Der Schlangenbeschwörer

eine Erzählung von Tracy Leddy

In der Tat – alle waren sich darüber einig, dass er ein höchst ungewöhnlicher Schlangenbeschwörer war. Er trugt keine Körbe mit gezähmten Kobras mit sich, wenn er durch die Welt reiste, auch nahm er kein Geld für seine Arbeit, dennoch sah es so aus, als ob er mehr Schlangen wegzaubern konnte als sonst irgendjemand. Niemand wusste, woher er kam und wo er gewesen war; niemand konnte voraussagen, wann er kommen oder wieder gehen würde. Er kam, wenn er gerufen wurde; so erzählte er es einmal jemand vergnügt; das ist alles.

Und er sah auch seltsam aus: dünn und groß und sehr dunkel. Er trug einen abgetragenen, wollenen Umhang, der einmal weiß gewesen war, und einen zerrissenen Turban, der in ähnliches Schicksal erlitten hatte. Seine Schuhe waren lang und spitz, eine Sohle war halb abgerissen vom Schuh, und es gab einen eigenartig flatternden Ton, ähnlich den Flügeln der Vögel, wenn er einen Schritt tat. Wenn er nicht auf seiner Flöte spielte, lächelte er wie ein kleines Kind. Überall hatten es die Leute gerne, wenn er kam, wenn sie ihn einmal erblickt hatten, vergaßen sie vollkommen seine seltsame Erscheinung, und sie hörten nur noch auf seine Musik, welcher keine Musik dieser Welt gleichkam.

Wirklich nur wenige Menschen bemerkten seine tiefliegenden Augen unter den schwarzen Locken und dem zerrissenen Turban, aber jene, die sie sahen, vergaßen sie nie wieder. Ich will euch von drei Menschen erzählen, die sie sahen. Es ergab sich, dass der Schlangenbeschwörer an einem Sonntag in einem kleinen Bergdorf ankam. Das Dorf schmiegte sich an einen steilen Abhang gerade unter einer Kette von Bergen. Es war ein erstaunlich fruchtbarer Ort und sehr friedlich die Menschen dort lebten in beachtlicher Harmonie und waren im allgemeinen freundlich zu Fremden.

Als sich die Nachricht seiner Ankunft schnell von Haus zu Haus verbreitete, versammelten sich die Dorfbewohner, um des Schlangenbeschwörers Spiel zu hören. Die Frauen hörten auf zu fegen und zu waschen; die Männer verließen ihre Sensen und Karren, ihre Träumereien und Schriftstücke und kamen von den Feldern und aus den Läden, um zu lauschen. Er kam langsam die steile und enge, gepflasterte Straße heraus – die Musik, die er spielte, klang so zart in den Ohren der Zuhörer, dass alte Männer in den Teestuben weinen mussten und kleine Kinder unbeweglich bei ihren Spielen standen.

Zwei alte Frauen saßen im Sonnenlicht am Straßenrand und strickten. Eine der beiden hatte sich zum hundertsten Male bitter über ihre nächste Nachbarin beklagt, aber der Klang der sich nähernden Menge unterbrach ihr Geschwätz. Als sie aufschaute, stand der Schlangenbeschwörer vor ihr und schaute ihr gerade in die Augen. Seine Musik wurde immer noch schöner und zarter; jetzt waren Stimmen darin zu hören und schienen die Frau von weit her zu rufen. Mit Freude und Schrecken, wie sie sie bisher nicht gekannt hatte, streckte sie ihr Strickzeuge in den Latz ihrer langen, schwarzen Schürze und raffte sich auf. Sobald sie aufstand, kamen Schlangen aus ihren Haaren und unter ihrer Zunge hervor, kleine Schlangen, die sich schnell bewegten, schwarze und lebhaft grüne.

Nur für kurze Augenblicke waren sie für die erschreckten Dorfbewohner und die alte Frau sichtbar und dann schlängelten sie sich in das Schlangenbeschwörers Taschen und waren verschwunden. Der Schlangenbeschwörer setzte die Flöte ab und lächelte der alten Frau zu. Unfähig zu widerstehen, schaute auch sie fest in seine Augen. Aber sie sah keine gewöhnlichen Augen mit Iris und Pupille – sie sah nur Licht, leuchtendes Licht, wie sie es noch nicht gesehen hatte, weitaus heller als die Sonnen und viel wärmer. Als sie fortfuhr, ihn anzuschauen, fühlte sie, dass jene Wärme sie umhüllte, sie erfüllte bis hinunter in ihre alten, faltigen Zehen. Still beugte sie ihren Kopf.

Plötzlich musste sie aufschauen, sie erblickte das Gesicht ihrer Nachbarin in der lautlosen und staunenden Menge. Sie brach in Tränen aus und bahnte sich ihren Weg durch die Dorfbewohner, bis sie die andere Frau umarmen konnte. Ich bin ein elendes, altes Weib, schluchzte sie, vergib mir, Schwester, ich werde nie wieder schlecht von dir sprechen. Die andere Frau war zu überrascht, um zu antworten, aber sie fühlte etwas von der unerklärlichen Wärme und setze sich nieder zu ihr und tröstete sie.

Der Schlangenbeschwörer setzte die Flöte an seine Lippen und ging weiter.

Die Straße weiter hinunter stand ein verlassener Tempel und daneben ein Haus mit einer sehr schön verzierten Fassade. Die Türen waren aus Sandelholz, reich geschnitzt, und die Wände waren mit Löwen und Pfauen bemalte. Es gehörte dem wohlhabendsten Mann des Dorfes, einem Witwer, dessen einzige Tochter viele Jahre lang seinen Haushalt geführt hatte. Als der Schlangenbeschwörer leicht auf den Pflastersteinen entlangging, – ein Schuh flatterte wie Vogelschwingen – konnte man die schrille Stimme der Tochter über der Musik hören; sie schalt wie gewöhnlich die Diener wegen ihrer Pflichten. Sie war ein stolzes Mädchen und schön, wäre es nicht so einsam und unzufrieden mit seinem Leben gewesen.

Als es einen Moment still im Hause war, hörte sie die Musik des Schlangenbeschwörers zum ersten Mal. Diese Musik war fröhlich und freudvoll und sprach von großem Glück, das kommen sollte. Sie fühlte sich seltsam angezogen von ihr, und sie stand auf dem Balkon in all ihren feinen Kleidern, um den Schlangenbeschwörer vorbeigehen zu sehen. Aber als er vor das Haus kam, hielt er an, statt seinen Weg weiter zu verfolgen, und schaute, indem er mit ganzem Herzen spielte, direkt zu ihr hinauf. Das Mädchen lehnte sich über den Balkon, um die Musik deutlicher zu hören, und plötzlich war es erstaunt, als es überall um sich einen zischenden Laut vernahm. Ihr ganzer Schmuck: Ohrringe, Halsband, Armreifen und Fußringe, hatten sich in winzige Schlangen verwandelt, weiß, glühend rot und golden.

Wie vom Donner gerührt, beobachteten die Dorfbewohner und das Mädchen, wie sie alle über die durchbrochene Balustrade in die Taschen des Schlangenbeschwörers glitten, wo man sie nicht mehr sah.

Der Schlangenbeschwörer setzte die Flöte ab und lächelte hinauf zur Tochter des reichen Mannes. Seltsam erleichtert und zum ersten mal glücklich in ihrem Leben, schaute sie fest zurück in des Schlangenbeschwörers Augen. Sie sah keine gewöhnlichen Augen mit Iris und Pupille, sie sah nur Sterne an einem klaren Nachthimmel; Sterne, die mehr glänzten, als sie es je von ihres Vaters Dach aus gesehen hatte.

Wie die alte Frau war auch sie plötzlich erfüllt mit Wärme vom glänzenden, schwarzen Haar bis zu ihren Füßen in Sandalen. Ich muss in die Küche gehen und dort helfen, sagte sie zu sich selbst, vielleicht war ich zu streng mit ihnen. Vielleicht verstehen sie nicht, was ich von ihnen möchte.

Und sie tanzte die Treppen hinab und hinaus in den Garten, um für den Tisch ihres Vaters zum Mittagessen Blumen zu pflücken.

Der Schlangenbeschwörer setzte seine Flöte an die Lippen und ging weiter. Eine lächelnde, ruhige Menge folgte ihm. Als er an einer armen Behausung am Rande des Dorfes vorbeikam, konnte man einen klopfenden, schleifenden Laut auf den Steintreppen im Innern hören. Der Schlangenbeschwörer hielt wieder an und stand ruhig an der Tür, er spielte und spielte, seine langen Finger bewegten sich schnell wie Schmetterlinge auf seiner hohlen Flöte. Der Klang war jetzt traurig, auf einmal anziehend und bittend und große Freude versprechend.

Nach ein paar Minuten wankte ein blasser, junger Knabe aus der Türöffnung. Eines seiner Beine war geschrumpft, und er stützte sich auf eine roh gezimmerte Krücke. Ein Murmeln der Zustimmung ging durch die Menge, denn der Junge war wohlbekannt im Dorf. Er hatte ein gutes Herz und verbrachte die meiste Zeit im Spiel mit den kleinen Kindern. Er beklagte sich nie über sein verkrüppeltes Bein oder über seine abwesende Mutter; er hatte sein Bestes getan, um sich um den alten Vater zu kümmern, bis er starb, gerade vor ein paar Wochen. Und mehr als ein Dorfbewohner hatte den stillen, fernen Blick, der oft über sein Gesicht glitt, bemerkt. Er hinkte gerade auf den Schlangenbeschwörer zu und fiel ihm zu Füßen. 

Ich habe schon so lange gewartet, sagte er weinend, ich dachte, du würdest nie kommen.

Der Schlangenbeschwörer hörte auf zu spielen. Er beugte sich hinab und hob den Knaben sanft auf die Füße mit starkem, braunem Arm. Halte dich an meinem Umhang fest, rief er fröhlich, und wir wollen davon gehen. Und er begann wieder zu spielen.

Ein Mann stand auf dem Dach und schwang einen Stock gegen einige Affen in einem Banyabaum neben seinem Hause. Sie stehlen meine Guavas, brummte er zu den Umstehenden, und dann, als die Melodie von den Schlangenbeschwörers Musik zu ihm drang, lächelte er etwas unbeholfen und legte seinen Stock nieder. Ich glaube, es sind genug da für uns alle, meine Brüder, sagte er und ging wieder hinein.

Einige der Kinder lachten, als sie sahen, wie die Affen mit einem klapperndem Lärm von  Blechdach zu Blechdach sprangen, das Maul voller reifer, grüner Früchte, aber der verkrüppelte Junge lachte nicht. Er hatte nur Augen für den Schlangenbeschwörer und hörte nur auf seine Musik. Er hielt sich fest an dessen Umhang und folgte ihm geradewegs aus dem Dorf hinaus. Die Menge beobachtete, wie der Junge mit dem Schlangenbeschwörer davon hinkte, und viele waren sicher, dass die Krücke in des Schlangenbeschwörers Tasche verschwand – schwarz und sich windend – und als des Jungen Schritt stetiger und stetiger wurde, als sie im Nebel verschwanden.

Hoch oben in den Bergen machten sie Rast. Er drehte sich um un schaute dem Jungen voll ins Gesicht. Der Junge schaute auch direkt in seine Augen. Erst konnte er nur das Blaue des Himmels sehen, aber als er tiefer hineinschaute, konnte er den Schlangenbeschwörer selbst sehen, wie er in einem Feuerring saß und auf seiner Flöte spielte.

Möchtest du mehr sehen? Fragte er mit einem Lächeln. O ja! Antwortete der Knabe ohne Zögern. Und der Schlangenbeschwörer fing wieder an zu spielen. Als er spielte, erschien es dem Jungen, als ob der Schlangenbeschwörer wachsen würde. Er wuchs und wuchs, bis er schließlich die ganze Landschaft verdeckte, die Berge, das Tal und den Himmel, und immer spielte er, beugte sich näher und näher zu dem entzückten Jungen. Die Musik verwandelte sich in einen Wind, in einen wirbelnden Klangrichter, welcher an dem Jungen zog und zog, bis er sich schließlich tief, tief in des Schlangenbeschwörers Flöte wieder fand, und er ging voller Freude zu ihm in den Feuerring hinein, dort spielt er ewig für ihn.

Dann setzte der Schlangenbeschwörer die Flöte an seine Lippen und ging weiter.