‚Werdet wie die Kinder‘

von Katherine Lloyd

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.

Wir hören diese Worte oft im Satsang oder lesen sie in den Schriften oder den Rundschreiben des Meisters, doch oft besteht Verwirrung oder ein ungenügendes Verständnis hinsichtlich ihrer Wahren Bedeutung.

Viele Menschen folgern, dass dieser Satz vom Sucher einen blinden Glauben verlangt. Aber der Meister warnt uns ständig vor solch einer Einstellung. Er wiederholt immer wieder, dass man die Echtheit eines Wahren Meisters an folgenden Kennzeichen prüfen sollte:

  1. Der Meister lebt von den Früchten Seiner eigenen Arbeit und nicht von den Gaben anderer. Er ist nur ein Schatzmeister, Der die Geschenke und Gaben an die Bedürftigen verteilt, ohne etwas für Sich Selbst zu behalten.

  2. Der Initiierte erhält eine Erfahrung der esoterischen Geheimnisse bei der allerersten Meditation, gleichgültig wie gering diese Erfahrung auch sein mag. Die Stärke einer Eiche kann man nicht an der Größe des Samens ermessen.

Der Surat Shabd Yoga ist eine Wissenschaft, nicht nur ein neuer Glaube, und als Wissenschaft ist er in seinen Ergebnissen nachprüfbar. Der Aspirant sollte ihn daher sorgfältig beobachten und überprüfen, bevor er ihn annimmt, damit seine lebenslänglichen Bemühungen nicht vergebens sind, indem er einem falschen Meister nachfolgt. Erst dann, wenn der Sucher überzeugt ist, dass der Meister der echte Träger der Meister-Kraft ist, und nur dann, sollte er seine Hand in die des Heiligen mit unbedingtem Vertrauen legen.

So haben wir also gesehen, dass mit dem Satz ‚Werdet wie die Kinder‘ etwas anderes als blinder Glaube gemeint ist. Vielleicht besteht der kürzeste Weg zum rechten Verständnis darin, ein kleines Kind zu beobachten. Ich hatte den Vorzug, meine eigene drei Jahre alte Tochter zu beobachten, die der Meister mir anvertraut hat. Einige dieser Erfahrungen sind so wertvoll, dass es schade wäre, sie nicht weiterzugeben, in der Hoffnung, das Verständnis für die Shabd-Schulung zu fördern.

Als ich eines Tages in der Küche arbeitete, konnte ich meinen Mann hören, wie er in seinem Arbeitsraum oben mit unserer Tochter Kirsten schimpfte. Ich war sicher, dass sie darinnen gewesen war und einige seiner Papiere durcheinandergebracht hatte, denn er betonte wiederholt in dem strengsten Ton, den er zur Verfügung hatte:

Rühre es nie wieder an.

Dies dauerte ein oder zwei Minuten, bis Kirsten schließlich unterbrach und ausrief:

Aber Papa! Ich liebe Dich.

Natürlich verlor seine Sprache dann an Strenge.

Ich musste natürlich schmunzeln. Dieser Vorfall ließ mich jedoch den Kernpunkt einer der Lektionen des Meisters erkennen. Zeitweise müssen alle Kinder einmal zurechtgewiesen werden. Ein Vater, der sein Kind nie zurechtweist, liebt es nicht. Wir sind des Meisters Kinder und Er betont zwei Dinge, die von höchster Bedeutung für den Spirituellen Fortschritt sind: Empfänglichkeit und Gehorsam. Erstere wird weitgehend vom Letzteren bestimmt. Empfänglichkeit ist der Schlüssel, der die Tür zum Guru Dev aufschließt. Aber wie können wir empfänglich werden, wenn wir die Gebote des Meisters nicht hören und – was noch wichtiger ist – ihnen nicht folgen?

Wenn ihr mich liebt, so haltet meine Gebote

das ist sowohl unsere Geländekarte als auch das Gebiet unserer Reise. Zu diesem Zweck verlangt der Meister das Führen der Tagebücher, damit wir unsere Geländekarten studieren und sehen, welche Strecke wir schon zurückgelegt haben.

Als so schwache oder unverständige Geschöpfe, wie wir es sind, irren wir jedoch immer wieder. Diejenigen, die ihre Tagebücher ehrlich führen, werden unvermeidlich finden, dass sie Monat für Monat Fehler in immer den gleichen alten Spalten eintragen. Wie geduldig der Meister auch ist, kommt doch eine Zeit, wo wir alle zurechtgewiesen werden müssen.

Wenn dieser Zeitpunkt kommt, ist es unsere eigene Einstellung, auf die es ankommt. Trotzen wir und begehren wir auf? Fühlen wir uns verletzt und verärgert? Denken wir: ‚Ich werde es Ihm zeigen!‘ oder sagen wir einfach wie ein Kind: ‚Aber Meister – ich liebe Euch?‘

Eines Abends standen Kirsten und ich auf der Veranda und ich bemerkte, dass Vollmond war. Ich sagte:

Schau einmal, Schäfchen, der Mond! Ist er nicht schön?

Sie hob ihr reizendes kleines Gesicht und sagte so lieb:

O ja! Mein Papa wird mir einen kaufen, genauso wie diesen.

Ich dachte:

Was bei aller Schönheit der menschlichen Ausdrucksweise kann erhabener sein als solch ein liebender, tiefer Glaube?

Wahrlich sollte jeder von uns die unermüdlichen Anstrengungen unseres selbstlosen Meisters durch eben diese Ausdrucksweise entgelten. Er hat uns nie im Stich gelassen und versichert uns ständig, dass wir uns auf Ihn verlassen können. Unsere Freude sollte es sein, in festem Glauben und Selbsthingabe auszuharren.

Weitere Einsicht erhielt ich durch ein Geschehnis in einem Aufzug. Ich hatte meinen Mann zum Arzt gefahren und wir hatten Kirsten mitgenommen. Sie war recht besorgt um seine Gesundheit, da er gewöhnlich so kräftig ist. Als der Arzt nach der Untersuchung mit ihm erschien, fragte sie:

Bist du nun gesund, Papa?

Natürlich lachten wir alle und erklärten, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis sich der Papa gänzlich erholt habe.

Sie schien in Gedanken versunken, als wir auf den Aufzug warteten, und sagte nichts, als wir ihn nach zwei anderen Mitfahrenden betraten. Wir begannen unsere Abfahrt in dem üblichen verlegenen Schweigen, das herrscht, wenn man mit Fremden auf engem Raum zusammen ist, als Kirsten, indem sie ihre kleine Hand in die ihres Vaters legte, ruhig sagte:

Papa, ich liebe dich.

In dem Moment war jeder Atemzug, jeder Kubikzentimeter Luft von diesem Empfinden durchdrungen und wir alle waren Eins, indem wir nur den einen Gedanken hatten: Liebe. Die Atmosphäre war geladen. Keiner sprach, schaute sich um oder änderte seinen Gesichtsausdruck. Aber für einen wunderbaren Augenblick waren alle Unterschiede zwischen Freunden und Fremden verschwunden. Wir waren nur Perlen, aufgereiht auf dem Band der Liebe, und empfanden unmittelbar das Göttliche in uns – falls wir es nicht sogar tatsächlich verwirklichten – zumindest für ein paar von Liebe erfüllten Sekunden. Wir standen dort zusammen, Freunde und Fremde, in einem gewöhnlichen Aufzug, für eine so kurze Zeit von der Last weltlicher Geschehnisse befreit und sonnten uns in der Ausstrahlung einer reinen, unschuldigen Liebe, die von einem kleinen Kind geschenkt wurde. Sicher ist es dies, was der Meister meint mit:

Werdet wie die Kinder.

Liebet, und alle Dinge werden euch zufallen.