Von einem neuen Initiierten

Jeffrey Broadbent gibt uns eine äußerst persönliche, tiefgehende Beschreibung von den Feierlichkeiten am 5., 6. und 7. Februar 1973, die in seiner Initiation ihren Höhepunkt findet.

Nach einer zweitägigen Fahrt mit einem Bummelzug aus Kalkutta übernachteten wir im Bahnhof in Delhi. Am 29. Januar, morgens um 7 Uhr, gelangten wir endlich in den mit einer weißen Mauer umgebenen Sawan Ashram, der durch das klare Licht und den blauen Himmel der Morgendämmerung beleuchtet wurde, wo uns Gyani Ji mit seinem weißen Turban und Bart empfing. Ich war überzeugt, den Himmel betreten zu haben.

Er führte uns zu einem Raum, der in einem mit einer niederen Mauer umgebenen Hof lag, brachte uns Tee und Toast und bat uns zu warten. Nach 30 Minuten Ruhe öffnete sich die innere Tür und Meister Kirpal Singh Ji trat ein und setzte Sich vor uns hin. Ich, ein Nichtinitiierter, war dem Meister physisch noch nie begegnet. Da ich von einer Zen-Bewegung kam, war ich gegenüber den mystischen Ergüssen der Sikh-Heiligen skeptisch. Konnte eine solche hohe Ausdrucksweise etwas anderes sein als ein Irrlicht für einen Vertreter der Sikh-Heiligen?, war der Gedanke, der in meinem Unterbewusstsein bohrte.

Eine Sekunde nur in der lebendigen Gegenwart des Meisters zerschlug diesen Zweifel und ich war durch die Festigkeit und Stärke Seiner gütigen und weisen Gegenwart verblüfft. Er traf mich so tief als ein ‚ganzer Mensch’, ein wunderbarer Zusammenklang von Körper, Gemüt und Seele, der auf allen diesen Ebenen sprach. Diese lachenden Augen fanden tief in der Wirrnis meines Herzens ihren Widerhall. Für mein bezaubertes Gemüt war es, als werde dieses Gespräch aus einem anderen Raum gehört, bis der Meister sagte:

Gut, geht frühstücken.

Wir gingen hinaus ins Freie.

Die Stille an jenem Morgen war wie die Ruhe vor dem Sturm. Nach einigen Tagen war die Luft voller Lärm durch das Hämmern, Mauern, Zementieren, Aufstellen von Zelten usw. als Vorbereitung für die Geburtstagsfeierlichkeiten zum achtzigsten (nach westlicher Rechnungsweise zum neunundsiebzigsten) Geburtstag des Meisters. An der Mauer entlang der Eisenbahnlinie wurden neue Waschanlagen und Toiletten gebaut, und die halb fertiggestellte Satsang- und Meditationshalle, die die alte ersetzen soll, wurde mit Backsteinen ausgelegt, Vorhänge aus bunter Zeltleinwand wurden aufgehängt, um Behelfsschlafstätten zu schaffen. Andere neue Räumlichkeiten wurden ebenfalls in Gebrauch genommen.

Beim Sonntags-Satsang am 4. Februar war das Ashramgelände überfüllt. Hinterher blieben die meisten und bildeten lange Schlangen, um Chapatis, Linsen und Gemüse zu erhalten. Sie schliefen unter Zeltdächern und sangen hingebungsvolle Bhajans bis in die frühen Morgenstunden. Die Tür zum Haus des Meisters war ständig von vielen Indern belagert; manche von ihnen in einfacher Kleidung, andere wieder in buntfarbenen Saris. Viele weinten beinahe, um eingelassen zu werden und die Füße des Meisters zu berühren oder um Parshad zu erhalten. Im Innern des Hauses sah man den Meister im herzlichen Gespräch mit einer aufmerksamen Gruppe von Menschen zu Seinen Füßen. In jenen Tagen gab sich der Meister auf diese Weise bis spät in die Nacht jede freie Minute. Dennoch hat Er die erstaunliche Fähigkeit, sich jeweils einer Person voll und ganz zu widmen, indem Er zu ihr eine tiefe persönliche Verbindung aufnimmt, einen aufgeregten Fragesteller mit einem Blick, einem Lächeln oder mit ein paar passenden Worten besänftigt.

Während jener Tage pflegten sich die Inder und wir Westler in der Nähe Seines Stuhles zusammenzudrängen und ungefähr bis neun Uhr zu warten, um dann von Ihm, wenn Er herauskam, in Meditation gesetzt zu werden. Gegen 10.30 pflegte Er dann wiederzukommen und nach unseren Erfahrungen zu fragen. Des Öfteren zählte Er lachend die Westler und sagte: Seht, ich zähle meine Kinder! – und wenn ein ‚Kind’ vermisst wurde, fragte Er, wohin er oder sie gegangen wäre. Er hieß uns, nirgendwo hinzugehen, ohne Ihn zu informieren und jemand vom Ashram mitzunehmen, sodass wir keine Schwierigkeiten hätten oder verloren gingen. Diese praktische Fürsorge gab uns viel Sicherheit als Reisende in einem unbekannten Land.

Am Abend nach der Meditation wurde den Westlern die Möglichkeit gegeben, persönlicher mit dem Meister zu sprechen. Da Er uns gesagt hatte, dass wir täglich mindestens dreimal zwei Stunden für die Meditation aufbringen sollten, fragte Er uns, wie viele Stunden wir gesessen hatten, und beantwortete Fragen.

Als der Geburtstag näher kam, wurde die Ashramfamilie immer größer. Der Tag vor dem Geburtstag des Meisters war der erste offizielle Tag der Feierlichkeiten. Vom Abend bis zum Morgen erklangen Bhajans. Am Morgen saßen wir alle zusammen wie gewöhnlich. Der Meister sprach einige Worte in Hindi und dann bat Er uns, unsere Meditation zu halten.

Am Abend des 5. Februar wurde die erste von vier großen Versammlungen abgehalten. Wir gingen hinüber zu einem großen Platz, der mit einem grün-rot gemusterten Zelt überdacht und dessen Boden mit Decken belegt war, die bis nach hinten reichten; vorne war ein großes Podium errichtet worden. Wir kamen frühzeitig an, fanden hinter dem Podium Einlass und setzten uns direkt davor. Während wir auf den Meister warteten, betraten einige fremdartig gekleidete Leute das Podium. Sie trugen orangefarbene, rote, weiße und gelbe Roben wie auch steif wirkende, schwarze Jacken. Man konnte langes Haar und Köpfe ohne Haare, ordentliche Bärte und langen, dürftigen, weißen Bartwuchs sehen. Ein Ergebener begann einen innigen, hingebungsvollen Bhajan zu singen, während jedermann voller Erwartung der Ankunft des Meisters harrte. Nach einer Weile hörten wir ein gewaltiges Gemurmel hinter uns. Als wir uns umblickten, sahen wir ein Meer von Gesichtern, das sich weit in die abendliche Dunkelheit bis jenseits des Zeltes erstreckte. Die nach oben gerichteten Augen glänzten im hellen Licht, das vom Podium kam.

Endlich betrat der Meister das Podium. Wie Er da saß, strahlte Seine Gestalt eine Ruhe aus wie ein Berg. Als Er über die Menge blickte, war ich von der Barmherzigkeit in Seinen strahlenden Augen buchstäblich geladen. Ich empfand, wie Er Sich in diesem Meer aus etwa 30 000 Seelen eines jeden einzelnen genau bewusst war. Das Stimmengemurmel hatte sich beruhigt. Alles war still; nur die Augen des Meisters sahen auf uns.

Der Meister hielt eine kurze Ansprache in Hindi. Für die nächsten drei Stunden boten die eingeladenen Redner ein unglaubliches, bunt gemischtes Kaleidoskop unterschiedlicher Religionen, Ansichten, Persönlichkeiten, Praktiken und Schwingungen. Tibetanische Lamas, deren Gesang in dreifachen Harmonien ausklang; ein singender Yogi wie ein junger Shiva, der mit Handbewegungen Universen erschuf. Ernst blickende, schwarz gekleidete Moslems, die eine Atmosphäre von Wüste und heißer Sonne aufbrachten; ein rotbäckiger, glattrasierter, strahlender Yogi erklärte, wie das Licht Gottes durch die Atome der Materie leuchtet; ein netter christlicher Priester saß stundenlang steif da; ehemalige indische Revolutionäre, die ursprünglich nicht der Gewaltlosigkeits-Bewegung angehörten, waren anwesend. Einer hatte 32 Jahre im Gefängnis verbracht, neun davon mit Mahatma Gandhi; er trug langes, verwildertes weißes Haar, war gekleidet in einfaches Selbstgesponnenes nach Gandhi-Art und lachte milde über die Menschheit auf so ansteckende Weise, dass jeder mitlachen musste. Diese und viele andere bestiegen das Podium im Laufe des Abends. Der Meister war des Öfteren sehr fröhlich, wenn Er von einem neu Angekommenen begrüßt wurde.

Durch die große Vielfalt der religiösen und philosophischen Gedankenrichtungen hindurch, die auf dem Podium vorgebracht wurden, kam vom Meister der rote Faden, der sich durch alle Standpunkte zog. Er schien das ruhige Zentrum im Wirbelsturm der Ideen zu sein. Der Meister saß da, hörte ruhig zu, und gelegentlich schloss Er Sich dem Redner mit einer Geste des Lächelns an. Es gab keine Spur von Gegenüberstellung oder Kritik; vielmehr wurde jeder Redner unabhängig als eine vollendete Blume betrachtet; alle zusammen bildeten einen Blumengarten mit verschiedenen Farben. Um diesen bildlichen Vergleich fortzusetzen: Der Meister war – immerzu still bewusst – wie die Luft oder die Erde, die alle wachsenden Dinge nährt.

Gegen Ende wurden unsere Gemüter ziemlich müde, nach so vielen Stunden von manchmal schrillen Tönen und ausgefallenen Ansichten. Endlich kam zu unserer Freude der Meister an die Reihe. Er sagte:

Nun lasst uns eine stille Meditation von drei Minuten halten.

Die riesengroße Gemeinde sank in ein tiefes Schweigen und der Widerhall der abendlichen Stimmen verlor sich in einem geheimnisvollen Frieden, der wie eine zarte Brise kam. Wahrhaftig, Schweigen spricht lauter als Worte.

Um vier Uhr, in der Dunkelheit des Morgens am 6. Februar – Seinem Geburtstag – versammelten sich alle im Ashram Anwesenden unter einem großen, beleuchteten Zeltdach vor dem Haus des Meisters. Plötzlich riss die Stimme, deren Bhajan man über die Lautsprecher hörte, ab und das Licht ging wegen eines Fehlers in der Stromversorgung aus. Von der Seite, auf der die Frauen saßen, vernahm man beunruhigtes Stimmengemurmel. Aber irgendjemand begann mit einer wunderschönen ‚Hymne an Kirpal’ und bald war die Dunkelheit von Frieden erfüllt. Nach einer Stunde ging das Licht wieder an und mit ihm kam der Meister zum Podium. Vor Beginn der Dämmerung, alle zusammen unter einem gestreiften und gemusterten Zeltdach, hatte man das Gefühl einer gewissen Vertrautheit, obgleich etwa 5000 Menschen da waren. Der Meister erschien sehr müde und Seine Worte waren schwer wie ein vollreifer Obstbaum. Er hieß uns alle zu arbeiten, solange die Sonne scheint, denn ich bin das Licht der Welt, dieweil ich in der Welt bin; und wenn die Sonne untergeht, wird es zu spät sein und wir werden weinen. Auch unsere Herzen waren schwer.

Gegen neun Uhr hatte sich auf dem nahegelegenen Zeltplatz eine ungeheuer große Menge von schätzungsweise 50 000 Menschen versammelt, und der Meister erschien und setzte uns in Meditation. Eine tiefe Stille senkte sich auf uns, die durch die lebendige Gegenwart unseres Vaters auf dem Podium begünstigt wurde. Die ‚Tropfen der Seelen’ von so vielen Menschen tauchten in ein ‚Meer der Stille’ ein, das alle umfasste. Es war ehrfurchtgebietend, in dieses unermessliche, ursprüngliche Meer einzutauchen. Es erhob sich die erregende Hoffnung, dass wir vielleicht eines Tages erfolgreich sein würden, wenn so viele Brüder und Schwestern in einem solchen Frieden zusammensitzen können.

Am Abend des nächsten Tages war die besondere Versammlung im Vigyan Bhavan in Neu-Delhi. Nachdem alle bedeutenden Leute gegangen waren, begann Tai Ji ganz zum Schluss einen wunderbaren, hingebungsvollen Bhajan an den Meister zu singen. Unwillkürlich standen wir auf und gingen langsam nach vorne, bildeten einen Kreis und schauten erschöpft, aber voll Frieden auf Tai Ji und den Meister.

Der Sawan Ashram war in jenen Tagen sehr überfüllt und schien nicht gerade das Zentrum eines friedvollen Zufluchtsortes zu sein. Aber trotz des Lärms und Durcheinanders herrschte im Allgemeinen eine Atmosphäre von großer Freundlichkeit und Freude. Besonders die ärmeren Leute, die in staubige Decken gehüllt waren und deren Turban vielleicht auf der einen Seite etwas herunterhing, hatten Augen, in denen sich die Lehren des Meisters widerspiegelten, und Herzen voller Sympathie. Dies wurde nach der Initiation besonders augenfällig.

Am Morgen des 8. Februar wurde rund um den Rasenplatz vor dem Gästehaus eine Zeltwand errichtet, und alle, die initiiert werden wollten, versammelten sich dort. Es wurden Lautsprecher aufgestellt, damit die vielen Menschen (1003 Inder und 4 Westler) alles verstehen konnten. Ich war einer der vier. Der Meister gab die Initiation in Hindi und jemand übersetzte es im Flüsterton; so hatten wir das Konzentrat von dem, was Er sagte. Es war eine wunderbare Zeit und danach fühlte ich mich wahrhaftig glückselig.

Nachdem die Initiation vorüber war, folgte ich dem Weg des Meisters zu Seinem Haus, und als Er den Leuten, die sich dort drängten, zuwinkte, hatte ich ein unbekanntes Gefühl der Einheit – des Nichtgetrenntseins von allen Dingen. Es war, als ob der Meister, der winkte, und die Leute, die zurückwinkten, ein und dieselbe Person wären, derselbe Geist. Und selbst die Luft, die Mauer, die Bäume und alle geschaffenen Dinge hatten Anteil an dieser Bewusstheit. Es war nur ein Funke, doch wie erfüllte er mich!

Als ich später zum Ashramtor ging und zum ersten Mal den Simran wiederholte, war ich umgeben von einer Gruppe Ergebener. Einer von Ihnen, der Englisch sprach, sagte mir, dass sie schon früher mit mir hätten sprechen wollen, aber sprachliche Verständigungsschwierigkeiten befürchtet hatten. Nun kamen sie, als wenn eine Mauer beseitigt worden wäre. Für eine Weile hatten wir unseren Spaß, indem wir gebrochen Hindi und Englisch sprachen und mir ein lächelnder Bruder seinen schlappen Turban auf den Kopf setzte. Ich ging weiter und war seltsam glücklich.