Bring dein Haus in Ordnung

Eine Geschichte von Tracy Leddy

Ein Stück wegs den Berg empor lag der Pilger ausgestreckt im Geröll. Zitternd, erbärmlich, unfähig weiterzugehen, war er zu erschöpft, auch nur sein Gesicht im Staub zu bewegen. Er lag da und versuchte aus Leibeskräften, die Schatten vor seinen Augen zu verjagen, die seinen Sturz verursacht hatten. Doch die Schatten schwanden nicht. Sie hafteten an seinen Augen, in dem Raum hinter seinen Augen; sie hielten ihn fest. Endlich stöhnte der Pilger auf und weinte laut:

O Herr, was soll aus mir werden? Ich bin bedrängt – ich kann mich nicht bewegen!

Plötzlich war eine große Ruhe um ihn und eine große Wärme. Etwas berührte seine ausgestreckte Hand. Der Pilger raffte sich langsam auf und sah nach oben, indem er angestrengt durch den ununterbrochenen Strom von Schatten um seinen Kopf blinzelte. Sein Herr stand vor ihm, ein Mensch wie jeder andere bis auf die große Stille, bis auf die große Wärme, die Ihn umgab. Auf Seinem Gesicht lag ein Ausdruck solch tiefen Verstehens und solcher Barmherzigkeit, dass der Pilger aufs Neue weinte, als er es sah.

Ich habe so sehr gewünscht, zu Euch zu kommen,

schluchzte er.

Ich bin so tapfer aufgebrochen, mit solchem Streben…

Was ist mit deinem Haus?

fragte der Herr.

Oh, dieser Ort! Ich habe es vor langer Zeit verlassen.

Den Pilger schauderte bei der Erinnerung daran.

Es war zu dunkel und trübe und kalt.

Der Ausdruck von Barmherzigkeit auf des Herrn Gesicht vertiefte sich.

Lieber Freund,

murmelte Er,

offenbar hat es dich nicht verlassen. Die Dinge dort ruhen nicht, oder du wärest jetzt nicht von Schatten bedrängt. Du musst dein Haus in Ordnung bringen, bevor du zu mir kommen kannst.

– O nein!

klagte der Pilger.

Ich will nicht den ganzen Weg zurück nach dort unten gehen! Es ist jetzt so weit hinter mir – und – es gibt dort Räume, die ich nie betreten habe … Bitte helft mir, fortzuschreiten auf meinem Weg den Berg hinauf; schickt mich nicht zurück nach dort unten!

Geliebter Freund, es gibt keinen anderen Weg,

erwiderte der Herr.

Dein Haus muss in Ordnung sein, vollkommen in Ordnung, bevor du zu mir kommen kannst. Sieh, was für ein armseliges Ich du zu mir bringst – ein schwaches und furchtsames Geschöpf, das über Schatten stolpert! Heißt es nicht, du sollst lieben deinen Herrn mit deinem ganzen Herzen, deiner ganzen Seele, deinem ganzen Gemüt und mit all deiner Kraft! Komm zu mir in Fülle – nicht in Furcht! Geh und öffne all diese Türen, eine nach der anderen; erfülle den Ort mit Licht; kehre jede Ecke aus, bis es nirgendwo Dunkelheit gibt. Wenn das Werk getan ist, will ich selbst kommen und dich holen.

Der Pilger weinte, lehnte sich auf, bat und rang die Hände, ohne Erfolg. Die Worte seines Herrn waren hart, die allerletzten Worte, die er hatte hören wollen. Doch anstatt sich erweichen zu lassen, wurde die Gestalt vor ihm streng und gebot ihm:

Ich sage dir, bringe dein Haus in Ordnung oder begib dich nicht auf die Reise zu mir.

Und mit dieser letzten Erklärung war er gegangen.

Zähneklappernd und an allen Gliedern zitternd, doch brennendes Feuer im Herzen, bahnte sich der Pilger langsam seinen Weg den Berg hinab. Die Luft um ihn wurde immer undurchdringlicher vor Schatten, bis er merkte, dass er ununterbrochen mit den Armen ruderte, um überhaupt noch etwas sehen zu können, während er seine Schritte heimwärts wandte.

Müde zog er den Schlüssel aus seinem Versteck in einem alten Blumentopf, schloss die Vordertür auf, trat ein und setzte sich. Erneut rollten Tränen, als er sich zwischen dem Staub, den Spinnweben und dem kalten Herd umsah. Doch

Siehe! Ich bin mit dir alle Tage!

sang es zu ihm plötzlich aus dem Feuer in seinem Herzen, und der Pilger wusste, wenn er es im Moment auch hasste, hier zu sein, dass er an den rechten Ort gekommen war und dass irgendwie alles in Ordnung kommen würde…

Es bedurfte Monate für den Pilger, auch nur die oberflächlichste Putzarbeit zu erledigen. Er hatte immer gemeint, einen gepflegten Haushalt zu führen, doch genauere Untersuchung deckte viele Missstände auf, die er früher nie bemerkt hatte.

Und es dauerte nahezu ein Jahr, bis der Pilger genug Mut bekommen hatte, um vor der ersten der vier ungeöffneten Türen zu stehen, nun in dem Wissen, dass er stark genug war, sie zu öffnen, den Raum zu betreten und allem, was ihn auch dort erwartete, ins Gesicht zu sehen und es zu bezwingen, nein, sich sogar damit anzufreunden.

Schatten scharten sich um ihn zusammen, vor seinen Augen, im Raum hinter seinen Augen, und plötzlich war er von Furcht überwältigt, er zitterte und bebte, und aus der Tiefe seines Herzens kam der Schrei:

Ich fürchte mich! O, ich fürchte mich so sehr!

Und mit der Kraft dieses Schreis öffnete er die Tür und stürmte hinein. Augenblicklich verschwanden all die Schatten, und zu seiner Verwunderung sah er eine schemenhafte Gestalt, die ihm selbst sehr ähnlich war, in der Mitte eines trostlosen leeren Raumes kauern, zittern und schluchzen. Des Pilgers Herz flog dem armen Geschöpf entgegen.

Komm,

sagte er,

heute Abend sollst du bei mir zu Gast sein.

Und er nahm es bei der Hand und führt es zurück durch den Korridor in das Hauptgemach des Hauses, wo vor einem brennenden Feuer eine große Tafel gedeckt war.

Und dann ging er zurück in den ersten Raum öffnete alle Fenster, entzündete alle Lampen und wusch und putzte und kehrte, bis da nicht mehr der Schatten eines Schattens der Furcht war, die darin so lange gelebt hatte.

Der Pilger lebte mit der Furcht einige Zeit zusammen, und sie wurden enge Freunde, bis es nichts mehr gab, was der Pilger über die Furcht nicht wusste. Doch merkwürdigerweise wurde die Schattengestalt, je länger ihre Freundschaft dauerte, immer undeutlicher, bis eines Tages, in dem strahlenden Sonnenlicht, das durch das große Oberlicht in der mittleren Kammer kam, die Furcht überhaupt nicht mehr da war. Und der Pilger schob den Unterkiefer vor und wandte seine Aufmerksamkeit und seine Schritte zur nächsten Tür.

Er stand vor ihr im Wissen, dass er nun stark genug war, sie zu öffnen, den Raum zu betreten und allem, was ihn auch dort erwarten möchte, ins Gesicht zu sehen und es zu bezwingen, ja, sich sogar damit anzufreunden. Doch wieder zogen sich Schatten um ihn zusammen, vor seinen Augen, im Raum hinter seinen Augen, und plötzlich war er von Schmerzen erfüllt; jeder Muskel, jeder Nerv, jedes Organ in seinem Körper schrie:

Ich bin verletzt! O, ich bin verletzt!

Und mit der Kraft dieses Schreis öffnete er die Tür und stürzte hinein. Im Handumdrehen verschwanden alle Schatten. Zu seinem Erstaunen fand er eine schemenhafte Gestalt, ihm außerordentlich ähnlich, die sich auf dem nackten Boden zusammenkrümmte und wand. Sie hielt sich den Magen, als ob sie einen Speer oder einen Pfeil darin hatte, den sie verzweifelt herauszuziehen suchte.

O du armes Ding,

brachte der Pilger hervor,

komm mit hier heraus und lass mich versuchen, dir zu helfen.

Er legte seine Arme freundlich um das Geschöpf und führte es in das Licht und die Wärme der großen mittleren Kammer, in der er den größten Teil seiner Zeit verbrachte.

Dann ging der Pilger zurück in den zweiten Raum, öffnete alle Fenster, entzündete alle Lampen und fegte und wischte und polierte, bis da nicht mehr der Schatten eines Schattens des Schmerzes war, der darin so lange gelebt hatte.

Der Schmerz und der Pilger verbrachten viel Zeit zusammen. Auch sie wurden enge Freunde, bis es in dieser Welt keine Sorge und keine Pein mehr gab, die der Pilger nicht kannte. Doch merkwürdigerweise wurde die Schattengestalt, je länger ihre Freundschaft dauerte, immer undeutlicher, bis eines Tages das Abendlicht durch das funkelnde Fenster auf der Westseite kam und der Schmerz nicht mehr da war. Und der Pilger nahm einen tiefen Atemzug und ging seinen Weg weiter zur dritten Tür.

Dieses Mal überfielen ihn die Schatten im Korridor und wüteten um seinen Kopf, bis er fast den Mut verlor, meinte verrückt zu werden, und sich zur Flucht in die warme Vertrautheit des mittleren Kammer wandte. Doch

Halt!

sang die Stimme in den Tiefen seines brennenden Herzens,

hast du vergessen, dass ich immer bei dir bin? Wer, denkst du denn, Geliebter, tut wirklich diese ganze Arbeit?

Beschämt, doch auch ermutigt wandte der Pilger fest entschlossen seine Schritte wieder zur dritten Tür. Die Hitze war überwältigend, und sie war überhaupt nicht wie die Wärme des Herrn. Es war ein rot-heißer Feuerstoß, eine leidenschaftliche Wut, die ihn einhüllte, als er dort stand. Aus seinen Fingerspitzen, seinen Zehen, seinen Gedärmen, aus seinem ganzen Sein fühlte er die Gewalt empor kriechen, und indem er seine Kehle in wildem Zorngebrüll öffnete, stieß er die Tür auf und schritt hinein. Die Hitze hörte ganz plötzlich auf. Die schemenhafte, löwenartige Gestalt, die ganz wie er aussah und wutschnaubend in dem trübe erhellten Raum auf- und abstampfte, überraschte

den Pilger nicht.

Komm mit,

sagte er tapfer und nahm das Geschöpf fest beim Arm.

Du und ich werden über vieles sprechen müssen!

Nun, es nahm mehr Zeit in Anspruch als bei Furcht und Schmerz, doch zu gegebener Zeit schloss der Pilger auch mit dem Zorn Freundschaft. Und zuletzt verschwand die Schattengestalt, die des Pilgers Zorn war, auf die gleiche Weise wie Furcht und Schmerz.

So war nur noch eine ungeöffnete Tür zurückgeblieben, doch es dauerte viele Jahre, bis sich der Pilger dazu bringen konnte, ihr gegenüberzutreten. Eines Tages dachte er an seinen Herrn und erinnerte sich daran, dass Er gesagt hatte, das Haus müsse vollkommen in Ordnung sein, bevor sich irgend etwas wirklich Gutes ereignen könne; und weil das Feuer in seinem Herzen an diesem Tag ganz besonders hell brannte, stellte er fest, dass sich seine Schultern strafften für diesen letzten, schwersten Kampf.

Die Schatten waren diesmal mehr als Schatten, die an seinen Augen hafteten, an dem Raum hinter seinen Augen; es waren Formen, sich bewegende, sündige, ineinander verschlungene Formen, wie Tempelreliefs, wie alte Fresken und Malereien, wie Wörter aus Büchern, die auf einmal Körper hatten; und er fühlte seine Haut prickeln und heiß werden, und sein übriger Körper pulsierte vor reizvollen, erregenden Empfindungen.

Oh,

stöhnte er,

ich will es, ich brauche es, ich liebe es!

und er warf sich in den Raum. Eine Schattenfigur, halb männlich, halb weiblich, öffnete ihm ihre Arme von einem enormen Bett aus.

Ja,

sagte er und starrte die Gestalt mit unendlichem Mitleid an,

ganz zuletzt werden auch wir beide Freunde werden.

Und er zog das sinnliche Geschöpf fort von den Schatten und in das Licht der großen mittleren Kammer.

Niemand weiß, wie lange des Pilgers Freundschaft mit der physischen Begierde dauerte; doch es ist gewiss, dass er alles lernte, was er lernen musste. Und als das Schattengeschöpf, welches des Pilgers eigene Sinnlichkeit war, sich zuletzt in der klaren Luft auflöste wie die anderen vor ihm und es im Haus nirgendwo mehr Dunkelheit gab, war der Pilger ruhig und dachte, seine Aufgabe sei erfüllt.

Es war nicht so. Eines Nachts lag der Pilger vor dem Herd, und in einem Traum sah er eine kleine Tür sich öffnen und eine lange knochige Hand umhertasten, um nach seiner Hand zu greifen. In diesem Traum hatte der Pilger versucht, die Tür zu schließen, doch es war kein Schloss daran gewesen, und die knochige Hand hatte wieder nach ihm gegriffen.

Der Pilger erwachte in kalten Schweiß gebadet und mit pochendem Herzen.

Das war der Tod,

sagte er zu sich selbst.

Was bin ich doch für ein Dummkopf, ich habe mir den Tod noch nicht zum Freund gemacht!

Und ohne auch nur einen Moment zu zögern, kletterte er hinauf in eine alte vergessene Mansarde an einem Ende des Hauses und öffnete die fünfte, allerletzte Tür …

Doch anstatt knochiger Finger und der Dumpfheit des Grabes war da eine vertraute Ruhe und ein singendes Licht.

Ich bin es, Geliebter,

sagte der Herr,

Ich versprach, zu dir zu kommen, wenn dein Haus vollkommen in Ordnung ist, und das habe ich getan.

Mit strahlendem Gesicht voll des Verstehens, sein Herz erfüllt von Liebe und Vertrauen, ging der Pilger zurück den Berg hinauf in der Gemeinschaft seines Herrn.