Kirpal Singh

Ich bin Dein, Du bist nicht mein

I

Dem Meeresrauschen entstieg diese Weise. Dass Du und ich nicht verschieden sind; denke nicht, ich sei von Dir getrennt, Du und ich sind nicht verschieden. Als man den Spiegel vor das Angesicht gestellt, sprach sogleich das Spiegelbild: Freund, was nimmt es dich wunder? Du und ich sind nicht verschieden. Die Weizensaat ließ es das Ohr vernehmen: Schweig still, wundere dich nicht über das Wie und Was, diese Spiegelung der Einheit wurde mannigfach geschaut, Du und ich sind nicht verschieden. Warum glaubtest du, ich wäre fremd? Verbirg nicht die Schönheit deines Gesichts vor mir, ja, entferne den Schleier und komme, Du und ich sind nicht verschieden.

Ein Heiliger ging einmal zu einem Juwelier und sagte zu ihm: Stecke den Ring an. Der Juwelier fragte: An wessen Finger? Der Heilige entgegnete: An Gottes, und streckte Seinen Finger hin. Der Juwelier war erstaunt und erwiderte: Bruder, was meinst du? Du hast deinen eigenen Finger ausgestreckt! Aber der Heilige fragte ihn: Wer erschuf diesen Finger? Wer formte ihn im Mutterleib? Es war Gott; und gehört er nicht Dem, Der ihn geschaffen hat?

Dies war eine einfache Art, jemandem klar zu machen, dass wir alle Gott gehören. Wir sind alle bewusste Wesen – nicht der Körper, das Gemüt oder die Sinne. Wir sind die Verwalter dieser Gaben, aber während wir von ihnen umgeben sind, wurden wir so sehr zu ihrem Abbild, dass wir unser Wahres Selbst vergessen haben. Gott, der Herr, ist Allbewusstheit – alle Wachheit – die Wahrheit. Er ist immerwährend, alle Weisheit, Ewige Wonne.

Versucht mit voller Aufmerksamkeit zu verstehen, dass die Seele wahrlich die Form der Bewusstheit ist. Kabir sagt: Dies (die Seele) ist ein Teil von Gott, geradeso wie die Strahlen, die von der Sonne kommen, ein Teil der Sonne sind. Die Strahlen sind der Ausdruck der Sonne in der Welt – aber sie sind nicht die Sonne selbst. So ist Gott Allbewusstheit, die immer bestehende Wesenheit, das erhaltende Sein; und unsere Seele ist ein Tropfen aus dem Meer der Allbewusstheit. Wenn die Seele aus der Umgebung des Gemüts und der Materie befreit wird, in der sie gefangen ist, sieht sie: Er ist in mir, ich bin in Ihm. Ich und der Vater sind eins. Wenn diese Wahre Wachheit kommt, schaut man Sein Abbild deutlich in jedermann. Jedes kleine Kind denkt, es sei klüger als andere, weil es das Bild Gottes (Der alle Weisheit ist) in sich trägt. Selbst der dümmste Mensch sagt: Niemand kann so viel wissen wie ich. Das ist dem Bild Gottes in seinem Innern zuzuschreiben. Ihr könnt bei allen Menschen dieses Vertrauen in ihr Wissen beobachten, auch wenn sie nicht selbstverwirklicht oder gottverwirklicht sind. Jeder ist eine Wesenheit - ein Funken allen Lichts, ein Teil des Ganzen, so wie ein Sonnenstrahl ein Teil der Sonne ist.

Wir sehen häufig, wie die leblosen physischen Körper zum Krematorium gebracht werden, und haben vielleicht gelegentlich das Feuer mit unseren eigenen Händen entzündet, aber es ist uns nie in den Sinn gekommen, dass auch wir eines Tages sterben werden. Dies kann auch dem Umstand zugeschrieben werden, dass wir als Abbilder der Wahrheit meinen, wir lebten ewig mit allem Glück. Gott ist alle Glückseligkeit. Wir wünschen uns auch immerwährendes Glück, und aus diesem Grunde suchen wir beständig danach. Wie lange währt unsere irdische Freude? Sie dauert so lange, wie unsere Aufmerksamkeit, die das Glück ist, sich auf seine Quelle richtet. Es mag etwas Gutes oder Schlechtes sein, aber indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, ziehen wir daraus eine gewisse Freude, weil wir unserem Wesen nach selbst alle Glückseligkeit sind.

Warum sind wir uns dieser uns eigenen Natur nicht voll bewusst? Weil wir vergessen haben, wer wir sind. Dieses gänzliche Vergessen begann mit der Geburt in die physische Form. Dieser Körper ist der Ursprung der Täuschung. Wir sind nicht der Körper – wir sind sein Bewohner. Der Körper ist anziehend, weil wir (die Seele) ihn beleben. Wir sind von den Sinnen umgeben, und mit der Hilfe des Intellekts versuchen wir, eine Lösung zu finden – wenn wir doch nur in uns selbst erwachen würden… Die ganze Welt schläft infolge des Verhaftetseins und des Vergessens; alles ist Täuschung. Da die Seele mit dem Körper identifiziert ist, verliert sie sich immer mehr in die Gebundenheit und schafft sich eine neue Welt – eine Welt der Täuschung, die davon herrührt, dass sie die Dinge in einer anderen Erscheinungsform sieht, als sie in Wirklichkeit sind. Wir denken, dass der Körper und alles, was ihn umgibt, ein Teil der Wahrheit ist – und dies ist ein Trugschluss. Können wir nicht beobachten, dass der Körper und alles, was ihn bedingt, niemals beständig ist?

Wie können wir dieser kerkergleichen Umgebung entkommen, wenn wir zum Abbild ihrer selbst wurden? Welche Übungen wir auch immer durchführen, um Gott und uns selbst zu erkennen, sie sind von geringem Wert, denn wir tun sie auf der Ebene des Gemüts oder des Intellekts oder der Sinne. Alle äußeren Praktiken – Wiederholung, Bußübungen, Entsagung, fromme Werke, Heilige Schriften lesen, Riten und Rituale, Wallfahrten, Almosengeben, Singen und das Spielen von Instrumenten – alles Äußerliche wird auf dieser Ebene ausgeführt. Wie kann einer, der zum Abbild des Körpers wurde und sich in äußerem Tun ergeht, erwarten, sich über den Körper zu erheben? Es gibt nur eine Lösung und das ist die, jemanden ausfindig zu machen, Der Selbst der Täuschung entronnen ist; es ist unmöglich, uns selbst zu befreien, aus Gründen, die ich bereits dargelegt habe.

Gibt es einen Heiligen, Der das Glück gewährt und mir diesen Pfad enthüllt?

Es ist ohne Bedeutung, welcher Kaste oder welchem Land Er angehört. Ravi Das war ein Schuster, Kabir Sahib ein Weber, Tulsi Sahib ein Gelehrter (Brahmane) und Jesus der Sohn eines Zimmermanns. Kasten und Gewerbe sind Menschenwerk – nur der Mensch selbst wurde von Gott geschaffen. Der Mensch ist seinem Wesen nach unsterblich; er hat einen Körper und einen Intellekt erhalten, er selbst jedoch ist das Abbild der Allbewusstheit, die man Seele nennt. So haben alle Meister gesagt: Erkenne dich selbst.

Wann werdet ihr die Tatsache, dass ihr und Er nicht getrennt und nicht verschieden voneinander seid, wirklich erfahren? Ihr werdet es dann, wenn ihr euch durch Selbstanalyse von der Materie löst. Ihr könnt das mit Hilfe von Gefühlen und Schlussfolgerungen versuchen, aber beide sind dem Irrtum unterworfen – Sehen steht über allem. Wann kann man sich selbst oder die Seele in ihrer natürlichen Reinheit sehen? Werden die Sinne kontrolliert und Gemüt wie Intellekt zur Ruhe gebracht, dann kann man die Seele in all ihrer Glorie schauen. Jemand, Der Sich Selbst kennt und weiß, dass Er das Sprachrohr Gottes ist – dass Gott durch Ihn wirkt –, ist frei von Täuschung. Große Kraft erwächst aus einem solchen Zustand.

Unsere Seele ist vom gleichen Wesen wie Gott. Wenn Gott, als Er sich zum Ausdruck brachte und sprach: Aus einem will ich viele werden, Millionen von Brahmands (Universen) schuf, warum können wir dann nicht, wenn wir uns selbst erkennen, eine kleine Stadt erschaffen? Wir vermögen es nicht, weil wir uns in tiefem Vergessen befinden. Wir geben Gemüt, Intellekt und Sinnen Kraft, und sie arbeiten alle durch uns; und doch sind wir ihre Diener. Es ist eine verkehrte Welt, denn wir sollten der Herr unserer Wesensnatur sein. Die Meister versuchen auf verschiedene Weise, die Wahre Sachlage darzustellen; dass der Körper einem Gefährt gleicht, in dem die Seele sitzt. Der Intellekt ist der Fahrer, die Sinne die Zügel, das Gemüt das Pferd, das uns von einem Ort zum anderen bringt. Blindlings in die Vergnügungen vertieft, sind die Sinne hilflos; das Gemüt, das den Anweisungen der Sinne folgt, hat unsere Besonnenheit überwältigt und läuft wild umher. Was für eine schlimme Lage!

Wenn wir nur einen Wahren Meister finden könnten, Der die Kontrolle über Seine Aufmerksamkeit besitzt und durch einen einzigen Blick die Aufmerksamkeit von beliebig vielen Seelen zurückziehen kann; indem Er sie über das Körperbewusstsein erhebt, zeigt Er uns über jeden Zweifel erhaben, dass der Körper nur Lehm ist und wir es sind, die dem Gemüt und den nach außen strebenden Kräften Stärke verleihen. Die Kontrollierende Kraft, die jedem Wesen innewohnt und durch die ganze Schöpfung hindurch vibriert, hat zwei Erscheinungsformen: Licht und Ton. Diese werden augenscheinlich und vernehmlich für uns, wenn die Aufmerksamkeit über das Körperbewusstsein zurückgezogen wird.

Jene, die die Wahrheit verwirklicht haben, sagen: Ich und der Vater sind Eins. In Bhanwar Gupha (der vierten Inneren Ebene) besteht kein Unterschied zwischen der Seele und dem Herrn. Aber ihr werdet niemals hören, dass solche Menschen sagen: Ich bin es, der handelt. Sie sehen, dass Er alles tut, und sie sprechen davon, wie sie von Ihm inspiriert sind. So wie die Worte vom Geliebten gegeben werden, bringt Er sie außen zur Kenntnis. Er sagt vielleicht das gleiche wie gewöhnliche Leute, aber da ist ein großer Unterschied, denn andere sind die Handelnden, und Er ist es nicht. Er macht alles, und doch tut Er nichts. Eine Luftblase im Wasser mag diesem eine andere Erscheinungsform geben, aber sobald die Luft herausgeht, bleibt nichts als Wasser. Das Feuer und seine Funken sind nicht zwei verschiedene Dinge, die Sonne und ihre Strahlen unterscheiden sich nicht. So sind wir nicht vom Herrn verschieden. Er ist in uns, wir sind in Ihm, aber solange wir denken, dass wir die Handelnden sind, werden wir weiter an das Rad von Ursache und Wirkung gebunden sein. Wenn wir erkennen, dass Er allein der Handelnde ist, wird unser Kommen und Gehen enden.

Die Worte des Meisters werden auf der Ebene ausgesprochen, die den Vergesslichen hilft zu verstehen. Er erklärt, dass wir bewusste Wesen sind, Seelen genannt, und dass zwischen Gott und uns kein Unterschied besteht – auch wir besitzen Seine Attribute, nur in einem geringeren Ausmaß. Die Sonne steht an einer bestimmten Stelle, aber ihr Erkennungszeichen ist überall; in gleicher Weise ist Gott Einer, und doch ist Er überall. Jene, die die Shastras (alte Hinduschriften) niederschrieben, gaben eine sehr einfache Erklärung: Man kann viele mit Wasser gefüllte Krüge zusammenstellen, und man wird in jedem den Widerschein der Sonne sehen. Wahre Befriedigung des Wissensdurstes jedoch kann man nicht durch Erklärungen erhalten, sondern sie stellt sich nur ein, wenn euch ein gottverwirklichter Mensch für eine Weile über das Körperbewusstsein erhebt und ihr selbst seht. Unsere Aufmerksamkeit verleiht unserem ganzen Sein Stärke, und ein einziger Blick seiner Aufmerksamkeit macht unser Gemüt und unseren Intellekt eine Zeitlang untätig. Der Hintergrund des einzelnen ist natürlich von Bedeutung, aber je mehr Zeit der Mensch in einer empfänglichen Haltung für das Zurückziehen von äußeren Dingen einsetzen kann, desto mehr Erfahrung wird er erhalten. Alle wirklichen Meister haben bestätigt, dass jemand, Der euch diese Erfahrung geben kann, ein Wahrer Mahatma, ein Heiliger oder ein Guru ist.

Wenn Gott in einem Menschen erwacht ist, wird Er ein Heiliger genannt.

Äußere Arten der Kleidung und des Verhaltens machen keinen Heiligen. Obgleich Gott überall ist, so ist ein Heiliger wahrlich einer, in dem Er Sich offenbart.

Mein Geliebter ist überall; es gibt keinen Ort, an dem Er nicht ist; aber ich rühme die Form, in der Er offenbart ist.

Ihr werdet bemerken, dass der Körper nur so lange anziehend ist, wie wir, die Seele, darin weilen.

Solange der Gefährte da ist, lebt der Körper. Wenn uns der Begleiter verlässt, wird er zu Asche.

Gewöhnlich sind die Augen, Ohren, Nasenlöcher usw. offen, aber wir können nicht aus dem Körper entfliehen – eine Kraft kontrolliert uns und hält uns dort fest.

Zwei von der gleichen Art leben in demselben Haus, aber sie begegnen sich nicht und sprechen nicht miteinander.

Es ist gleich zwei Brüdern in derselben Gesellschaft – nämlich die Seele und Gott –, aber leider verkehren sie nicht miteinander.

Im Wasser leben und doch durstig bleiben – ich sehe dies und lache darüber.

Hier wird die Situation mit der eines Fisches verglichen, der durstig ist, während er im Wasser lebt. Dies ist alles dem Vergessen zuzuschreiben, und weil sie dies wussten, haben alle Rishis, Munis, Mahatmas und erleuchteten Menschen gesagt, dass der Mensch sich selbst erkennen sollte.

Guru Nanak sagt:

Wenn du dich nicht selbst erkennst, wird dieses Vergessen nicht abgelegt.

Dies ist eine einfache Feststellung.

Wann wird der Mensch erkennen, dass er etwas anderes ist als der Körper? Wenn er sich durch die Gnade eines Vollendeten Meisters für eine Weile über das Körperbewusstsein erhebt.

Durch die Segnung des Meisters wird dein Wahres Selbst enthüllt.

Eine verwirklichte Seele kann eine Weile einen Beweis davon geben – das ist das Hauptmerkmal, durch das man einen Wahren Guru findet. Die Wahre Bedeutung des Wortes ‚Guru‘ ist ‚Zerstreuer der Dunkelheit‘. Welche Art von Guru ersehnt euer Herz?

Kabir Sahib stellte Sich Selbst diese Frage und beantwortete sie, indem Er sagte:

Ich möchte jene Art Satguru, die den Schleier von meinen Augen entfernt und mir den Herrn zeigt.

Wenn man seine Augen schließt, sieht man für gewöhnlich nur Dunkelheit im Innern. Wer nun fähig ist, den Schleier der Dunkelheit zu entfernen und das Licht- und Tonprinzip – die beiden Aspekte des Sich zum Ausdruck bringenden Gottes – zu enthüllen, kann fürwahr als ein Guru erkannt werden.

Es gibt solche, die äußere Praktiken lehren, und man mag ihnen dankbar sein, aber auf diese Weise wird das Herz die Haltung des Handelns niemals aufgeben.

Und denkt daran:

Solange man glaubt, man sei der Handelnde, wird man weiter die Auswirkungen ernten.

Gute Taten werden gute Früchte bringen, und schlechte werden unerfreuliche Auswirkungen zeitigen. So hält das Kommen und Gehen an, denn beide sind gleichermaßen bindend für die Seele, ähnlich goldenen und eisernen Ketten. Das Rad der Geburten und Tode dreht sich immer weiter, bis man zum Bewussten Mitarbeiter am Göttlichen Plan wird und weiß, dass Gott selbst der Handelnde ist. Die Krankheit des Egos und des Besitzergreifens muss geheilt und zu Ende gebracht werden, bevor man frei von Ursache und Wirkung ist.

Es gibt ein Heilmittel.

Ego und Verhaftetsein werden beide durch Shabd verbrannt; ein Gurumukh empfängt das ewig währende Licht.

Diese Krankheit wird nur durch Shabd ausgemerzt, der Verbindung mit der sich zum Ausdruck bringenden Kraft Gottes. Und wer erlangt diese Verwirklichung? Er, Der zu einem Gurumukh wird. Wer ist ein Gurumukh? Einer, Dem der Guru nahe ist. Den absoluten Gott – den namenlosen, formlosen und tonlosen Gott – Ihn kann niemand sehen. Es ist etwas, in dem man ganz aufgehen muss. Aber als Gott Sich zum Ausdruck brachte, entstanden Licht und Ton. Wenn ein Mensch sieht, dass Gottes Licht in ihm wirkt, und dass durch dessen Kraft das ganze verwickelte Netzwerk der Schöpfung in Gang gehalten wird, vergeht die Ichheit; wie kann so das Kommen und Gehen weiterhin stattfinden? Wenn man überhaupt nichts mehr tut, bleibt man vom Handeln unberührt, und die Karmas werden enden. Das ist das letzte Ziel.

Lord Shiva sagte einmal:

O Herr, ich weiß, es gibt keinen Unterschied zwischen Dir und mir, nur, ich bin Dein, aber Du bist nicht mein.

Geradeso wie eine Welle vom Meer stammt – das Meer kann nicht Teil der Welle sein –, so hat man, wenn man einen Strahl des Lichts erlebt, den Herrn erfahren. Aber wisset, ein Strahl ist ein Strahl, und die Sonne ist die Sonne. Lord Rama fragte seinen großen Ergebenen Hanuman: Wer bist du? Er entgegnete: Maharaj, solange ich in diesem physischen Körper weile, bin ich dein Sklave; wenn ich mich über den Körper erhebe, sind Du und ich Eins. Solche Beispiele werden in den Heiligen Büchern aufgezeichnet, und ihnen liegt eine bestimmte Bedeutung zugrunde. Wir könnten alle die gleiche Antwort geben, aber sehen und sprechen ist etwas anderes als lesen und sprechen. Die Meister sehen zuerst, und dann sprechen sie über das, was sie gesehen haben, wohingegen wir auf der Ebene des Gemüts und Intellekts von dem reden, was wir nicht gesehen haben; das ist der Unterschied. Ein König mit seiner Armee, seinen Schätzen und seinem Gefolge erklärt sich selbst zum Herrscher, aber wie viel Gewicht tragen die Worte eines Menschen ohne Reich und Untertanen?

Die Vorstellung von Ich bin in allen, denn Gott ist überall ist ganz falsch, wenn wir nicht die tatsächliche Verwirklichung dessen erlangt haben und Eins geworden sind mit Gott. Es ist wahr, dass wir alle Götter im Kleinen sind – alle Gott im Menschen und Mensch in Gott –, aber wir haben die Tatsache vergessen, geradeso wie in einem Traum, wo wir ein anderer sind als wenn wir erwachen. Die Erfahrung der Wahrheit kann man nur im menschlichen Körper erlangen. Die ganze Welt hat die Wahre Lehre vergessen. Niemand kann hinübergehen ohne den Guru. Daraus folgt auch: Die Anordnungen des Geliebten aus dem Jenseits können nicht ohne den Satguru verstanden werden. Das ist ein grundlegendes Gesetz. Wie kann einer, der sich nicht selbst verwirklicht hat, anderen helfen? Über den Intellekt, auf der Ebene der Sinne, lassen sich viele Dinge entdecken; aber sich selbst zu erkennen ist eine völlig andere Sache.

Das erste, was man lernen muss, ist die Gemeinschaft Dessen zu pflegen, Der Sich Selbst verwirklicht hat. Es ist natürlich, dass alles, was wir lernen wollen – auch auf der physischen Ebene – uns durch jemanden gelehrt werden muss, der es selbst gemeistert hat. Selbst wenn wir mit einem guten Hintergrund beginnen, ist auch dann weitere Führung sehr nötig. Aber der Guru sollte ein Wahrer Guru sein, nicht lediglich ein sogenannter von der Art derer, die den Namen des ‚Gurutums‘ entwürdigt haben. Heutzutage braucht man nur einen Stein aufzuheben, und man wird einen Guru, Sadhu oder Sant darunter finden. Wie viele Menschen könnt ihr finden, die zu ihren Erklärungen stehen? Seid vorsichtig bei eurer Suche.

Es heißt auch:

Solange ich nicht mit eigenen Augen sehe, kann ich selbst den Worten meines Meisters nicht glauben.

Wie können wir vollen Glauben in die Worte des Meisters setzen, wenn uns nicht das Dritte Auge geöffnet wurde und wir die Innere Schau haben – vielleicht mit mehr oder weniger Erfahrung – und völlig davon überzeugt sind, dass etwas in uns ist? Geht und sucht nach einem, der zuverlässig und kompetent ist. Ihr werdet viele finden, die euch die eine oder andere Praxis vermitteln und euch raten, sie weiter auszuführen, und schließlich werde die Erleuchtung kommen. Solche Handlungen sind gut, aber euer Ich wird nicht ausgerottet werden, bis ihr mit Hilfe einer wirklichen Verbindung im Innern zu sehen beginnt.

Ein Wahrer Guru ist einer, Der dich mit Shabd verbindet; nichts ist Shabd gleich; Er ist nur von einem Vollendeten Meister zu haben, zu Dessen Füßen ihr die Verwirklichung erlangen werdet.

Jemand fragte einmal Kabir Sahib, welche Art der Ehrerbietung Er den Sadhus und Sants entgegenbringe, von denen es so viele in der Welt gäbe. Er entgegnete:

Alle Sadhus sind groß auf ihre Weise, aber ich lege mein Haupt Dem zu Füßen, Der Shabd kennt.

Er hört Shabd, ist Eins mit Ihm und kann andere damit verbinden. Und wann kommt man zu solch einem Guru? Durch gute Karmas begegnet man einem Satguru. Wenn Gott Seine Gnade ausschüttet, führt Er den begünstigten Empfänger zu der menschlichen Form, in der Er Sich offenbart.

Welche Art von Yoga lehrt der Satguru?

Er gewährt uns den begehrenswerten Dienst, indem Er unsere Aufmerksamkeit mit Shabd verbindet.

Er gibt keinerlei Übungen auf der Ebene des Gemüts, des Intellekts oder der Sinne, sondern verbindet die Aufmerksamkeit direkt mit Shabd, der sich zum Ausdruck bringenden Gotteskraft. Die Philosophie befasst sich mit der Theorie, aber bei der Mystik geht es um die Verbindung mit der Wirklichkeit, denn die Philosophie ist auf der Ebene des Intellekts tätig, während die Mystik auf der Ebene der Seele wirkt. Deshalb sagte Kabir, dass Er alle Sadhus achte, aber einer, Der Gott verwirklicht hat, sei der Anbetung würdig. Ein gottverwirklichter Mensch wird euch die Verwirklichung verleihen; ein König möchte niemals, dass sein Sohn die Dienste eines Ministers tut, und ein Wahrer Meister wünscht, dass Seine Kinder die Stufe der Meisterschaft erreichen.

Ihr mögt alle Bücher lesen, die von selbstverwirklichten Menschen geschrieben oder über Sie verfasst wurden, aber rechtes Verständnis für Sie wird sich erst dann einstellen, wenn sie von einem selbstverwirklichten Menschen erklärt werden. Jene, die sehen, haben einheitliches Verstehen. Ihr werdet finden, dass Intellektuelle einen unterschiedlichen Grad des Verstehens haben, denn auf der Ebene des Intellekts wird natürlich jeder auf seine eigene Weise schlussfolgern; so sagen einige dies und andere das. Alle Aussagen früherer Meister über das Thema der Wahrheit waren ein und dieselben. Natürlich bedienten Sie Sich der Sprache und Ausdrucksweise, die zu Ihrer Zeit gemäß waren, ansonsten waren die Tatsachen die gleichen. Obgleich in eben jenen Schriften geschrieben steht, dass man Gott nicht durch Bücher verwirklichen kann, verbringen doch viele Menschen ihr ganzes Leben damit, Ihn in ihnen zu suchen. Man sollte lesen und das Gelesene ganz verstehen.

Alle Meister haben darauf hingewiesen, dass Gott nicht in Tempeln lebt, die aus Steinen erbaut sind. Wir selbst haben diese Gebäude geschaffen – nach unserem eigenen Bild. Kirchtürme sind nasenförmig, die ‚Merabh‘ der Moscheen der Stirne nachgebildet, und der Dom der Hindutempel hat die Gestalt des Hauptes. In diesen heiligen Stätten werden zwei Symbole aufbewahrt; das Licht brennt, und man hört die Glocke oder einen anderen Ton.

Aber:

Er, Der dieses Haus (den menschlichen Körper) schuf, übergab den Schlüssel dem Guru.

Als dieses Haus im Mutterleib erschaffen wurde, gab es da keine Maschine, um es zu bilden; es wurde durch die Hand Gottes geformt, und Er nahm darin Wohnung. So scheint in diesem Tempel Gottes (dem menschlichen Körper) das Licht der Wahrheit. Obgleich wir die äußeren Tempel achten, wo die Leute sich versammeln sollten, um dem Herrn Lob zu singen, sollten wir doch das Licht in unserem Innern entzünden.

Viele Heilige der Moslems haben frei gesagt, dass die Moschee für jene, deren Auge nicht geöffnet ist, etwas aus Steinen und Mörtel Erbautes ist. Für verwirklichte Seelen, die die volle Kontrolle über ihre Kräfte besitzen, ist diese physische Form die Wahre Moschee. Sie haben auch gesagt, dass niemand glauben sollte, die Kaaba sei besser als ein Tempel. In der Kaaba wird Hazrat Ibrahims ‚Hazar-ul-Asvad‘ als Denkmal, das man in Ehrfurcht küsst, aufbewahrt – aber Bilder und Denkmäler solcher Art bewahrt man an heiligen Stätten auf zur Erinnerung an Gott. Die Heiligen sagen euch, dass dort, wo Gott Sich offenbart hat, der beste Ort für Seine Anbetung sei.