Die gegenseitige Hilfe bei der Suche nach Gott

von Tracy Leddy

Die Nächstenliebe beginnt zu Hause.

Einst lebten zwei Gefährten, ein Mann und eine Frau, und sie liebten einander aufrichtig. Zu einem Zeitpunkt ihres gemeinsamen langen Lebens erhielt die Frau eine Aufforderung, einen gebieterischen Ruf, eine weite, weite Reise zu einem sehr entlegenen Ort anzutreten. Der Eine, Der sie gerufen hatte, wartete dort auf sie. Er sandte seine beiden Diener, Licht und Musik, um sie auf ihrem Wege zu leiten. Die Frau begann die Reise, sie hatte keine andere Wahl. Sie liebte die Musik und das Licht, und sie wusste, dass sie den Einen, Der sie gerufen hatte, mehr als die ganze Welt lieben würde. Der Mann jedoch hatte keinen Ruf erhalten. Er wusste auch nichts von dem Einen, Der rief, und von Seinen beiden Dienern Licht und Musik. Da er aber seine Frau aufrichtig liebte, beschloss er, sie auf ihrem Wege zu begleiten.

Sogleich aber erhoben sich Schwierigkeiten zwischen ihnen. Die Frau wurde so berauscht von der Aussicht auf die Reise und durch die beiden Führer und war so versunken in ihre Träume in Bezug auf das, was sie an diesem wunderbaren, entlegenen Ort erwarten würde, dass sie ihren Begleiter sehr vernachlässigte und ihn schließlich – so war ihr Gemütszustand – als ein echtes Hindernis auf dem Wege betrachtete. Der Mann wiederum wurde sehr ärgerlich. Es schien, als verlöre er seinen geliebten Gefährten an etwas, das er nicht kannte. Er fing an, verletzende Worte zu ihr zu sagen und versuchte, sie davon abzuhalten, die Reise zu machen. Aber wenn sie sich umschaute, bekam sie einen Schrecken; ihre Augen nahmen dort nichts Wahr, hinter ihr waren nur leerer Raum und Nebelschleier. Für sie öffnete sich der Weg nur nach vorne, es gab keinen Rückweg. Sie stritten ernstlich miteinander. Der Mann drohte, sie zu verlassen. Die Frau gab vor, dass sie sich nicht darum kümmere, aber das Herz war ihr sehr schwer. Sie beschloss, den Weg weiterzugehen, auch wenn sie allein sein würde.1

Da erschien ihr in einer Schau der Eine, Der von dem weit entlegenen Platz nach ihr gesandt hatte. Sein schönes Gesicht war sehr ernst, und aus Seinem Verhalten erkannte sie, dass Er ganz und gar nicht zufrieden war. Was tust du da – allein zu reisen?, fragte Er die Frau. Hast du keinen Gefährten?

Ich hatte einen, flüsterte sie von Ehrfurcht ergriffen durch Seinen Anblick und ganz erschrocken, dass sie ihm so missfallen hatte, aber er ging weg.

Dann geh zu ihm zurück, die Nöte deines Gefährten haben Vorrang. Mache ihn glücklich, und dann kannst du den Weg fortsetzen. Alles, was du zu tun hast ist, ihn zu lieben. Und denke daran, je größer eure Liebe zueinander wird, umso größer wird deine Liebe für mich werden.

Und dann war Er verschwunden.

Voll von Gewissensbissen wegen all ihrer Starrköpfigkeit und auch erfüllt von dem Wunsche, dem Einen zu gehorchen, Der sie um jeden Preis hatte rufen lassen, eilte die Frau zu ihrem Mann, der gedankenverloren an einem Flussufer saß. Ich habe es in letzter Zeit nicht zustande gebracht, dass du froh aussiehst, sagte sie sanft. Es tut mir so leid, dass ich dich verletzt habe. Ich hatte solche Scheuklappen an, ich denke, sie sind nun fort. Sie kniete sich zu seinen Füßen nieder und schaute empor in sein Gesicht: Ich liebe dich noch wirklich. Der Mann schaute auf sie herab, sein Auge verdunkelte sich vor Schmerz. Ich glaube dir nicht, sagte er. Du musst es mir beweisen. Allein die Zeit wird die Wahrheit oder die Unwahrheit deiner Worte zeigen.

Und sie begannen ihr gemeinsames Leben noch einmal. Die Frau wusste, dass sie sich irgendwie noch auf der Reise befand, obwohl sie nirgends hinging, und der Mann bekam allmählich Vertrauen und war zufrieden. Wenn die Frau gelegentlich in ihre alten Träumereien fiel, holte der Mann sie daraus zurück und sagte, manchmal ärgerlich, manchmal sorgenvoll: Wir müssen zueinander völlig offen sein; ich brauche dich hier bei mir, nicht bei einer Träumerei. Oft weinte sie in einer seltsamen Mischung aus Leid und Danksagung; es schien ihr, sie sei weit von ihrem Weg abgekommen, den Einen zu sehen, Den sie mehr als die ganze Welt lieben gelernt hatte, und doch bemerkte sie, dass ihr Gefährte ihr auf der Reise half, indem er sie zwang, seinen Wünschen zu folgen. Und sie wollte ja gehorchen; auch wenn ihr törichtes Gemüt protestierte, ihr Herz wollte gehorchen. Die Frau bemerkte, dass sie mit nichts Erfolg hatte. Wenn sie gänzlich strauchelte, so war es der Mann, der sie zurechtwies, Änderungen verlangte, sie wiederum auf die rechte Bahn wies.

Dieser Vorgang währte eine gewisse Zeit lang. Als sich aber die Aufmerksamkeit der Frau mehr und mehr auf ihren Begleiter konzentrierte und immer weniger auf sich selbst, da wurde sie gewahr, dass ihr Begleiter kein anderer als der Eine war, Der nach ihr gesandt hatte, in einer anderen Gestalt, und sie war von einem Gefühl der Dankbarkeit für solch ein großes Geschenk überwältigt. Ohne ihren Gefährten hätte sie die Reise überhaupt nicht antreten können. Und hätte sie es getan, so wäre sie ohne ihn viele irreführende Umwege gegangen. Immer wieder war es seine Kritik, seine Achtsamkeit, die sie auf dem rechten Wege hielten. All sein Antreiben und Drängen sollte sie nur für den Wahren Anfang öffnen – das Durchschreiten des ersten Tores2 –, um den Einen zu finden, der dort mit ausgebreiteten Armen stand. Sein Gesicht strahlte vor Liebe und Freude:

Ich habe sie hierher gebracht,

sagte der Mann.

Du hast es recht gemacht, mein Sohn,

erwiderte der Eine.

Nun ergreift jeder eine Hand von mir, und lasst uns den Rest der Reise gemeinsam zurücklegen.

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Fußnote: 1) Im Folgenden findet sich ein Textauszug aus der Wiedergabe eines Gespräches mit Kirpal Singh, in welchem Er deutlich macht, dass Er Scheidung unter keinen Umständen akzeptiert. Dies gilt nicht nur für den folgenden Fall, sondern generell, ohne Ausnahme.

Ich [Russell Perkins; Anm. d. Redaktion, 2013] hatte den Vorzug, bei einer Reihe von Gelegenheiten beim Meister zu sein, als dieses Thema zur Sprache kam. Während meines Aufenthalts bei Ihm im Jahre 1969 erhielt ich einen Brief von meiner Frau Judith, in dem sie mich bat, mich für eine Initiierte zu verwenden, deren Mann unter anderem heftig gegen den Pfad und den Meister war und ihr befohlen hatte, den Satsang nicht zu besuchen.

Ich brachte Ihm die Sache vor, und Seine Antwort erstaunte mich:

Ich möchte keine Scheidung.

Es erstaunte mich, weil die Frage einer Scheidung gar nicht aufgekommen war. Ich stammelte etwas, und Er wiederholte:

Ich möchte keine Scheidung.

Wir waren allein, und die Heftigkeit Seiner Antwort und ihre Wiederholung machten mich unsicher. Ich sagte – obwohl ich das voll anerkannte und dachte, Seine Lehre über dieses Thema zu verstehen:

Aber Meister, er lässt sie nicht zum Satsang gehen und …

Er unterbrach mich:

Sie sollte nachgeben, verstehst du. Wenn sie ihn liebt, wird er einlenken.

Als ich 1963 nach Deutschland ging, war da ein Initiierter, dessen Frau den Meister hasste. Sie gestattete sein Bild nicht im Haus. Als ich sie besuchte, war sie krank. Ich ging nur hin, um sie zu sehen. Heute ist sie initiiert.

Und Er lachte.

Quelle: Sat Sandesh / Mai–Juni 1976,
deutschsprachige Ausgabe

Wendet sich ein Mensch in dieser Angelegenheit um Rat an einen weltlichen Menschen, so wird ihm dieser nur einen weltlichen Ratschlag geben können, und ein solcher Ratschlag kann durchaus die Scheidung befürworten. Jedoch entspricht dies keineswegs dem Willen Kirpals.

2) Hinter und zwischen den Augenbrauen, dem dritten Auge, von dem Christus sagte:

Wenn deine beiden Augen einfältig sind, wird dein ganzer Leib Licht sein.

Matthäus 6:22

Anm. der Redaktion, 2013: 1) „Ordnet euch einander unter in der Furcht Christi. Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist, die er als seinen Leib erlöst hat. Aber wie nun die Gemeinde sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen ihren Männern unterordnen in allen Dingen. Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben, um sie zu heiligen. Er hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort*, damit er sie vor sich stelle als eine Gemeinde, die herrlich sei und keinen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern die heilig und untadelig sei. […] Dies Geheimnis ist groß; ich deute es aber auf Christus und die Gemeinde. Darum auch ihr: ein jeder habe lieb seine Frau wie sich selbst; die Frau aber ehre den Mann.“ (Epheser 5:21-33)

* Eine Seele, die ein Bad im Inneren Amritsar nimmt, wird gereinigt. Es ist der einzig Wahre Ort der Heiligen Pilgerfahrt, denn durch das reinigende Bad wird die Seele frei von ihren Karmas und sie wird amar – unsterblich – und muss sich nicht mehr verkörpern. (Für weitere Informationen siehe ‚Die Reise der Seele – Teil II: Der Weg durch die Überkausalen Reiche‘.)