Beim Löwen der Barmherzigkeit

Auszüge aus einem Bericht von Russel Perkins nach seiner Rückkehr aus Indien im März 1972

Wenn man sich in die Gegenwart des Meisters begibt, bewahrheitet sich stets das eine: dass nichts geschieht, was man erwartet. Wenn ich zurückschaue, sehe ich alles wie durch ein großes Kaleidoskop. Vorgefasste Meinungen zerbrachen; die Größe des Meisters offenbarte sich mir in nie zuvor gekannter Art und Weise. Nun, ich begab mich zu Ihm mit ausgesprochenem Selbstbewusstsein: Ich hatte alle Arbeit verrichtet, die mir der Meister zugewiesen hatte. Ich erwartete weitere Anweisungen dieser Art. Nun, es missfiel Ihm gar nichts; Er sagte weder etwas Negatives noch etwas Positives. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass alles, worüber Er mit mir sprechen wollte, mein Inneres Wachstum war.

Er sprach viel über meine Einstellung zur Arbeit. Er sagte: Wenn du zu den Leuten sprichst, dann lass sie erkennen, dass du zu ihnen von der Ebene deines Verstehens aus sprichst. Behaupte dich nicht selbst! Gib dich nicht so, als ob der Meister es sagt.

Er sagte sehr ausdrücklich:

Was immer du tust, sei nicht der Herr der dir zugewiesenen Aufgabe. Wisse, dass du für jemand anderen arbeitest, vergiss das niemals!

Bevor Judith kam, vermisste ich sie so sehr und begann mich deshalb zu schämen. Ich bin hier beim Meister, wir sollten über derartigen Dingen wie Anhänglichkeit an Ehefrauen usw. stehen. Wir kehrten nach Delhi zurück, und ich versuchte nach besten Kräften zu meditieren. Durch Gottes Gnade war es nicht ganz fruchtlos. Aber ich vermisste Judith so sehr… In dieser Nacht beim Darshan auf der Veranda sagte der Meister freundlich und ganz unvermittelt zu mir:

Nun, was hast du auf dem Herzen, heraus mit der Sprache, von Herz zu Herz!

Während all dieser Zeit zeigte mir der Meister immer wieder, wie Er unsere innersten Gedanken kennt – es war wirklich unglaublich; Er weiß in der Tat alles. Darüber gibt es keinen Zweifel. Er holte alles aus mir heraus, von Herz zu Herz.

Ich sagte:

Meister, ich bin unzufrieden mit mir, und zwar wegen des geringen Ausmaßes an Liebe, die ich für Euch hege.

Er sagte:

Wie kannst du Liebe messen – wie kannst du sie messen? Entweder sie ist vorhanden oder sie ist es nicht.

Ich sagte:

Wenn Gedanken über äußere Dinge in der Meditation aufkommen, klammert sich mein Gemüt daran.

Er sagte:

Nun sieh, wenn Gedanken an Weib und Kinder aufkommen, weise sie nicht zurück, liebe sie um Dessen willen, Der sie dir gegeben hat. Dann wird alles in Ordnung kommen.

Er war so liebevoll, so freundlich. Viele Male war ich in solch einem Zustand. Er sprach dann zu mir, und es war, als wasch Er mich mit sanften Wassern. Ich schwankte vor Glückseligkeit nach nur wenigen Worten dieser Art.

Unsere Angewohnheit besteht selbst in Gegenwart des Meisters darin, in eigenen Vorstellungen zu denken, so dass wir Fragen stellen und Unterhaltungen im Rahmen einer Bezugnahme anstreben, die völlig unser eigenes Produkt darstellt. Selten geht der Meister dagegen vor, es ist, als ob Er in einem Spiel einwilligt. Wählt man einen Bezugsrahmen, wird Er innerhalb dessen das Spiel durchführen. Hätte man einen anderen gewählt, hätte man vielleicht wesentlich mehr herausgefunden, aber wenn man es ganz Ihm überlässt, ist alles möglich. Dies sind subtile Dinge … In der Gegenwart des Meisters gibt es nichts, was nicht zum Wachstum führen und es bewirken kann.

Seht ihr, der Meister offenbart zwei Arten von Schönheit. In Wahrheit hat er fünfzigtausend, aber zwei sind wesentlich. Ich spreche über die körperliche Schönheit. Die erste ist Seine Schönheit, wenn man Ihm sehr nahe ist. Wenn man zum Beispiel auf dem Boden, 15 Zentimeter von ihm entfernt sitzt und man in Sein Antlitz schaut und jeden Winkel, jede Spalte des Felsblockes, der Sein

Gesicht ist, sieht, dann fragt man sich, wie es um alles in der Welt möglich war, dass Gott ein solches Antlitz schuf. Das ist die eine Seite Seiner Schönheit, und wenn ich in Seine Augen blickte – manchmal tat ich es – und meine Augen fingen an zu schmerzen, und ich konnte mich jeweils nur auf eines Seiner Augen konzentrieren –, war es unmöglich, mich gleichzeitig auf beide zu konzentrieren. Dazu fand ich es sehr schwierig, Ihm zu antworten, wenn Er zu mir sprach. Ich musste für eine Sekunde meinen Blick abwenden, um die notwendige Sammlung zu erreichen, die ich zu der gewünschten Antwort brauchte. Denn es ist tatsächlich wahr, dass man beginnt, sich zurückzuziehen, sobald man in Seine Augen blickt; es besteht kein Zweifel, dass dann der Vorgang des Zurückziehens beginnt.

Die andere Art von Schönheit ist seine Schönheit beim Satsang. Er sitzt dort aufrecht auf dem Podium, und man befindet sich in einiger Entfernung von Ihm, kein Zweifel. Er sitzt dort aufrecht und ist ein Löwe. Das ist nämlich sein Name: ‚Kirpal Singh‘ heißt ‚Barmherziger Löwe‘ -, das ist Sein Name, und das ist es auch, was Er ist. In jenen Tagen in Meerut saß Er dort oben und hielt Satsang ab, und die tiefste Erfahrung ist die, Ihn zu beobachten – selbst wenn man nicht ein Wort versteht -, Ihn zu beobachten, wie Er Seine Ausführungen durch Gesten, durch eine Kopfbewegung begleitet. Bisweilen spricht er drei Stunden, häufiger zwei. Er bewegt sich nie unterhalb der Hüften. Von den Hüften aus nach oben zeigt sich ein leichtes Schwingen; Er blickt umher, Er heftet Seine Blicke gezielt auf die Versammelten. Er bemerkt einen jeden. Er ist so voller Leben! Man blickt auf Ihn, und das Leben, das von Ihm ausströmt, ist so mitreißend, dass man denkt:

O mein Gott, wie schön; wieviel Schönheit kann es doch in der Welt geben!

So erlebte ich Ihn in Meerut.

Im Manav Kendra lebt eine alte Frau; sie sieht aus wie neunzig. Sie geht ganz vornüber gebeugt mit einem Höcker auf dem Rücken. Sie geht Bhajans murmelnd umher und bewegt sich nur langsam und bewältigt Stufen und ähnliches nur mit großer Schwierigkeit. Eines Tages folgten wir alle dem Meister auf diesem Weg. Der Meister pflegt sehr schnell zu gehen, - Er gleitet dahin (nebenbei geht Er genauso schnell wie vor Seiner Operation und erscheint auf jede Weise gesünder, kräftiger, aktiver und jugendlicher als vor zwei Jahren) – kurzum, wir gingen alle diesen Weg und folgten dem Meister in einem großen Schwarm, und da sahen wir ganz vorn die kleine alte Frau. Es waren drei Steinstufen auf dem Weg vor ihr, und sie versuchte mit großer Mühe, sie hinaufzugehen. Der Meister unterbrach nicht einmal Seinen schnellen Schritt, beugte sich etwas hinab und legte Seine Hand unter ihren Ellbogen. Von hinten sah es aus, als ob Er sie die drei Stufen emporgehoben hätte, um sie auf die oberste zu stellen. Dann ging Er weiter. Sie kniete sofort auf dem Boden nieder und nahm den Staub von der Stelle, die Seine Füße berührt hatten und führte ihn an ihre Stirn. Seine Art und Weise, das Gefühl dabei war so wunderbar … ich könnte viele ähnliche Szenen beschreiben.

Bisweilen findet man beim Meister einen besonderen Typ indischer Schüler, die eine bestimmte Art haben, den Meister anzuschauen, was so ausdrucksvoll ist, dass ich es nicht mit Worten beschreiben kann. Es ist ein Lächeln, aber es ist ein so starkes Lächeln, dass es scheint, als ob ihr Gesicht in zwei Teile zerbricht. Dabei sind Tränen in ihren Augen. Wenn man dieses Ausdruckes gewahr wird, weiß man, dass sie Gegenwart des Meisters völlig aus der Fassung bringt. Der Meister ist so liebevoll zu solchen Menschen – Er klopft ihnen auf die Schulter und setzt sich zu ihnen.

Bevor wir abreisten, es war in Pathankot, sagte ich zum Meister:

Ich kann es nicht fassen, dass wir in zwei Tagen in den Vereinigten Staaten sein werden.

Er sagte:

Wer sagt, dass ihr mich verlasst, wer sagt das? Ihr nehmt mich mit euch, wohin ihr auch geht. Ich werde bei euch sein; wo ihr auch seid.

Er klopfte mir auf die Schulter. Es war unfassbar, sich vorzustellen, dass wir nach Hause zurückkehren würden, unfassbar. Wenn man eine Zeitlang in Indien lebt, nur sechs Wochen, geht einem das ins Blut, und man denkt:

O Indien,

und weiter:

O Meister, wie wunderbar du doch bist!

Am Morgen unseres letzten Tages fand ein Satsang statt, und obgleich ich mich hundeelend fühlte, wollte ich daran teilnehmen. In gutem wie in schlechtem Sinne war jener Satsang etwas Besonderes. Ich fühlte mich krank. Am Morgen war es kalt, aber im Laufe des Tages wurde es heiß, und ich war für den kalten Morgen angezogen mit langer Unterwäsche usw., und mit der Zeit glaubte ich wirklich, ersticken zu müssen. Ohne Zweifel hielt der Meister die längste Rede, die ich je von Ihm irgendwo gehört hatte, ­– genau drei Stunden – in der nur ein oder zwei Sätze auf Englisch gesprochen wurden. Und während der letzten zwei Stunden dieser dreistündigen Rede ging es mir so ausgesprochen schlecht, dass ich ganz gerade sitzen musste, weil jegliche andere Haltung zuviel Druck verursacht hätte. Bei all dem war das Antlitz des Meisters so wunderbar – und ich saß da und schaute es an, ich konnte es nicht fassen. Und es wurde mir immer übler. Trotzdem schaute ich unverwandt in Sein Antlitz, und ich stellte fest, dass ich lieber hier als irgendwo anders in der Welt sein und etwas anderes tun wollte. Nun, man kann es nicht beschreiben. Bilder können es nicht wiedergeben. Filme vermögen es nicht zu zeigen, die Beschreibungen der Menschen reichen nicht aus – man muss es mit seinen eigenen Augen sehen.

Alles am Meister ist so subtil. Wenn Er zum Beispiel irgendetwas ausführt, wenn Er lächelt, nur ein klein wenig, und die zarte Schönheit dieses Lächelns herausströmt, hinüber zu dir, in dein Herz …

Der Meister sagte verschiedene Male:

Was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt von den Dächern.

Er führte Christus an. Natürlich sollen wir nicht das verkünden, wozu wir nicht befugt sind, sondern die Botschaft, dass der Meister auf Erden existiert und Kompetenz und Macht besitzt und dass man Gott finden, Ihm begegnen und Ihn lieben kann und Liebe zurückhält in einer ganz realen Form in diesem Zeitalter. Das ist die Wahrheit über den Pfad.

Wenn wir zu Seinen Füßen sitzen, sind diese Dinge eher klar, aber wenn wir Ihn verlassen und die Zeit vergeht und wir mit anderen Dingen beschäftigt sind, dann leisten wir zwar Lippendienst, aber unser aufrichtiges Bemühen, Gott zu finden, wird geringer. Der Pfad ist etwas durchaus Wirkliches. Der Meister möchte, dass wir uns entwickeln. Er möchte, dass wir unsere Schwäche des Anhangens aufgeben, Er möchte, dass wir lieben. Er möchte, dass wir glücklich und fröhlich sind und immer in dem Bewusstsein leben, dass der Meister für uns sorgt. Denn Er tut es tatsächlich. Er schätzt uns in jeder Minute. Wovor Er uns nicht bewahrt, ist das, was uns zustoßen soll. Er zeigte mir tausendmal, dass Er alles weiß. Er versteht alles – unser Anhangen, unsere Verbundenheit mit den Dingen dieser Welt. Er kann tief in unser Gemüt hineinsehen, Er sieht, was dort ist. Er liebt uns dennoch! Ich sagte zu Ihm am letzten Tag:

Meister, Ihr habt mir immer wieder gezeigt, dass Ihr jeden meiner Gedanken kennt, die innersten Wünsche meines Herzens.

Er bestritt es nicht. Er sagte:

Ja?

Ich fuhr fort:

Und Ihr liebt mich trotzdem!

Er sagte:

Sieh, wenn ein Kind zu seiner Mutter kommt mit Schmutz beschmiert, was tut die Mutter dann? Liebt sie es nicht trotzdem? Wäscht sie es nicht, und drückt sie es nicht an ihre Brust? Hasst sie es, schlägt oder tötet sie es?

Ihr müsst wissen, dass es nichts gibt, was der Meister nicht über uns weiß. Er weiß, wo wir stehen. Er weiß es. Wenn ihr Ihm gegenüber steht, weiß Er alles, aber Er weiß es auch, wenn ihr hier seid. Denn Er machte direkte Anspielungen auf Ängste, Gebundenheit und ähnliche Eigenschaften, die ich hier hatte, bevor ich zu Ihm ging. Er wusste alles darüber, obgleich ich niemals darüber sprach, mit keinem Wort. Aber Er wusste es. Er ist wirklich Gott …