichbedeutend mit der wirkenden Meisterkraft sind. Sat Naam ist die Kraft des Absoluten, zum Mitleid bewegt, und wenn Sie Sich verkörpert, nimmt sie die Gestalt des Meisters an (das Wort wurde Fleisch) und wirkt durch Ihn mittels des inneren und äußeren Satsang, und dies hilft den ‘Jivas’, welche für die Wiedergeburt reif sind. Diese Kraft wirkt, entsprechend den Bedürfnissen des Einzelnen, auf allen Ebenen gleichzeitig: mündlich als Meister in menschlicher Gestalt, Der alle Freuden und Sorgen der Menschen teilt; durch die Innere Führung als Guru-Dev, in Seiner Leuchtenden oder Strahlenden Astralform und schließlich als Satguru, einem wahrhaftigen Meister der Wahrheit.

Es gibt zwei Innere Wege:‚Jyoti Marg’ und ‚Sruti Marg’ oder den Weg des Lichts bzw. den Weg des Tones. Das Heilige Licht hält die Seele fest und in sich vertieft und führt sie bis zu einem gewissen Grade; aber das Heilige Wort zieht sie nach oben und bringt sie, trotz der verschiedenen Behinderungen auf dem Weg, wie blendendes und verwirrendes Licht oder dichte pechschwarze Dunkelheit usw., von einer Ebene zur anderen, bis sie ihre Bestimmung erreicht hat.

Eine vollkommene Wissenschaft

Sogar der vorangehende kurze Überblick über das Wesen und die Reichweite des Surat Shabd Yoga vermittelt einige seiner einmaligen Merkmale. Wer ihn im Hinblick auf andere Yogaformen studiert, kann nicht umhin, die Vollständigkeit zu bemerken, mit der er alle Probleme löst, denen der Sucher gegenübersteht, wenn er andere Systeme verfolgt. Auf dem äußeren Tätigkeitsgebiet fußt er nicht auf einer trockenen und starren Disziplin, die oftmals seelische Hemmungen zur Folge hat. Er sagt, dass eine bestimmte Schulung notwendig ist, fügt aber hinzu, dass sie letzten Endes durch Innere Spirituelle Erfahrung inspiriert und spontan gelebt werden muss, und nicht die eines strengen Asketentums und allzu bedachter Selbstverleugnung sein soll. Der Sucher muss nach Ausgeglichenheit streben und hat darum die Tugend der Mäßigung in Gedanken und Taten zu üben. Die Fertigkeit, die er dadurch erreicht, befähigt ihn zu größerer Konzentration und somit zu höherer Innerer Erfahrung; und diese Innere Erfahrung muss wiederum eine Rückwirkung auf das äußere Denken und Handeln haben. Die Beziehung zwischen ‚Sadachar’ und Inneren ‚Sadhans’ wirkt wechselseitig: Das eine belebt das andere und gibt ihm Bedeutung, und das eine ist ohne das andere wie ein Vogel mit nur einem Flügel. Wie kann der Geist zu vollkommener Zielstrebigkeit gebracht werden ohne die Reinheit des Herzens und des Körpers? Und wie kann die Seele aller menschlichen Bindungen und Unvollkommenheiten ledig werden, ohne dass sie in der Liebe des Göttlichen verankert ist?

Als sich die Eigenschaften des Urewigen offenbarten, verbrannte Moses (der Mittler) alle Eigenschaften der vergänglichen Dinge.

Maulana Rumi

Der Surat Shabd Yoga liefert nicht nur Mittel und Wege, um das schwierige Ideal von ‚Sadachar’ in der Praxis zu erlangen, sondern er bietet auch eine Lebensweise, die, während sie uns über diese unsere physische Welt erhebt, uns doch nicht dem Bereich von Name und Form versklavt. Die Meister dieses Pfades wissen nur zu gut, dass abstrakte Spekulationen über den eigenschaftslosen Aspekt des Absoluten nicht zu Ihm führen können. Wie kann der durch Name und Form beschränkte Mensch direkt zu dem gezogen werden was jenseits davon liegt? Liebe sucht etwas, das sie begreifen und dem sie sich verbinden kann. Und somit muss Gott Form und Gestalt annehmen, um dem Menschen zu begegnen. Es ist diese Erkenntnis, durch welche die Hingabe des ‚Bhakta’ an Shiva, Vishnu oder Kali – die göttliche Mutter – inspiriert wird. Aber diese göttlichen Wesen stellen bestimmte Offenbarungen Gottes dar und wenn der Ergebene ihre Ebene einmal erreicht hat, verhindert diese bestimmte Offenbarung den weiteren Fortschritt; wie wir bereits gesehen haben. Die Meister des Surat Shabd Yoga übersteigen diese Begrenzung völlig, indem Sie den Sucher nicht auf eine festgelegte oder bestimmte, sondern auf die alles durchdringende Offenbarung Gottes festlegen: den Strahlenden Tonstrom. Es ist ‚Anhat’ oder ‚Anhat’ Naam – dieses unübertreffliche und unergründliche Wort, welches die verschiedenen Schöpfungsebenen erhält, die sich von Pol zu Pol und vom reinen Geist bis zur groben Materie erstrecken. Seine Weisen durchdringen jeden Bereich, jede Region und sie durchlaufen sie gleich einem Fluss, der durch die Täler fließt, die Er entstehen ließ. Sein Zustand ist fließend wie der des Flusses; Er ändert sich auf jeder Ebene und bleibt dennoch stets der gleiche. Der Sucher, der durch die Liebe des Wort-Stromes inspiriert wurde, ist in der Tat gesegnet, denn er kennt nicht die Begrenzungen, welche jene erfahren, die Gott in anderen Formen verehren. Er hat etwas Bestimmtes und Ausdrückliches vor sich, das ihn zu sich zieht und an das er sich halten kann; es ist etwas, das keiner festen Begriffsbestimmung unterliegt, doch in beweglichem und fließendem Zustand existiert. Sowie er sich ihm entgegen bewegt und durch diese beseligende Kraft nach oben gezogen wird, merkt er, dass er sich wandelt, verändert, immer stärker und reiner wird und ihn zu immer größerer Anstrengung anspornt, die ihm niemals erlaubt anzuhalten oder zu zaudern, sondern ihn von Ebene zu Ebene, von Tal zu Tal führt, bis er an der Quelle anlangt, wo das Unoffenbarte offenbar wird, das Formlose Form annimmt und das Namenlose einen Namen. Es war diese Vervollständigung der Inneren Reise, durch den Yoga des Tonstromes möglich gemacht, die Kabir zu der Erklärung veranlasste:

Alle Heiligen sind der Verehrung würdig, aber ich verehre nur Einen, Der das Wort gemeistert hat.

Der Surat Shabd Yoga ist nicht nur der vollkommenste der verschiedenen Yogas, sondern ist vergleichsweise leicht zu praktizieren und zudem einer, der für alle gangbar ist. Wer diesem Pfad folgt, erreicht nicht nur das letzte Ziel, sondern er bewältigt es auch mit weit weniger Anstrengung als es durch andere Methoden möglich wäre. Das Übersteigen des physischen Bewusstseins, das der Yogi mittels der ‚Pranas’ zu erreichen sucht, gelingt nur nach einer langen und anstrengenden Schulung; wohingegen es bei denen, die sich auf den Pfad des Surat Shabd Yoga verlegen, manchmal schon bei der Initiation erreicht wird. Dies ist jedoch kein bloßer Zufall. Tatsache ist, dass der Surat Shabd Yoga auf wissenschaftlichere und natürlichere Art an die Spirituellen Dinge herangeht. Warum, fragt sich, wenn der Spirituelle Strom die Körper-Chakras nicht von unten, sondern von oben her erreicht, sollte es notwendig sein, jedes dieser Chakras der Reihe nach zu meistern? Ein Mensch, der in der Mitte eines Tales steht, wird, wenn er die Quelle des Flusses erreichen möchte, nicht zuerst dorthin gehen, wo er mündet, um dann die ganze Strecke zurückzulaufen. Er ist weiter der Meinung, dass, wenn Prana und Gemüt (auch in ihrem verfeinertsten Zustand) nicht vom Wahren Wesen des Geistes sind, sie auch nicht die geeigneten Mittel sein können, um ihn von seinen Hüllen zu befreien. Könnte er mit etwas, das von seinem Wesen ist, in Verbindung gebracht werden, dann würde er davon angezogen und mit einem Minimum an Anstrengung das erwünschte Ziel erreicht.

(Fortsetzung folgt)