Kabir – der Weber-Sänger

von T.L. Vaswani

Ich betrachte Kabir als einen der größten Propheten der Welt des reinen Spirituellen Lebens. Und Spirituelles Leben erfordert Reinigung von allen nach außen ziehenden Elementen, von allen Formen des Kompromisses mit der Masse Mensch, von Glaubensbekenntnissen und Konventionen. Reine Spiritualität ist befreite Spiritualität. So können wir verstehen, warum Kabir Rama Nama lehrte und Bhakti oder Liebe des Herzens. Kabir legte wenig Wert auf körperliche Askese, auf Pilgerfahrten oder anderen Praktiken der populären Religion.

Kabir spricht von fünffacher Entsagung:

1. Entsage dem Komfort: Lebe ein einfaches Leben!

2. Verzichte auf Schriften: Sie bringen dich nicht weit, sagt Kabir. Gelehrte sind in die Irre gegangen, obgleich sie die Veden gelesen haben. Sie kennen nicht das Geheimnis des Selbst.

3. Entsage dem Stolz: Sat-Karma (gute Taten) helfen dem Aspiranten in der Tat zu Spirituellem Leben. Gute Taten tragen dazu bei, dass Rajas in uns abgelegt wird. Die Rajasic-Eigenschaft muss ausgemerzt werden. Daher die Notwendigkeit von Sat-Karma. Aber oft entwickelt Sat-Karma nur Stolz (Ahankar) in uns. Und der Stolz muss verschwinden, wenn du in das Leben des Geistes hineinwachsen willst.

Stolz wird zerstört durch den Namen des Herrn. Gottes Name, sagt Kabir, ist der Zerbrecher des Stolzes! Hört auf das, was Er sagt! Eure guten Taten mögen zahlreich sein: Doch, ach! Ihr werdet von Stolz verzehrt, Er, dessen Name den Stolz zerbricht, wie kann Er euch zu guten Taten beglückwünschen, die nur euren Stolz mästen? Jene, die allem Stolz entsagen: Stolz auf Kaste, Geburt und Rasse und jene, die auf Bindung verzichten und allein das Göttliche Wort im Innern suchen, sie bewegen sich aufwärts zum Ziel!

4.Verzichte auf Wünsche: Sie sind der Same der Sünde. Kabir sagt:

Jene, die dem Samen aller Wünsche, allem heißen Wollen entsagen, sind von Körper und Raum befreit, und gehen ein in die Freiheit der Zeitlosigkeit!

5.Entsage Moha (allem Verhaftetsein)! Kabir sagt:

Jene, die allem Verhaftetsein entsagen und einzig das Göttliche Wort im Innern suchen, erreichen den Höchsten!

Kabirs Mutter. Nima, macht Ihm eines Tages Vorwürfe. Sein Vater, Nur Ali oder Niru, ist tot. Die Familie muss versorgt werden. Kabir hat Seine Zeit im Singen des Namen Ramas zugebracht. Die Mutter, Nima, kann es nicht ertragen ihre Kinder verhungern zu sehen. Sie wirft Ihm Sein Versäumnis vor.

Was tust du, mein Sohn? sagt sie. Dein Vater ist dahin gegangen. Es ist keiner sonst da, der die Familie versorgt, wenn du nicht aufwachst. Öffne deine Augen und geh an deinen Webstuhl.

Darauf sagt Kabir zu ihr, in einem schönen Gedicht, das im Guru Granth Sahib aufbewahrt ist:

Sag, wer ist Sohn? Wer ist Vater? Und Onkel, wer? Getrennt von Hari, wie soll ich leben, o Mutter? Nicht länger kann die Welt mich täuschen: Denn ich habe den Betrüger (Maya) erkannt!

Und Kabir fährt fort:

Mein Gott! Barmherzig bist Du den Armen! Ich vertraue Dir! Und meine ganze Familie habe ich in das Boot gesetzt: Lasse es vorwärts treiben!

Kabirs Mutter seufzt und weint. Sie sagt:

O Allah! Wie sollen meine Kinder leben? Kabir hat Sein Weben aufgegeben. Kabir schreibt Ramas Namen auf Seinen Körper!

Ja, Kabir hat kein Moha. Wer ist mein Vater? Wer ist meine Mutter? ist auch der Ruf von Kabirs befreitem Herzen. Wer ist der Sohn, und wer ist Vater und Onkel, wer? Antwort auf Nimas lautes Klagen gibt Kabir in einem schönen Gesang, welcher auch im Guru Granth Sahib zu finden ist:

Ja, Mutter! Während der Faden durch die Spule ging, vergaß ich meinen geliebten Gott. Ja, Mutter! Mein Verständnis ist gering. Und meine Kaste ist die der Weber. Aber dies weiß ich, Mutter! Indem ich Geld verlor, gewann ich den Namen Gottes! Höre, o Mutter, höre! Der Eine Gott wird für uns alle sorgen!

Kabir war ungelehrt, aber erleuchtet. In dieser Hinsicht erinnert Er uns an den großen westlichen Mystiker Böhme. Kabir war im wesentlichen ein Mensch Innerer Erleuchtung. Aber Er war, was Böhme nicht wahr, ein großer Musiker und Dichter und außerdem ein geschickter Handwerker. Er verdiente Sein Brot am Webstuhl. In dieser Hinsicht erinnert Er an Ravi Das. Kabir war ein einfacher Weber wie Ravi Das ein einfacher Schuster.

Kabir war kein Asket. Er verließ nicht die Welt. Seine Entsagung war eine Innere, nicht eine äußere. Er mischte sich als Mensch unter Menschen; Er plagte Sich, Er erkannte die Heiligkeit der Arbeit an und Er freute Sich im Innern der Verbindung mit dem Höchsten.

Kabir verband mystische Schau mit der Arbeit. Er glaubte an die Harmonie von Hand und Herz. Und je mehr ich an Ihn denke, desto mehr fühle ich, dass Kabir eine natürliche Abneigung gegen institutionelle Religionen hatte, gegen alles Äußerliche. In dieser Hinsicht erinnert Er mich an die Quäker in England, die an das Innere Licht glauben. Kabir sprach immer wieder von der einfachen Vereinigung mit Gott. Er sang von Sahaj Samadh, der einfachen Vereinigung, dem Samadh des einfachen Herzens. Kabir legte keinen Wert auf Pilgerfahrten. Nicht in der Kaaba noch in Kailash, sondern in deinem Herzen Innen musst du den Herrn finden, sagt Er. Einer Seiner Gesänge hat die bedeutsamen Worte:

Wo suchst du mich? Sieh, ich bin neben dir! Weder in Tempeln noch in Menschen bin ich: Ich bin nicht in äußeren Riten und Zeremonien. Ich bin bei dir, mit dir, in dir!

Erzähle mir nicht, spricht Kabir, da die Heiligen Gottes zu dieser oder jener Kaste gehören. Die Heiligen übersteigen alle Kasten, alle Länder, alle Glaubensbekenntnisse. Hat Sich Gott nicht selbst in verschiedenen Kasten und Glaubensbekenntnissen offenbart? Barbiere und Waschmänner, Schneider und Maurer, Straßenfeger und Schuster haben sich mit Gott vereinigt, von Angesicht zu Angesicht.

So fordert uns Kabir auf, den Wert des bürgerlichen Lebens für den Spirituellen Fortschritt zu erkennen. Er singt:

Lampen brennen in jedem Heim. Der Herr ist in dir: Warum die Palme erklimmen, um Ihn zu suchen? Das Aufsagen des Rosenkranzes gilt nichts vor Ihm.

Kabir erhob Seine Stimme gegen solche, die Religion mit Äußerlichkeiten gleichsetzten. Vom Inneren Leben sprach Er in begeisterter Weise immer wieder. Irregeleitet ist der Mensch, der sein Heim verlässt und fortgeht. Ruft zurück, sagt Kabir, ruft den Wanderer nach Hause zurück. Und Kabir betont immer wieder nachdrücklich, dass das Heim der Heime das Herz im Innern ist.

Kabir stand dem Leben und Seinen Verpflichtungen nicht fern. Ihm war das Leben selbst die Enthüllung der Wirklichkeit. Er hat das Leben besungen. Er sagt, im Leben gibt es die Befreiung. Hier und jetzt sollst du Gott finden! Nicht in fernen Wäldern, im täglichen Leben magst du deinen Gott grüßen, wenn du nur erwachen willst. In einem Seiner Gedichte sagt Er:

Wenn deine Fesseln nicht gebrochen werden, jetzt und hier, in diesem irdischen Leben, welche Hoffnung auf Befreiung gibt es für dich im Tode?

Und wieder:

Wenn Gott jetzt gefunden wird, wird Er im Tode und im Jenseits gefunden. Wenn du Ihn jetzt nicht findest, gehst du nur, um in der Stadt des Todes zu wohnen.

Kabir empfiehlt nachdrücklich den Wert des Sofortigen. Kostbar ist dein Leben, vergeude es nicht in der Zerstreuung, sondern lebe so, dass du Ihn findest, bevor der Tod dich übermannt. Gott ist jetzt hier, oder Er ist nirgends! Darum versäume nicht die goldene Gelegenheit, die dieses Leben zur Selbstverwirklichung bietet. Hier ist reines Wasser vor dir. Sauge es ein. Sei erfüllt, sei voll. Verlasse die Welt nicht mit leeren Händen. Warum läufst du Luftspiegelungen nach? Das Wasser des Lebens ist vor dir. Höre auf die Worte Kabirs:

Dhruva, Prahlada und Sukdeva haben vom Nektar getrunken, und Ravi Das, der Schuster, auch, höre auf mich, Bruder! Webe nicht länger deine Fesseln der Falschheit! Halte nicht länger die Last der Wünsche auf deinem Kopf! Sei Licht; wenn du es würdest, wärst du wirklich befreit.

Wie kann man Licht werden? Kabirs Antwort ist bedeutsam.

Seid losgelöst. Und seid wahr – gleich, durch welche Leiden ihr hindurch müsst. Seid wahr, obgleich von Menschen verfolgt, obgleich von Leid und Schmerz befallen. Legt Zeugnis von der Wahrheit ab. Und dürstet nach Liebe.

Dieses dreifache Geheimnis: Loslösung, Verehrung der Wahrheit und Durst nach Liebe ist der Schlüssel zu dem Höheren Leben, nach dem alles Erwachen als nach Seiner Krone streben muss.

Die Heiligen,

sagt Kabir,

sind trunken von Liebe.

Das Geheimnis von Prem Nagar, der Stadt der Liebe, wurde von Kabir geschaut. Er lebte ein Leben der Losgelöstheit: Er verehrte die Wahrheit Tag für Tag, und Sein Herz war von Liebe erfüllt. Denkt an Ihn. Ich sage zu mir selbst, welche Freude liegt in dem Gedanken, dass in dieser Welt von Streit und Schmerz, in dieser Welt von Konflikten und Gegensätzen, in dieser gebrochenen Welt der Tragödie und der Tränen, wieder und wieder Sänger und Seher wie Kabir erschienen sind, die das Geheimnis des so schönen Antlitzes des Geliebten schauten.

Bayazid war ein Sufi, ein Frommer, ein Derwish Gottes. Und ihn fragte man eines Tages:

Meister, wie alt seid ihr? 

Der Sufi-Heilige antwortete:

Ich bin vier Jahre alt.

Wie kann das sein? Fragten sie.

Und er antwortete:

Mein Gott war vor meiner Seele durch die Verschwörung der Welt 70 Jahre lang verborgen: Aber ich habe während der letzten 4 Jahre einen flüchtigen Schimmer der Schönheit Gottes erblickt. Und das sind die Jahre, welche als die Lebenszeit zählen.

Die Verschwörung der Welt ist das Werk von Maya. Sie wirft einen Schleier über uns: So ist Gott, die große Wirklichkeit, die einzige Wirklichkeit des Lebens, vor unserer Seele verborgen. Der Guru hebt den Schleier. Der Guru ist der Entschleierer. Er ist Der, Welcher den Vorhang hebt. Daher ist der erste Schritt, der von einem aufrichtigen Sucher unternommen werden muss, wie ich immer wieder nachdrücklich betont habe, die Suche nach dem Guru. Der Guru ist der Aufzug, der uns zu den Höhen erhebt, der Aufzug, der uns kleine Geschöpfe zu Satya Lok (dem Reich des Höchsten) bringen kann. Und so muss notwendigerweise der Weg des Schülers von jedem Sucher nach dem Göttlichen Leben verstanden werden. In der Lehre Kabirs wird der Weg des Schülers folgendermaßen gezeigt:

1. Das, was Kabir immer und immer wieder betont, ist Sehnsucht (Pyas). Der Schüler sollte ein Pyasi werden, sollte wachsen in Sehnsucht, bevor er wirklich Gewinn von den Lehren des Gurus haben kann.

2. Außerdem muss der, welcher ein Schüler sein will, Entsagung lernen. Dharam Das, der größte Schüler Kabirs, war ein sehr reicher Mann. Er entsagte seinem Reichtum, gab ihn zur Verbreitung der Botschaft seines Gurus aus. Tyaga (Aufgaben) ist wesentlich für das Leben dessen, der Saranam (Zuflucht) zu seines Gurus Füßen sucht.

3. Wiederum betont Kabir Seva (Dienen). Mit Seva ist der Dienst für den Guru und die Sadhus (die Reinen) und für die Gemeinschaft (Satsang) gemeint, in denen der Schüler seinen Guru widergespiegelt sieht. Seva reflektiert sich natürlich in objektiven Handlungen. Aber der innere Geist von Seva ist Demut. Es ist das Geheimnis Wahrer Heiligkeit, die der Wahre Sucher erstrebt. Und was ist Demut? In ihrem vollkommenen Aspekt ist Demut Selbstverleugnung, frei von allem Selbst, allem Ego. Der Wahre Schüler dient seinem Meister Tag und Nacht und denkt doch niemals, dass er gedient hat. Er sagt: Ich habe nichts getan, denn ich bin nichts.

4. Dann kommt in das Leben des Schülers eine seltsame freudvolle Erfahrung. Der Schüler spürt die Gnade Gottes sich über ihm regen. Die Gnade des Gurus ihm gegenüber ist die Gnade Gottes selbst. Der Schüler empfindet in dieser seltsamen Erfahrung, den Schauer dessen, was Wahre Liebe ist; die Liebe des Gurus und die Liebe Gottes. Auf dieser Stufe  erkennt der Schüler, dass die Wahre Berufung des Lebens Liebe ist. Ich werde Liebe sein, sagt er sich selbst. Und der Weg der Liebe ist es nicht, nach großen Dingen zu greifen.

Der Weg der Liebe ist der kleine Weg. In kleinen Dingen, in einfachen Dingen, in niedrigeren Dingen des Lebens, weiß der Schüler sein Schicksal erfüllt. Und in ihm wächst mehr und das Streben:

Möchte ich klein sein, möchte ich mehr und mehr wachsen um klein zu werden!

Die Freude, die zu dem Wahren Schüler kommt, zu dem, der gelernt hat, den kleinen Weg zu gehen, den Weg der Liebe, den Weg von Guru Bhakti und Guru Seva, ist unbeschreiblich.

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Fußnote: Auszug aus 'Propheten und Heilige' von T.L. Vaswani. Durch die Freundlichkeit von Jaico Publishing House, 125, Mahatma Gandhi Road, Bombay-1.